Die Herausforderungen für die georgischen ArbeitnehmerInnen und GewerkschafterInnen sind enorm.
Die Herausforderungen für die georgischen ArbeitnehmerInnen und GewerkschafterInnen sind enorm. Dazu zählen Arbeitslosigkeit ebenso wie denkbar schlechte Bedingungen am Arbeitsplatz – auch als Folgen der hemmungslos neoliberalen Politik, die nach dem Fall der Sowjetunion ihre Spuren hinterlassen hat. Für uns weithin unvorstellbar sind die Arbeitsverhältnisse im Kaukasusland. So wird beispielsweise der Schutz der ArbeitnehmerInnen weitgehend vernachlässigt, ein wirksames Arbeitsinspektorat existiert praktisch nicht. So kam es allein 2017 zu über 450 tödlichen Arbeitsunfällen und zu Tausenden Verletzten. Ausschreibungen zum Eisenbahn- und Autobahnbau gingen an chinesische Firmen. Die dort beschäftigten Arbeiter mussten monatelang sklavenähnlich ohne freie Tage durcharbeiten.
Umso bedeutsamer sind somit die Erfolge der Eisenbahngewerkschaft, die mit ihrem Protest durchgesetzt hat, dass zumindest ein freier Tag pro Woche und die gesetzlichen georgischen Feiertage eingehalten werden. Als zusätzlicher Erfolg gilt, dass die GewerkschafterInnen in den Verhandlungen den Tageslohn von 15 auf 20 Georgische Lari (also von fünf auf etwa sieben Euro!) erhöhen konnten. Die 21 Branchengewerkschaften in Georgien, die sich unter dem Dachverband des GTUC versammeln, sind im täglichen Einsatz um faire Arbeitsbedingungen.
Bewusstes Statement
Dass es in der georgischen Hauptstadt Tbilisi (wie Tiflis im Georgischen heißt) seit 2016 eine Gewerkschaftsschule nach österreichischem Vorbild gibt, kann somit als Statement einer Republik betrachtet werden, die sich im Augenwinkel Europas selbstbewusst ihren Herausforderungen stellt. Mit der Gewerkschaftsschule gibt es nun ein Instrument, das die TeilnehmerInnen unterstützt, sich gezielt Wissen anzueignen, Netzwerke zu stärken, Strategien zu entwickeln und organisiert zu mobilisieren.
Mit der Gewerkschaftsschule gibt es nun ein Instrument, das die TeilnehmerInnen unterstützt, sich gezielt Wissen anzueignen, Netzwerke zu stärken, Strategien zu entwickeln und organisiert zu mobilisieren.
Ende Juni 2016 war es so weit: Die erste einjährige Gewerkschaftsschule in Georgien war abgeschlossen. TeilnehmerInnen aus sieben Branchengewerkschaften haben diesen Lehrgang unter teilweise für sie herausfordernden Bedingungen an 50 Abenden und vier Wochenenden besucht. Die Arbeits- sowie die Arbeitsmarktsituation sind in vielen Bereichen dramatisch prekär, und die zusätzliche Belastung durch eine nebenberufliche Weiterbildung war somit enorm. Und doch haben sich gewerkschaftlich organisierte ArbeitnehmerInnen und AktivistInnen über neun Monate zwei Abende pro Woche ihrer Freizeit sowie zusätzlich vier Wochenenden für Weiterbildung Zeit genommen.
Georgien hat 3,7 Millionen EinwohnerInnen, die Inflationsrate lag im Mai 2019 bei 4,7 Prozent (im Juli 2018 waren es noch 2,8 Prozent).
Besonders Jugendliche sind stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Gesamtarbeitslosigkeit sinkt zwar, lag aber 2018 immer noch bei 12,7 Prozent.
Das Nominaleinkommen betrug 2017 bei Frauen monatlich im Durchschnitt 770 Georgische Lari (GEL) und bei Männern 1.197 GEL. Das entspricht in etwa 260 Euro bei Frauen und 400 Euro bei Männern.
Das Programm umfasste ein breites Themenspektrum: Lokale TrainerInnen vermittelten Arbeitsrecht, Sicherheit am Arbeitsplatz, Gleichstellung, Möglichkeiten der Mobilisierung für ArbeitnehmerInnen, Verhandlungstechnik, Selbstpräsentation und Öffentlichkeitsarbeit. Zusätzlich referierten internationale TrainerInnen zu Best Practice in der EU und in Österreich. Parallel dazu wurden im Laufe von neun Monaten sogenannte „Organizing-Projekte“ durchgeführt, wobei es um Basisarbeit in den Betrieben, um Bewusstseinsbildung und Mitgliedergewinnung geht.
