Barbara Blaha im Interview: Klassenkampf wie eh und je

Portrait von Barbara Blaha vom Momentum Institut beim Interview.
Budgetpolitik nach Maastricht-Kriterien, Bildungsgerechtigkeit, Umverteilung: Die neue Regierung müsse sich in diesen Bereichen beweisen, um den Wohlstand in der Republik zu sichern, sagt Barbara Blaha. | © Markus Zahradnik
Barbara Blaha setzt sich seit vielen Jahren für einen starken Sozialstaat und für eine gerechtere Steuerpolitik ein. Im Interview plädiert sie für einen Umbau des Steuersystems und den Ausbau der Kinderbetreuung.
Die Rekordinflation der vergangenen Jahre bremste sich inzwischen zwar ein, die massiven Teuerungen haben viele Menschen aber in existenzielle Sorgen gestürzt. Nun zeichnet sich laut Prognose des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) vom Juni eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation ab, die Insolvenzzahlen steigen. Die Europäische Union (EU) pocht indessen wieder auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien, die vorgeben, dass das staatliche Budgetdefizit nicht mehr als drei Prozent des BIP betragen darf. Wie kann man in so einer Situation dennoch Armut bekämpfen und den Sozialstaat stärken? Und was hat all das zum Beispiel mit der Schaffung von Kindergartenplätzen zu tun? Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft gibt Barbara Blaha, Leiterin des Momentum Instituts, Antworten.

Zur Person
Barbara Blaha, geboren 1983, studierte Germanistik an der Universität Wien. 2019 hat sie den Thinktank Momentum Institut ins Leben gerufen, den sie bis heute leitet, ebenso wie den Politkongress Momentum und das Moment Magazin. Zudem ist die gebürtige Wienerin als Autorin tätig.
Arbeit&Wirtschaft: Was bedeutet für Sie Chancengerechtigkeit?

Barbara Blaha: Wenn man Ungleiches gleich behandelt, werden strukturelle Ungerechtigkeiten reproduziert. Es geht also darum, anzuerkennen, dass Dinge ungleich sind, und dann Ungleiches auch ungleich zu behandeln. Beispiel Bildungssystem: Derzeit tut man so, als hätte jedes Kind zu Schulbeginn die gleichen Voraussetzungen. Das stimmt aber überhaupt nicht. Chancengerechtigkeit würde bedeuten: Ein Kind, das aus einer bildungsfernen Schicht kommt, braucht eine ganz andere Unterstützung als ein Kind aus einer bildungsnahen Schicht. Wenn ich hier ungleich behandle, sorge ich im Ergebnis dafür, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben.

Barbara Blaha
Gleiche Chancen für alle? In Österreich bleibt das bisher Wunschdenken, sagt Barbara Blaha. | © Markus Zahradnik
Gibt es hier noch ein Beispiel?

Wenn wir uns die Männer-Frauen-Frage anschauen: Grundsätzlich können Frauen alles werden, niemand hat hier noch juristische Hürden, die zu bekämpfen wären. Trotzdem bekommen Frauen um 36 Prozent weniger Lohn als Männer. Ist das ihre eigene Schuld? Das zeigt ebenfalls gut, dass wir so tun, als wäre es gleich. Ein anderer Aspekt: Wer kümmert sich um die Kinder? Wer betreut die Alten? In unserer Gesellschaft ist es nach wie vor so, dass man damit die Frauen alleine lässt und ihnen dann hinterher, wenn sie zu wenig Pension erhalten, ausrichtet, sie hätten ja nur Teilzeit gearbeitet.

Infografik zum Steueraufkommen durch Vermögen in Österreich.
Quelle: Einzelsteuerliste, Stand 2022, Momentum Institut
In welchen Politikbereichen müsste man ansetzen, um eine bessere Umverteilung von oben nach unten zu erreichen?

