Wechselhafte Jahre für Brasiliens LGBTQIA+-Bewegung
„Nach den schlimmen Jahren unter Bolsonaro geht es jetzt wieder aufwärts“, sagt der joviale Schwarze Mann mit Glatze und großem Ohrring in seinem Büro im Stadtzentrum im Interview mit Arbeit&Wirtschaft. Der Schwulenhasser Jair Bolsonaro habe der LGBTQIA+-Bewegung zwischen 2019 und 2022 viele Freiräume geraubt, die sie sich zuvor mühsam erkämpft hatte. Zum Beispiel einen Nationalen Rat, in dem sich Vertreter:innen der Regierung und von 15 Gruppen der brasilianischen LGBTQIA+-Bewegung regelmäßig austauschten. „Als Reaktion darauf haben wir einen Volks-Rat mit 24 Organisationen ins Leben gerufen und weitere Seminare und Treffen organisiert“, erzählt der Funktionär, der aus dem Norden der Megametropole stammt.
Der ultrarechte Staatschef und seine Leute hätten den Hass auf alle Andersdenkenden in den sogenannten sozialen Netzwerken angefeuert, staatliche Gelder gestrichen, „unsere Rechte attackiert“, sagt Siqueira. Als Folge schnellte die homophobe Gewalt in die Höhe. Im Jahr 2022 wurden laut einer zivilen Beobachtungsstelle in Brasilien mindestens 273 Personen aus Brasiliens LGBTQIA+-Szene ermordet. Im Jahr 2023 waren es immer noch 230. Alle Versuche jedoch, die gesetzlich verankerten Rechte wie die Homoehe oder zivile Partnerschaften abzuschaffen, seien gescheitert, in letzter Instanz am Bundesgerichtshof. „Allerdings stoppten sie sämtliche progressiven Gesetzesinitiativen, die noch unter Dilma auf den Weg gebracht worden waren“, sagt Siqueira. Dilma Rousseff folgte auf Lulas erste Präsidentschaft, die von 2003 bis 2010 dauerte, und wurde 2016 durch einen kalten Putsch des Parlaments gestürzt.
Lula kann nicht, wie er möchte
Diese harten Zeiten, in die auch noch die verheerende COVID-Pandemie fiel, sind vorbei. Seit 1. Jänner 2023 sitzt der charismatische Lula, der nach 580 Tagen im Gefängnis von Korruptionsvorwürfen freigesprochen wurde, wieder im Präsidentenpalast von Brasília. Es ist seine dritte und schwerste Amtszeit. Lange vorbei sind die fetten Jahre, in denen dank boomender Rohstoffpreise viel zu verteilen war und Millionen Brasilianer:innen in die untere Mittelschicht aufstiegen. Ende des Jahres 2010, bevor er an Rousseff übergab, hatte Lula 86 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite. Zwei Jahre später, mit einem massiven Einbruch der wichtigsten Rohstoffpreise, begann der wirtschaftliche und wenig später der politische Niedergang der südamerikanischen Regionalmacht.
Heute steht der Regierung Lula das reaktionärste Parlament seit Jahrzehnten gegenüber, in dem oft homophobe Bolsonaro-Fans den Ton angeben. Eine Säule des quicklebendigen Bolsonarismus sind reaktionäre Pfingstkirchler, die viele Armenviertel des Landes dominieren. „Die Verhandlungen im Abgeordnetenhaus und im Senat sind immer sehr kompliziert“, weiß Walmir Siqueira. Noch mehr gelte das für die mehrheitlich rechts regierten Bundesstaaten. Auf der institutionellen Ebene hat der sozialdemokratische Staatschef die sozialen Bewegungen gestärkt. Er hat ein Ministerium für Rassengleichheit und ein weiteres für indigene Völker geschaffen sowie das Menschenrechtsministerium gestärkt – dort gibt es jetzt sogar ein LGBTQIA+-Sekretariat. Auch der Nationale LGBTQIA+-Rat wurde wieder belebt.
LGBTQIA+-Thema ist selbst Lula zu heiß
Konkrete Verbesserungen für Lulas aktive Stammwähler:innenschaft sind allerdings schwieriger zu haben, schildert Siqueira. „Brasília ist eine Schlangengrube, da muss man ganz vorsichtig agieren, mit verbündeten Rechts- und Staatsanwält:innen. Und bis heute hat uns Lula aus Rücksicht auf konservative Wähler:innen nicht empfangen. Klar, wenn man ihm irgendwo eine Regenbogenfahne hinhält, dann nimmt er sie, aber eigentlich ist ihm das Thema zu heiß.“ Auch die medienbewusste First Lady Janja da Silva habe mit der sexuellen Diversität wenig am Hut.
