4-Tage-Woche: Auf der Suche nach Freizeit

Bei Borealis in Linz hat man erstmals in Österreich als Pilotprojekt die Fünfer-Schicht eingeführt, berichtet Betriebsrat Christian Kempinger. „Fast die komplette Industrie in Österreich setzt mittlerweile drauf“, sagt er.
Foto (C) Markus Zahradnik
Die durchschnittliche Arbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten in Österreich beträgt im Schnitt 38,2 Wochenstunden. Viele möchten allerdings weniger arbeiten. Dass weniger mehr sein kann, zeigen unterschiedliche Studien und Experimente.
Seit 35 Jahren gelten in Österreich 38,5 Wochenstunden als Normalarbeitszeit. Doch in den vergangenen Jahren ist häufig über mögliche Verkürzungen debattiert worden. Viele Arbeitnehmer*innen sowie die Arbeiterkammer und der ÖGB befürworten diese Idee. Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung lehnen sie ab. Nicht finanzierbar, standortschädigend und eine Gefährdung für den Wohlstand, sind nur einige Argumente, die mantraartig wiederholt werden.

Dass dem allerdings nicht so ist, belegen verschiedene internationale und nationale Versuche und wissenschaftliche Studien. „Eine Studie der Uni Wien zeigt, dass 55 Prozent der Menschen dauerhaft weniger arbeiten wollen, 30 Prozent wollen gleich viel arbeiten. Auf dieses Bedürfnis sollte man eingehen“, sagt der Ökonom David Mum von der GPA im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft.

Das Island-Experiment

Die Ergebnisse eines Versuchs haben im Juli für Aufsehen gesorgt. Seit 2015 lief auf Island eine Langzeitstudie, in der 3.000 Isländer*innen, die im Staatsdienst beziehungsweise für die Stadtregierung von Reykjavik arbeiten, 35 Stunden statt der dort üblichen 40-Stunden-Woche ihren Dienst verrichteten. Und das bei gleichbleibendem Lohn. Gewerkschaften und sozialgesellschaftliche NGOs forderten schon länger eine Verkürzung der Arbeitszeit. 2015 griffen die isländische Regierung und die Stadtregierung diese Forderung auf und starteten mit 2.500 Vollzeitbeschäftigten das Projekt der Arbeitszeitverkürzung. Von 2015 bis 2019 lief der erste Durchgang. Ein weiterer, mit knapp 500 Teilnehmer*innen, begann im Jahr 2017.

Der Versuch hatte zum Ziel, herauszufinden, wie sich weniger Arbeitsstunden auf die Zufriedenheit und Produktivität auswirken. Im Schnitt arbeiten Isländer*innen 47 Jahre ihres Lebens. Das ist der höchste Wert in ganz Europa. Rund 1.900 Arbeitsstunden werden pro Person jährlich geleistet. Doch viele dieser Stunden waren unproduktiv. Die schlechte Work-Life-Balance und Leerlaufzeiten bei der Produktivität sollten im Mittelpunkt des Versuchs stehen.

Positive Effekte

Mit der Verkürzung entstand mehr Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Das bestätigen Gespräche, die mit den Teilnehmer*innen im Nachhinein geführt wurden. Interviews mit Müttern und Vätern zeigten, dass besonders die Kinder durch die gewonnene Zeit profitierten. Als der Report im Juni 2021 geschrieben wurde, konnten 86 Prozent der isländischen Arbeitsbevölkerung – nicht nur die Leute im Staats- oder Gemeindedienst – von den Ergebnissen der Studie profitieren, so erfolgreich war sie verlaufen. All diese Personen hatten mittlerweile Arbeitsverträge, die auf weniger Arbeitsstunden ausgelegt sind, oder sie waren auf dem Wege, in absehbarer Zukunft auf kürzere Arbeitszeiten umzusteigen.

Auch andere Branchen könnten von kürzeren Arbeitszeiten profitieren, meint Ökonomin Bettina Csoka von der AK Oberösterreich: „Insbesondere im Gesundheitswesen mit häufig langen Arbeitstagen haben wir Bedarf für eine bessere Work-Life-Balance.“

Kurze Woche oder kurzer Tag?