Bei der Abschlussevaluierung waren die Rückmeldungen sehr positiv. Den AktivistInnen ist es gelungen, eine beträchtliche Zahl an neuen Mitgliedern für die Gewerkschaften zu werben und einige Betriebsvereinbarungen zu verhandeln. Beides trägt zur Stärkung der ArbeitnehmerInnen enorm bei. Die bisher 28 AbsolventInnen konnten ihr Wissen in ihren Unternehmen und Branchengewerkschaften einbringen und weitergeben.
Nicht nur in der Hauptstadt
Schon am 15. September 2016 ging es in Tbilisi in die nächste Runde. Es sollte nicht beim Angebot in der Hauptstadt bleiben. Im Februar 2019 startete auch in der Hafenstadt Batumi im Südwesten des Landes (Georgiens zweitgrößter Stadt) eine Gewerkschaftsschule. Im Herbst 2019 werden auch ArbeitnehmerInnen in Kutaissi, der drittgrößten Stadt des Landes, in den Genuss dieser Weiterbildung kommen.
Zur einjährigen Gewerkschaftsschule kam noch ein weiteres Angebot: Von Februar bis Juni 2019 wurde nun der erste dreimodulige Lehrgang für Organizing in der Hauptstadt Tbilisi angeboten. Auf dem Programm der zwei georgischen TrainerInnen, die von einer österreichischen Kollegin begleitet wurden, stand das prozesshafte Mobilisieren, Organisieren und Beteiligen von ArbeitnehmerInnen an Veränderungen und Verbesserungen in ihrem eigenen Arbeitsumfeld.
Den Abschluss der insgesamt sechs Tage dauernden Ausbildung machte ein sogenannter „Blitz“ in einem Restaurant und der Universitätsklinik von Tbilisi. Dabei handelt es sich um eine schnelle Aktion in Form eines überraschenden Besuchs in einem Betrieb, bei dem die MitarbeiterInnen in kurzen Gesprächen zu ihrer Arbeitssituation befragt werden. Mit 23 TeilnehmerInnen wurden die Erwartungen an das Interesse am Lehrgang bei Weitem übertroffen. Der nächste Organizing-Lehrgang startet 2020 in Tbilisi.
- „weltumspannend arbeiten“, dem entwicklungspolitischen Verein im ÖGB, und
- dem Georgischen Gewerkschaftsbund (GTUC)
Kofinanziert durch:
- durch die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit (ADA) und
- die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
Ob an der öffentlichen Universitätsklinik, im Energieversorgungsbereich, im Theater- und Kulturbereich, bei der Organisierung von Weinbau- und Schweinezuchtbetrieben – überall gelangen Erfolge in der Durchsetzung oder Verbesserung der Rechte von ArbeitnehmerInnen, unterstützt durch Projekte von TeilnehmerInnen der Gewerkschaftsschule. Der größte Erfolg ist wohl den ArbeiterInnen in der Zuckerfabrik AGARA 2018 gelungen: Die Schließung war schon beschlossene Sache. In einem zweitägigen Marsch von Hunderten ArbeiterInnen über 120 Kilometer gelang es, die Schließung wieder rückgängig zu machen. Sonst wäre eine ganze Region ohne Arbeitsplätze geblieben.
Bis 2021 werden insgesamt fünf Gewerkschaftsschulen in Georgien abgeschlossen sein.
Bis 2021 werden insgesamt fünf Gewerkschaftsschulen in Georgien abgeschlossen sein. Dazu werden auch Regionalbüros verstärkt bzw. eines gegründet und mit der nötigen materiellen und personellen Infrastruktur ausgestattet. Dieser Aufbruch in die Regionen war ein wichtiger Schritt in der gemeinsamen Entwicklungsarbeit am gewerkschaftlichen Bildungsangebot in Georgien.
Auch in Georgien blicken die AbsolventInnen der Gewerkschaftsschule zufrieden zurück auf ihre Ausbildung. „Gut qualifizierte GewerkschafterInnen sind ganz wichtig“, betont eine der AbsolventInnen im Zuge der Evaluierung des Projekts. „Bei den sozialen Problemen, die unsere Gesellschaft hat, ist es notwendig, Leute zu haben, die Standards entwickeln. Nur so kann eine Änderung stattfinden.“
Georgiens Jugend mischt sich auf der Straße ein – Radio-Feature von Sandra Hochholzer:
tinyurl.com/y6xteuzo
Sandra Hochholzer
weltumspannend arbeiten
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
sandra.hochholzer@oegb.at
die Redaktion
aw@oegb.at