Wenige Monate nach der Vergabe an Katar ergaben Recherchen des amerikanischen Magazins „New Yorker“, dass bei der Abstimmung wohl nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Drei stimmberechtigte Funktionäre, darunter der mächtige Präsident des Brasilianischen Fußball-Nationalverbandes (CBF), Ricardo Teixeira, und der mittlerweile verstorbene Präsident der Südamerikanischen Fußball-Konföderation (CONMEBOL), Nicolás Leoz, waren bestochen worden und hatten dem Emirat auf der Arabischen Halbinsel ihre Unterstützung gegen Gegenleistungen zugesichert.
Bestechung und Betrug bei der Vergabe der WM ist die eine Sache, Menschenrechtsverletzungen und die fehlende Pressefreiheit in Katar die andere. Laut „Reporter ohne Grenzen“ rangiert das Land auf Platz 128 von 180. Mit dem Pressegesetz von 1979 ist es den Machthabern möglich, die Presse zu zensieren. Und so sind die inländischen Medien einer gewaltigen Zensur unterworfen, die es ihnen verbietet, über Verstöße zu berichten, die auf den WM-Baustellen geschehen.
Schon kurz nachdem die WM vergeben worden war, begann man mit den Bauarbeiten an den acht Stadien, in denen die Spiele geplanterweise ausgetragen werden sollen. Da es im Land im Sommer deutlich über 40 Grad hat, beschloss die FIFA, das Turnier in den Frühwinter 2022 zu verlegen. Die Arbeiten an den modernen Stadien hingegen laufen zu jeder Jahreszeit. Und weil es auch im Winter selten unter 30 Grad hat, werden alle standardmäßig mit Klimaanlagen ausgestattet.
Gastarbeiter*innen gesucht
Zum überwiegenden Teil errichten Arbeitskräfte aus Nepal, Indien, Bangladesch, Kenia, Ghana und den Philippinen die Arenen. Ungefähr 20.000 Gastarbeiter*innen arbeiten insgesamt auf den Stadienbaustellen. Die Baukonzerne, die die Projekte abwickeln, kommen hingegen aus China, Saudi-Arabien oder Europa.
Katar ist eines der reichsten Länder der Erde. Das Brutto-Einkommen der Katarer*innen liegt bei durchschnittlich 9.000 US-Dollar pro Monat. Von den 2,7 Millionen Einwohner*innen sind allerdings nur 230.000 gebürtige Katarer*innen, den Rest machen Gastarbeiter*innen aus, die zumeist deutlich weniger verdienen. Es gibt zwar einige ausländische Fachkräfte, die die Mittelschicht Katars darstellen, aber der Großteil der Arbeitenden erhält in einem Jahr nicht einmal einen Bruchteil der 9.000 US-Dollar. Der Mindestlohn für Gastarbeiter*innen auf den Baustellen liegt aktuell bei unter 300 Euro pro Monat.
Ausgeliefert
Für die großen WM-Pläne benötigt das Land viele Arbeitskräfte zur Errichtung der Stadien und der dazugehörenden Infrastruktur. Diese werden in den jeweiligen Herkunftsländern rekrutiert. In diesen strukturschwachen Ländern erhoffen sich viele Arbeiter*innen durch ihren Einsatz in Katar eine regelmäßige Entlohnung, um die zu Hause gebliebenen Familien damit unterstützen zu können. Die Vorstellungen von einer Arbeitsstelle in der absoluten Monarchie und die tatsächlichen Umstände vor Ort klaffen allerdings weit auseinander.
Die angeheuerten Arbeiter*innen werden teilweise gezielt getäuscht. So kommt es regelmäßig vor, dass ihnen ein anderer Lohn oder eine andere Arbeit versprochen werden. Am Ende sind die finanziellen Ansprüche oft viel niedriger. Auch von Arbeitskräften, die monatelang auf ihre Bezahlung warten mussten, wurde in der Vergangenheit regelmäßig berichtet. Das ist keine Seltenheit. Selbst auf einer Borealis-Baustelle in Belgien wird wegen ähnlicher Menschenrechtsverletzungen ermittelt.
