Interview Alexander Van der Bellen: Auf die Solidargemeinschaft bauen

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Bundespräsident Alexander Van der Bellen über den sozialen Frieden und den Beitrag der Arbeiterkammern, das Arbeitsleben auch in Zukunft lebenswert zu gestalten.

Durch die Fluchtbewegung sind sehr viele Menschen nach Österreich gekommen und damit auch auf den Arbeitsmarkt. Die einen sehen sich dadurch bedroht, die anderen bemühen sich darum, sie zu unterstützen. Wie ließe sich diese Spaltung überwinden?

Im Jahr 2015 sind, ausgelöst durch den noch immer nicht beendeten Krieg in Syrien, sehr viele Schutzsuchende nach Österreich, Deutschland und Schweden gekommen. Inzwischen sind die Flüchtlingszahlen sehr stark zurückgegangen. Aber es ist unbestritten eine große Aufgabe, jene, die hierbleiben werden, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und ich kann auch verstehen, dass manche Menschen, vor allem im Niedriglohnsektor, Ängste um ihren Arbeitsplatz haben. Andererseits zeigt sich, dass die Integration der Schutzsuchenden oft erstaunlich gut funktioniert. Vor allem bei den Kindern mache ich mir wenig Sorgen, denn die lernen in der Schule Deutsch, lernen einheimische Kinder kennen und wachsen hier in unserer Kultur auf.

Nicht ganz so einfach ist es manchmal für jene, die als Erwachsene gekommen sind, vielleicht alles verloren haben und sich hier nicht so einfach zurechtfinden. Es gibt aber immer noch sehr viele Menschen in Österreich, die sich intensiv in der Integration von Schutzsuchenden engagieren. Sie arbeiten oft still und unbedankt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, während andere laut an einer Polarisierung der Gesellschaft arbeiten. Wo meine Sympathie liegt, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.

Ein großes Problem momentan scheint mangelndes Vertrauen zu sein – in demokratische Institutionen, Parteien oder andere politische AkteurInnen, Medien etc. Wie ließe sich dieses Vertrauen wieder aufbauen?

Sie haben mit einem recht: Das Ansehen von politischen Parteien und auch Journalistinnen und Journalisten ist nicht besonders hoch. Andererseits hat eine gerade kürzlich erschienene Umfrage ergeben, dass für 90 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher die Demokratie die beste Staatsform ist.

18 Prozent sagen, es müsse einen starken Mann geben, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern müsse. Vor vier Jahren waren es aber noch 30 Prozent, die einen starken Mann haben wollten!

18 Prozent sagen, es müsse einen starken Mann geben, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern müsse. Vor vier Jahren waren es aber noch 30 Prozent, die einen starken Mann haben wollten! Diese Haltung ist unter der Bevölkerungsgruppe besonders vertreten, die finanziell unter Druck steht, hat das Umfrageinstitut angemerkt.

Insgesamt ist das Vertrauen in die Demokratie aber gegeben. Demokratie braucht jedenfalls das Engagement jeder und jedes Einzelnen von uns – immer wieder und in allen Bereichen. Wir alle sind verantwortlich für die Gestaltung unserer Gesellschaft.

Fotos (C) HBF / Lechner
„Der einzelne europäische Zwergstaat ist sehr allein, wenn er allein ist. Und im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten keine Riesen.“

Wolfgang Petritsch hat kürzlich im „A&W“-Interview gesagt, dass er vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal darüber nachgedacht hätte, dass die EU eines Tages zerfallen könnte. Dass er momentan aber nicht mehr so sicher ist. Teilen Sie seine Befürchtung?

Heute leben wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Kriege sind uns in West­europa seit mehr als 70 Jahren erspart geblieben. Das ist das Verdienst des ­gemeinsamen Europa.

Gegenwärtig steht die EU natürlich vor vielen Herausforderungen, und manchmal entsteht der Eindruck, die Gegensätze zwischen den einzelnen Mitgliedsländern seien sehr groß – etwa in der Migrationsfrage.

Aber wir übersehen dabei leicht, dass gleichzeitig alle EU-Staaten beim drohenden Handelskrieg mit den USA unter Präsident Trump mit einer Stimme gesprochen haben. Auch deshalb konnte Kommissionspräsident Juncker in den Verhandlungen mit Präsident Trump ein herzeigbares Ergebnis erzielen. Und auch bei den „Brexit“-Verhandlungen haben die verbleibenden EU-27 mit einer Stimme gesprochen.

Ich verhehle aber nicht, dass es wieder Parteien und Personen gibt, die finden, dass die Europäische Union aus unterschiedlichen Gründen überflüssig sei. Nationale Souveränität sei wichtiger als das gemeinsame Europa. Diesen Standpunkt kann man schon vertreten. Aber dann muss man auch dazusagen, dass der einzelne europäische Zwergstaat sehr allein ist, wenn er allein ist. Und im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten keine Riesen. Und als Zwergstaaten Spielball mächtigerer Staaten wie China, USA oder Russland.

Ich glaube außerdem, dass der „Brexit“, den ich sehr bedaure, ein heilsamer Schock war. Es gibt keinen weiteren Wunsch nach Austritt aus der Union unter den verbleibenden EU-27.

Ich persönlich halte davon nichts. Denn nur gemeinsam sind die EU-Länder einflussreich und durchsetzungsfähig in der Welt. Ich glaube außerdem, dass der „Brexit“, den ich sehr bedaure, ein heilsamer Schock war. Es gibt keinen weiteren Wunsch nach Austritt aus der Union unter den verbleibenden EU-27. Die Zustimmung zur Union ist ja auch in Österreich unvermindert hoch. Ich bin also vorsichtig optimistisch.

Von
Sonja Fercher

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/18.

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Über den/die Autor:in

Sonja Fercher

Sonja Fercher ist freie Journalistin und Moderatorin. Für ihre Coverstory im A&W Printmagazin zum Thema Start-ups erhielt sie im Juni 2018 den Journalistenpreis von Techno-Z. Sie hat in zahlreichen Medien publiziert, unter anderem in Die Zeit, Die Presse und Der Standard. Von 2002 bis 2008 war sie Politik-Redakteurin bei derStandard.at. Für ihren Blog über die französische Präsidentschaftswahl wurde sie im Jahr 2008 mit dem CNN Journalist Award - Europe ausgezeichnet.

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