Da gibt es viele. Ein ganz wesentlicher Hebel wäre vor allem das Steuersystem. Wir wissen, dass knapp 80 von 100 Euro Steueraufkommen aus Arbeit und Konsum stammen, also von den Arbeitnehmer:innen, von den Familien, von den Pensionist:innen. Aber nur vier Euro kommen aus dem Vermögen und nur sechs Euro aus den Gewinnsteuern der Konzerne. Hier gibt es also ein großes Ungleichgewicht. Gegensteuern könnte man durch eine stärkere Besteuerung von Vermögen und Konzerngewinnen. Dass wir jetzt so ein großes Ungleichgewicht haben, ist die Konsequenz politischer Entscheidungen der vergangenen 35, 40 Jahre. Wir haben Vermögen schon einmal deutlich stärker besteuert, ebenso Erbschaften. An dieser Stellschraube muss man wieder drehen.

Wo gilt es noch anzusetzen?

In der Sozialpolitik. Es ist eine politische Entscheidung, dass bei uns jedes fünfte Kind in Armut oder armutsgefährdet aufwächst. Das müsste nicht so sein. Die Volkshilfe hat ausgerechnet, dass es im Rahmen einer Kindergrundsicherung knapp vier Milliarden Euro kosten würde, Kinder – und damit auch ihre Familien – aus der Armut zu holen.

Für Armut wird teils immer noch die Verantwortung den Betroffenen zugeschoben. Warum ist dieser Befund falsch, und warum geht Armut die ganze Gesellschaft etwas an?

Warum Armut dem Einzelnen zugeschoben wird, kann man sich sehr gut am Beispiel arbeitsloser Menschen anschauen. Viele können sich noch an die aktive Arbeitsmarktpolitik Bruno Kreiskys (von 1970 bis 1983 Bundeskanzler, Anm. d. Red.) erinnern – und an seinen Sager, 100.000 Arbeitslose würden ihm mehr schlaflose Nächte bereiten als ein paar Milliarden Schilling Schulden. Die Politik hat damals die Verantwortung für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit übernommen. Heute hat kein Bundeskanzler schlaflose Nächte bei Hunderttausenden Arbeitslosen. Wir haben uns an die extrem hohe strukturelle Arbeitslosigkeit gewöhnt.

Barbara Blaha
„In Österreich hatte man bei der Inflation eine fast schon absurde Angst vor dem Markteingriff.” | © Markus Zahradnik

Warum? In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren wurde von der aktiven auf die aktivierende Arbeitsmarktpolitik umgestellt. Jetzt muss man sich qualifizieren, sich fortbilden, sich anstrengen, man muss fleißig sein, mit der Konsequenz, dass du, wenn du keinen Job hast, eigentlich selbst schuld bist. Wenn man sich aber das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitslosen anschaut, sieht man, das kann sich nicht ausgehen. Und diese eigene Schuld wirkt auch als Drohkulisse für die, die Arbeit haben. Man will nicht zu den Arbeitslosen gehören, also hält man aus, dass die Arbeit immer dichter wird, geht krank zur Arbeit, nimmt hin, dass Überstunden nicht ausbezahlt werden. Die Drohkulisse des Verlusts des Arbeitsplatzes hält Arbeitnehmer:innen diszipliniert und brav – und das ist gewünscht.

Viele Familien, aber auch Einzelpersonen haben zuletzt die hohe Inflation und die enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten – Wohnen, Energie, Lebensmittel – an den Rand der Existenzkrise gebracht. Was erwarten Sie hier von der nächsten Bundesregierung?

Viele andere Regierungen in Europa haben in die Werkzeugkiste gegriffen. In Österreich hatte man eine fast schon absurde Angst vor dem Markteingriff und hat fast nichts getan. Statt die Energiepreise abzufangen, hat man sich für Einmalzahlungen entschieden – und die Rechnung dafür zahlen wir. Diese vermeintlichen Hilfen waren in Wirklichkeit selbstfinanzierte kurzfristige Finanzspritzen.

Die Drohkulisse des
Verlusts des Arbeitsplatzes
hält Arbeitnehmer:innen
diszipliniert und brav –
und das ist gewünscht.

Barbara Blaha, Leiterin Momentum Institut

Was muss die nächste Regierung tun?

Die Europäische Kommission hat bereits im Juni deutlich gemacht, dass die Maastricht-Kriterien nach den Corona- und Teuerungsjahren wieder vollständig Gültigkeit haben. Das heißt, die nächste Bundesregierung wird vor der Herausforderung stehen, zwischen acht und zehn Milliarden Euro einzusparen – oder doch auf Erbschaft- und Vermögensteuern zu setzen. Hier eine sozial gerechte Balance zu finden halte ich für die größte Herausforderung der nächsten Bundesregierung.