Beißender Uringestank
Doch bis 2020 war das Kafala-System das größte Problem. „Kafala“ bezeichnet ein System der Bürgschaften, das sich in vielen arabischen Golfstaaten findet. In diesem Zusammenhang wurden die Reisepässe der Gastarbeiter*innen bei der Einreise nach Katar von den Arbeitgebern konfisziert. Was zur Folge hatte, dass sich die Arbeitskräfte ab diesem Zeitpunkt in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Unternehmen befanden. Die Arbeiter*innen waren in Katar gefangen und konnten auch nicht zurück in ihre Heimatländer reisen. Zusammengepfercht lebten sie in heruntergekommenen Unterkünften. Die Toiletten im Außenbereich der Anlagen waren ungepflegt und beißender Urin- und Fäkaliengestank wahrnehmbar, die Schlafräumlichkeiten überfüllt und unzureichend klimatisiert.
Darüber hinaus sind in Katar 14-Stunden-Schichten auf den Baustellen oftmals keine Seltenheit. Überarbeitung und die schlechten Sicherheitsvorkehrungen auf den Baustellen forderten laut einem Bericht der britischen Tageszeitung „The Guardian“ zwischen 2010 und 2020 nicht weniger als 6.500 Todesopfer.
Allerdings ist die Zahl an Todesfällen über offizielle Wege nur schwer überprüfbar, da Katar selbst keine Zahlen veröffentlicht.
Doch mittlerweile gibt es Fortschritte. Gewerkschaften wie die nepalesische GEFONT (General Federation of Nepalese Trade Unions) und NGOs wie Amnesty International sowie Transparency International üben seit Jahren Druck auf Katar, auf die zuständigen Unternehmen vor Ort und auf die FIFA, die als Veranstalterin die Verantwortung trägt, aus. Und das hat sich ausgezahlt.
„Die Gesetzgebung hat sich verändert, das Kafala-System, also besagte Quasi-Leibeigenschaft der Arbeiter*innen, die Ausreise und Jobwechsel unmöglich macht, ist im vergangenen Jahr formal abgeschafft worden. Es gibt inzwischen außerdem einen Mindestlohn, aber an der Umsetzung dieser Bestimmungen hapert es offenbar noch“, berichtet Nicole Selmer. Selmer ist stellvertretende Chefredakteurin des österreichischen Fußballmagazins „Ballesterer“ und beschäftigt sich seit der Vergabe der WM mit den Arbeitsbedingungen auf den Baustellen.
„Boykott ist keine Option“
In den vergangenen Jahren waren regelmäßig Protestaufrufe zu vernehmen, dass die Nationalteams, Sponsoren und Fans das Turnier aufgrund der Menschenrechtslage und der Arbeitsbedingungen boykottieren sollten. Michael Wögerer von „weltumspannend arbeiten“, dem entwicklungspolitischen Verein des ÖGB, sieht einen Boykott allerdings kritisch: „Wichtig ist vor allem, was wir als Gewerkschafter*innen in dieser Frage machen können und sollen. Angesichts der bereits vorangeschrittenen Zeit im Bau von Stadien und der vielen Opfer, die damit einhergegangen sind, wäre meines Erachtens etwa ein Boykott der WM nicht sinnvoll.“ Und die Katar-Expertin Regina Spöttl von Amnesty International rät ebenfalls davon ab: „Es gibt Fortschritte, und mit einem Boykott würden diese um Jahre zurückgeworfen. Katar hat sich durchaus gesprächsbereit erklärt und Reformen angestoßen.“
Gesetzliche Grundlagen benötigt
Auch wenn manches in eine menschenwürdigere Richtung geht, muss noch einiges unternommen werden – besonders in Anbetracht der zensierten Medienlandschaft. Nicole Selmer geht davon aus, dass die Herrscherfamilie Bilder vermeiden möchte, die zeigen, wie ausländische Kamerateams bei der Arbeit behindert werden. Ob unabhängige Medien und kritische Berichterstattung vor und nach dem Turnier möglich sind, bezweifelt sie allerdings: „Das ist die Zeit, wo es gilt, genau hinzuschauen und auch solidarisch mit Kolleg*innen in Katar zu sein.“
Doch nicht nur Journalist*innen müssten sich solidarisch zeigen, auch Nationalteams und Offizielle könnten klar Stellung beziehen. Erste Anzeichen dafür gab es bereits zu Beginn der WM-Qualifikation im März. So trug die norwegische Nationalmannschaft im Auftaktspiel gegen Gibraltar zum Aufwärmen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Respect – On and off the Pitch“ – und viele weitere Teams stimmten in den Kanon ein. Das österreichische Nationalteam hielt vor dem Spiel gegen Dänemark beispielsweise ein Transparent mit dem Aufdruck „Menschenrechte schützen“ medienwirksam in die Kameras.