Der CUT-Sekretär hat durchaus Verständnis für das politische Fingerspitzengefühl linker Politiker:innen. Wenig hilfreich seien da öffentliche Auftritte von Aktivist:innen ohne Hüllen oder mit Vibrator, wie es schon mal vorkommt. Oder, wie neulich, als auf einer Wahlkampfveranstaltung des Bundesabgeordneten Guilherme Boulos in São Paulo eine Sängerin die Nationalhymne zur allgemeinen Überraschung in inklusiver Sprache sang. Ein rechtsextremer Cyber-Shitstorm war die Folge. Boulos von der Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL) hat gute Chancen, im Oktober Bürgermeister der Weltstadt zu werden. Angesichts der Aktion sah er sich gezwungen, der Produktionsfirma zu kündigen.
Immerhin, bei den Gewerkschaften geht es ziemlich flott voran. Noch vor der Wahl Lulas arbeitete der LGBTQIA+-Volks-Rat unter maßgeblicher Beteiligung der CUT ein Programm aus, in dem ein ganzes Bündel von Maßnahmen für den Schutz und die Schaffung neuer Rechte am Arbeitsplatz enthalten ist. Im Jahr 2023 schließlich beschloss die CUT-Jahresversammlung, das neue Nationale Sekretariat einzurichten. In bereits 19 von 26 Bundesstaaten gibt es ähnliche Strukturen.
LGBTQIA+ in Brasilien: Vorurteile überwinden
Auch die Landlosenbewegung MST, die wohl wichtigste soziale Bewegung Lateinamerikas und straff nach leninistischen Prinzipien organisiert, ist nicht frei von Machismo und Homophobie. Umso revolutionärer mutet es an, was die Gruppe der LGBTQIA+-Aktivist:innen in den vergangenen 15 Jahren erreicht haben. Sie ist mittlerweile fest etabliert und sehr sichtbar. Als Höhepunkt der Seminare im MST-Schulungszentrum in Guararema bei São Paulo ist ein Drag-Queen-Auftritt schon fast zur Institution geworden.
Eine Berühmtheit ist mittlerweile die MST-Drag-Queen Ruth Venceremos, mit bürgerlichem Namen Erivan Hilário dos Santos. Wie Lula stammt der:die 40-Jährige aus dem armen Hinterland des Bundesstaats Pernambuco in Nordostbrasilien. Heute wirbelt Venceremos mächtig auf Instagram und TikTok herum. In Brasília ist er:sie PT-Nachrücker:in für das Bundesparlament. „Wir müssen die Vorurteile im Zusammenleben mit den Menschen überwinden“, ist die Drag-Queen überzeugt. „Leute mit latenten Vorurteilen bei der sexuellen Orientierung oder der Gender-Identität mögen sich zwar sehr humanistisch, frei oder progressiv vorkommen – damit sich etwas ändert, muss ihr Umgang mit Brasiliens LGBTQIA+-Personen aber etwas ganz Selbstverständliches werden“, sagt Ruth Venceremos, „wir brauchen mehr als Rhetorik.“
Auch müsse man die verschiedenen sozialen Kämpfe zusammenführen, meint die Drag-Queen. „Beim MST wissen wir, dass LGBTQIA+-Personen immer an unseren Kämpfen um Land beteiligt waren. Ich bin ein lebender Beweis dafür“, sagt er:sie mit einem Schmunzeln. „Lieben und kämpfen, das ist kein Widerspruch, im Gegenteil, das passt sehr gut zusammen.“ Neulich erst hielt Venceremos in Guararema bei einer Fortbildung für Aktivist:innen im Gesundheitsbereich ein Grundsatzreferat. Unter den Anwesenden waren auch Walmir Siqueira und vier weitere Kolleg:innen von der CUT. „Ruth war wieder ganz groß“, schwärmt der Bundessekretär.
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— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) October 16, 2024
LGBTQIA+-Pläne für nächste Wahl in Brasilien
Gerade Anfang September wurde die brasilianische Bewegungslinke aus heiterem Himmel von einer regelrechten Schockwelle erfasst. Am 5. September entließ Lula den Menschenrechtsminister Silvio Almeida, einen der Stars der Regierung. Vorgeworfen werden dem Schwarzen Intellektuellen zahlreiche sexuelle Übergriffe, unter anderem gegenüber der zeitweilig von ihm politisch abhängigen Kollegin Anielle Franco, Ministerin für Rassengleichheit. Auch für die Sache der sexuellen Diversität war Almeida in Brasília eine zentrale Schaltstelle. „Wir müssen jetzt abwarten, ob es bei der neuen Ministerin so weitergeht wie bisher“, sagt Siqueira. Für offizielle Positionierungen sei es noch zu früh, aber der Skandal würde erschüttern – „wir sind sehr traurig“.
In zwei Jahren finden die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Was wünscht sich Walmir Siqueira bis dahin? „Wir werden uns weiter organisieren“, gelobt er. Brasiliens LGBTQIA+-Räte planen nun Konferenzen in den Bundesstaaten und schließlich eine ganz große auf nationaler Ebene. Und für die hat er schon eine Idee: „Wenn Lula sie in aller Form eröffnen würde, das wäre ganz wunderbar.“
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