Warum braucht es einen starken Sozialstaat, und wo braucht es dafür die dringendsten Reformen?

Wenn wir uns die Daten ansehen: Mit all seinen Mängeln und Schwächen hebt unser Sozialsystem jedes Jahr fast eine Million Menschen über die Armutsgrenze. Gleichzeitig sehen wir aber 1,3 Millionen Menschen unter oder an der Armutsgrenze. Der Sozialstaat ist also noch nicht stark genug, er fängt noch nicht genügend Leute auf. Das sind vor allem Menschen, die ihren Job verloren haben, es sind Ältere, Frauen, Personen mit chronischen Krankheiten. Für sie müssen wir den Sozialstaat armutssicher bauen.

Ein Ansatzpunkt ist das Arbeitslosengeld: Das wurde trotz Rekordteuerung nicht inflationsangepasst. Es braucht die schon angesprochene Kindergrundsicherung. Wir brauchen aber auch Dienstleistungen, von denen alle etwas haben, die hier leben: Kindergärten zum Beispiel. Wenn wir die Kinderbetreuung ausbauen, kann auch jede Frau tatsächlich einen Vollzeitjob ausüben.

Portrait Barbara Blaha vom Momentum Institut beim Interview.
Barbara Blaha kämpft für die Vielen: Mit Steuern auf Konzerngewinne und Vermögen soll der Sozialstaat abgesichert werden. „An dieser Stellschraube muss man wieder drehen.“ | © Markus Zahradnik
Bildung wird in Österreich weiterhin vererbt – je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch das Kind gut durch die Schulzeit kommt. Wo hakt es im heimischen Schul- und Ausbildungssystem?

Wir müssen endlich anfangen, Kindergärten als Bildungsstätten zu begreifen. Momentan werden sie von vielen bestenfalls als Aufbewahrungsstätten gesehen. Vor allem für die unter Dreijährigen sind die Gruppen zu groß, die Öffnungszeiten zu kurz, und der Betreuungsschlüssel ist zu schlecht. Die Kindergärten entsprechend zu finanzieren und auszustatten wäre der wichtigste Hebel für mehr Bildungsgerechtigkeit in diesem Land. Wir verlieren die Kinder aus bildungsfernen Familien nämlich nicht an der Uni – die kommen ja gar nicht dorthin.

Wir verlieren sie schon ganz am Anfang ihrer Bildungslaufbahn, wenn sie in die Volksschule kommen und weit hinter den Kindern aus bildungsnahen Familien zurückbleiben, sowohl betreffend ihren Wortschatz, um sich auszudrücken, als auch in Hinblick auf ihre Erfahrungswerte in der Welt. Und auch in der Volksschule gäbe es so viele Möglichkeiten, es besser zu machen: von Team-Teaching bis zu mehr Sozialarbeiter:innen und Schulärzt:innen.

Stichwort Klassenkampf: Wo bildet sich dieser heute vor allem ab, und warum sind der Begriff und das Phänomen aus Ihrer Sicht aktueller denn je?

Sprechen wir darüber, was das überhaupt ist: In meiner Jugend war dieser Begriff total veraltet, der gehörte ins 19. Jahrhundert. Aber wenn man genauer hinschaut, hat sich am grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ja nichts geändert. Der, der seine Arbeitskraft verkaufen muss, um davon zu leben, will möglichst viel Geld für möglichst wenige Stunden Arbeit bekommen. Und der, der bezahlt, sagt, er wünscht sich möglichst viele Arbeitsstunden für möglichst wenig Geld. Dieser Widerspruch ist nur nicht mehr so sichtbar. Wir glauben fälschlicherweise, dass der subbeschäftigte, scheinselbstständige Paketbote mit dem Callcenter-Angestellten, der Bäckereifachkraft oder dem Büroangestellten nichts gemeinsam hat. Tatsächlich müssen aber alle ihre Arbeitskraft verkaufen und dafür einen guten Preis erzielen. Wir sehen nur die anderen Lebensverhältnisse. Der gemeinsame Nenner ist aber immer da. Wir haben als Angestellte mit der Person, die unser Büro putzt, viel mehr gemeinsam als mit der Person, der das Unternehmen gehört.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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