Diese Aktionen sind zwar nicht nichts, doch Michael Wögerer fordert noch mehr: „Es braucht nachhaltige Veränderungen und gesetzliche Grundlagen in Katar und in anderen Ländern, um die Situation der Arbeiter*innen auf Baustellen sportlicher Großereignisse zu verbessern, und klare Rahmenbedingungen, und zwar bevor solche Events überhaupt vergeben werden. In diesem Bereich ist es wünschenswert – und das passiert auch schon –, wenn Sportverbände und Profisportler*innen gemeinsam mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung an einem Strang ziehen.“
Fünf Fakten zum Thema
1 / Im 18. und 19. Jahrhundert kam es mehrmals zu Herrschaftskämpfen in Katar. Das Land wurde von Persern, Arabern und Omanern für sich beansprucht. Nach einer Intervention Großbritanniens 1867 wurde im Jahr darauf ein Schutzvertrag abgeschlossen. Danach erlangte Katar de facto seinen Status als eigenständiger Staat. Die Briten waren weiterhin im Land und Katar bis 1971 ein Protektorat.
2 / Seit 1878 wird das Emirat von der Familie Al Thani regiert. Hierbei handelte es sich ursprünglich um einen Beduinen-Clan, der aus dem heutigen Saudi-Arabien stammt. Das aktuelle Staatsoberhaupt ist Tamim bin Hamad Al Thani, der seit 2013 die Geschicke des Landes lenkt. Er ist der vierte Emir (Befehlshaber), den die Familie stellt. Davor nannten sich die Al Thanis an der Spitze „Hakim“, arabisch für Herrscher oder Richter.
3 / Die ersten Entdeckungen großer Erdölvorkommen fielen in das Jahr 1939. Vorher war Katar ein armer Wüstenstaat, der bis in die 1920er-Jahre vom Perlenfischen lebte. Bis man Erdöl zu fördern begann, verging noch ein weiteres Jahrzehnt. Damals förderte man 46.500 Barrel pro Tag. Durch die Erschließung neuer Ölfelder verfünffachte sich die Fördermenge im weiteren Verlauf.
4 / Katar hat neben reichlich Erdöl auch das größte Erdgasfeld der Welt (geschätzte 896 Billionen Kubikmeter). Die Erlöse aus dem Öl waren allerdings so hoch, dass man erst ab dem Sinken der Preise ab Mitte der 1980er anfing, die Förderung von Gas voranzutreiben.
5 / Neben der Fußball-WM holte die Königsfamilie viele weitere große Sportevents in die Wüste. Die Motorrad-WM gastiert jährlich in der Nähe der Hauptstadt Doha. Eine Leichtathletik-WM wurde genauso ausgetragen wie die Männer-WM im Handball. Kritiker*innen sprechen hier von „Sportwashing“ und meinen damit, dass Menschenrechtsverletzungen durch Sportveranstaltungen übertüncht werden sollen.