Demokratie wird hierzulande gemeinhin als Selbstverständlichkeit betrachtet. Allerdings nicht unbedingt von unserer Großelterngeneration, die noch im Nationalsozialismus aufgewachsen ist. Ganz bestimmt nicht von den vielen zugewanderten Menschen, geflüchtet vor totalitären Regimen. Und sicher auch nicht von den vielen Menschen, die zwar hier leben, aber gar nicht wählen dürfen.
Denn: Demokratie ist nicht selbstverständlich – sie ist leicht verwundbar. Hans Kelsen, der Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung, soll gesagt haben: „Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, dass sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss.“ Dass er damit nicht unrecht hat, zeigt Ungarn, das sich zu Orbanistan entwickelte. In Russland finden noch Wahlen statt, der Rest aber ist Putinkratie. Oder die Türkei. Oder Polen. Ob innerhalb oder außerhalb der EU – sie sieht scheinbar machtlos zu. Umso wichtiger ist es, dass Österreichs demokratisches System starke Muskeln hat. Und die hat es: die Bundesverfassung, unser jung gebliebenes Kraftpaket, deren 100-jähriges Jubiläum wir heuer feiern.
Wer wird repräsentiert?
Demokratie bedeutet in Österreich Repräsentation. Wir wählen Abgeordnete, die unser aller Interessen verhandeln sollen. Spiegeln sie die Bevölkerung wider? Geht so. Nicht beim Frauenanteil, nicht beim Bildungsstand, nicht beim Migrationshintergrund. Ein großer Teil der Bevölkerung ist zudem vom allerwichtigsten demokratischen Prozess, nämlich den Wahlen, ausgeschlossen.
Demokratie findet, quasi als Effekt daraus, vermehrt außerhalb des Parlaments statt. Volksbegehren initiieren Themen, die von außen ins Parlament gebracht werden. Die in der Verfassung garantierte Mitbestimmung in Betrieben bringt Demokratie ins Wirtschaftsleben. Bürgerinitiativen mobilisieren für ihre Anliegen, ob auf der Straße oder per Online-Petition. Unser repräsentativer Prozess verändert sich damit und wird beschleunigt. Das dürfen wir nicht nur still beobachten, die Veränderungen müssen wir da und dort für unsere Demokratie neu verhandeln. Weil Demokratie, das sind wir alle.
In dieser Ausgabe
- Coverstory: Recht geht vom Volke aus, aber wohin?
Mehr Demokratie gegen autoritäre Versuchungen - Interview: Wer abhängig ist, ist anfällig
Krise der Medien: Kritische Journalist*innen werden immer häufiger als „Aktivist*innen“ diskreditiert. Daniela Kraus, Generalsekretärin des Presseclubs Concordia, im Interview über die schwierige Lage der „vierten Gewalt“. - Interview: Demokratie. Aber wie?
Krise der EU: Von der Repräsentation über Partizipation bis zu Populismus – auch die Demokratie steckt in der Krise. In der gesamten Europäischen Union und zu einem guten Teil auch wegen der Europäischen Union, befindet Ulrike Guérot. - Reportage: Sie wankt, sie steht
Unterwegs zwischen Verfassungsgerichtshof und Bezirksgericht - Warum brauchen wir eine Verfassung?
Die „große Frage“ beantwortet von Tamara Ehs - Der Staat, das sind wir
Die Verfassung von 1920 und ihre Geschichte - Fest verankert
Die Arbeitnehmer*innenvertretung in der Verfassung - Graue Corona-Zone
Der schlingernde Kurs der Corona-Gesetzgebung - Die Rechtsordnung
Die strenge Hierarchie der Normen – anschaulich gemacht - Wie viel Demokratie braucht ein Unternehmen?
Fünf Betriebsrät*innen geben Antwort - Nicht mein Staat
„Querdenken“-Demos: demokratiefeindlich und rechtsextrem - Demut, Respekt und Augenhöhe
Die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures im Interview - In schlechter Verfassung für die Euro-Krise 2.0
Veraltete Europäische Verträge und ihre Probleme - Die freie Wahl zwischen den Übeln
„Das kleinere Übel wählen“ – was steckt dahinter? - Über die Schönheit unserer Bundesverfassung
Schlussworte des Bundespräsidenten
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