„Wenn Sie die VHS Alsergrund betreten, finden Sie gerade vor sich einige nach oben führende Stufen. Gehen Sie hinauf und halten Sie sich dann der linken Wand entlang, bis Sie an die Ecke kommen. ACHTUNG: Gleich ums Eck befinden sich Ständer und ein Glaskasten! Richten Sie sich an der Ecke auf 10 Uhr aus, wenden Sie sich also schräg nach links. Gehen Sie in diese Richtung, mit der rechten Hand passieren Sie eine Säule. Dann stoßen Sie an eine Glastüre. Dahinter befindet sich der Empfang. Hier hilft man Ihnen weiter!“ Das sind die wegbeschreibenden Worte eines Pilotprojektes der Wiener Volkshochschulen, das sich an blinde und stark sehbehinderte Menschen richtet. Die VHS Wien bietet mittlerweile für sechs Standorte Wegbeschreibungen von den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den jeweiligen Standorten an. Ein Beitrag zur Barrierefreiheit.
Barrierefreiheit: Leben ohne Hindernisse
„Wir finden es wichtig, dass unsere Standorte für alle Menschen gut zu finden und leicht erreichbar sind. Also auch für blinde oder sehbehinderte Menschen. Nur so ist ‚Bildung für alle!‘ möglich“, sagt Nadja Pospisil. Sie ist die Mediensprecherin der Wiener Volkshochschulen. Erstellt wurden die Beschreibungen maßgeblich von einer blinden VHS-Mitarbeiterin. Doch Projekte zur Barrierefreiheit wie jenes der VHS Wien sind noch selten. Obwohl in Österreich 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen leben, von denen 400.000 einen Behindertenpass besitzen. Der Endbericht „Weniger Barrieren – Mehr Wien“ aus dem Jahr 2022 zeigt beispielsweise, dass es bei der Barrierefreiheit in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Freizeitangeboten oder bei den Arbeitsplätzen Nachbesserungsbedarf gibt.
„Es wird noch immer zu wenig auf Barrierefreiheit geachtet. Als selbst Betroffene wundert man sich, dass es immer noch nicht klar ist, dass Stufen für Rollstuhlfahrer:innen unüberwindbar sind. Die Anforderungen für blinde oder gehörlose Menschen werden noch weniger berücksichtigt“, sagt Bernadette Feuerstein, Obfrau des Dachverbands der „Selbstbestimmt Leben Initiativen in Österreich“ (SLIÖ). Ein Blick in das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) verrät, dass Barrierefreiheit dann erreicht ist, „wenn Menschen mit Einschränkungen der Zugang zu Gebäuden und sonstigen Anlagen, (öffentlichen) Verkehrsmitteln, aber auch zu technischen Gebrauchsgegenständen oder Systemen der Informationsverarbeitung auf allgemein übliche Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar wird“. Davon ist Österreich noch ein gutes Stück entfernt, egal ob im öffentlichen Leben oder in der Arbeitswelt.
„Bestehende Gesetze werden nicht eingehalten oder kontrolliert“, spricht Feuerstein eines der Probleme an. Deshalb würden sich die Dinge nur langsam verbessern. Wie der Bericht „Weniger Barrieren – Mehr Wien“ außerdem zeigt, fühlen sich Menschen mit Behinderungen von der Politik zu wenig vertreten. Abgeordnete mit Behinderungen sieht man im Nationalrat und im Landtag noch immer selten. Im öffentlichen Dienst ist die Zahl der Beschäftigten mit Behinderungen sogar rückläufig. „Die Anzahl der bediensteten Menschen mit Behinderungen ist im Bundesdienst seit 2007 um beinahe neun Prozent gesunken. Das bedeutet einen Rückgang von 4.180 auf 3.805 Beschäftigte mit Behinderungen“, sagt Emil Benesch vom Österreichischen Behindertenrat (ÖBH). Benesch beschäftigt sich beim ÖBH mit Projekten der Barrierefreiheit.
Barrierefreiheit ist für viele ein Muss, für alle anderen ein Plus
Dass man von Menschen mit Behinderungen lernen kann, zeigt die Wiener Magistratsabteilung 28 (MA 28), die für Straßenverwaltung und Straßenbau zuständig ist. Menschen mit Behinderungen unterstützen die Behörde bei der Erstellung, Anpassung und Entwicklung interner Regelblätter. Dabei werden Themen wie die Ausgestaltung visuell taktiler Leitsysteme zu barrierefreien Bus- und Straßenbahn-Stationen oder zur sicheren Ertastbarkeit von Fassadenbegrünungen für blinde Menschen mit Langstock behandelt. „Für Menschen mit Behinderungen ist es wichtig, gemeinsam mit den Behörden die fachlichen Grundlagen für eine barrierefreie, inklusive Gesellschaft zu schaffen“, so Benesch.
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Bei der VHS Wien sieht man das ähnlich. Die Volkshochschule arbeitet neben dem Projekt für Wegbeschreibungen bereits daran, digitale Barrieren im Online-Auftritt oder im E-Learning abzubauen, und die Häuser durch Leitsysteme oder durch tastbare Schilder inklusiver zu gestalten. „Wir würden uns außerdem freuen, wenn wir mehr Kursleitungen, die selbst blind oder seheingeschränkt sind, für die Arbeit an den Wiener Volkshochschulen gewinnen könnten“, meint Pospisil.
Ein anderes positives Beispiel für Barrierefreiheit sind die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Seit vielen Jahren arbeiten sie gemeinsam mit Behindertenorganisationen zusammen, um höhere Standards bei der Barrierefreiheit in Bahnhöfen zu schaffen. In der Regel werden dadurch jährlich 20 Bahnhöfe durch Um- oder Neubau barrierefreier. „Bei den neuen Railjets für den Tagverkehr wird in sieben von neun Waggons per Schiebetritt stufenlos eingestiegen, und ein elektronischer Fahrplanaushang mit akustischer Ansage auf Knopfdruck wird künftig blinden und sehbehinderten Menschen Informationen in Echtzeit zu Ankunfts- und Abfahrtszeiten zugänglich machen“, wie Benesch vom Behindertenrat positiv hervorhebt. Mehr Projekte und Best-Practice-Beispiele wie jene der VHS, der MA28 und der ÖBB sind für das öffentliche Leben und in der Arbeitswelt gefragt, um Barrierefreiheit im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes zu erreichen.
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