Einer der Teilnehmer*innen sagte nach dem Experiment: „Eine kürzere Arbeitswoche ist die Zukunft. Es gibt kein Zurück mehr.“ Island nimmt hier eine Vorreiterrolle ein, und andere Länder möchten gerne mitziehen. In Österreich gibt es neben der Idee einer 4-Tage-Woche noch andere Vorschläge. „Die 4-Tage-Woche ist zwar ein immer wieder auftauchendes Schlagwort, aber eine wirklich sinnvolle Strategie wäre es, die Tagesarbeitszeit zu verkürzen. Viele der positiven Effekte der Arbeitszeitverkürzung entstehen durch eine kürzere Tagesarbeitszeit. Auch die Produktivität steigt eher bei einem kürzeren Tag als bei einer kürzeren Woche“, meint Arbeitsrechtsexperte Martin Müller vom ÖGB.

Schon 20 Jahre lang gibt es das vom AMS geförderte Solidaritätsprämienmodell. Mitarbeiter*innen verkürzen freiwillig die Arbeitszeit um bis zu 50 Prozent, so entstehen Ressourcen für neue Arbeitskräfte. Menschen, die beim Arbeitsmarktservice arbeitslos gemeldet sind, haben so Möglichkeiten, wieder in das Berufsleben einzusteigen. Das AMS zahlt für zwei Jahre bis zu 50 Prozent der verminderten Löhne und Gehälter. Weiters übernimmt es den zusätzlichen Aufwand für Sozialversicherungsbeiträge. Sollte die neu eingestellte Person unter die Kategorie langzeitarbeitslos (über ein Jahr vorgemerkt) fallen, über 45 Jahre alt sein oder eine Behinderung haben, dann werden die Kosten für drei Jahre übernommen.

Die 4-Tage-Woche ist zwar ein
immer wieder auftauchendes Schlagwort,
aber eine wirklich sinnvolle Strategie
wäre es, die Tagesarbeitszeit
zu verkürzen. 

Martin Müller, ÖGB-Arbeitsrechtsexperte

„Alle aktuell diskutierten Modelle sehen eine substanzielle Verkürzung der Wochenarbeitszeit vor. Das ist zentral“, sagt die Ökonomin Bettina Csoka von der AK Oberösterreich. Sie sieht die 4-Tage-Woche durchaus als gute Option (auch in der Bauwirtschaft). „Es geht um die Verteilung einer auf 32 Stunden verkürzten Vollzeit auf vier Tage. Bei gleichbleibender Wochenarbeitszeit von 40 Stunden hingegen können vier Tage aufgrund der langen 10-Stunden-Tagesarbeitszeit negative Effekte haben.“

Einen ähnlichen Vorschlag wie das Solidaritätsprämienmodell gibt es beispielsweise von der Gewerkschaft GPA. Eine freiwillige Arbeitszeitverkürzung soll zu mehr Einstellungen in Unternehmen führen. Das „90 für 80“-Modell sieht vor, dass man die Arbeitszeit von 100 auf 80 Prozent reduziert, während der Verdienst aber nur von 100 auf 90 Prozent sinkt.

Arbeitsrechtsexperte Müller sieht Modelle wie dieses eher als Möglichkeit, Arbeitsplätze zu sichern, als neue zu schaffen: „Auch im Dienstleistungsbereich ist die Automatisierung schon weit fortgeschritten, und dadurch braucht man zukünftig weniger Personal. Daher könnte man das Personal kürzer arbeiten lassen, ohne Menschen zu kündigen. Die negativen Auswirkungen also kompensieren.“

Eine weitere Chance auf mehr Freizeit wäre die sechste Urlaubswoche für alle, wie sie der ÖGB schon lange fordert. Seit 1986 ist der Anspruch auf Urlaub nicht mehr erhöht worden. Besonders durch die steigende Belastung am Arbeitsplatz wäre das notwendig. Einen Anspruch haben aktuell nur Menschen, die 25 Jahre durchgehend im selben Unternehmen gearbeitet haben. In der heutigen Arbeitswelt, in der man deutlich öfter den Betrieb wechselt als früher, ist es daher kaum mehr möglich, diese Zeit zu erreichen.

400 Mitarbeiter*innen bei Borealis nutzen das Modell der Fünfer-Schicht. Die Zufriedenheitswerte seien sehr hoch, berichtet Betriebsrat Kempinger, „und die jungen Kolleg*innen sind auch gar nicht mehr bereit, eine Vierer-Schicht zu akzeptieren“.

Fünfer-Schicht

Auf individueller Ebene bemühen sich Unternehmen, ihren Mitarbeiter*innen kürzere Arbeitszeiten und mehr Freizeit anzubieten. In Linz ist das beispielsweise der Kunststoffhersteller Borealis. Seit vielen Jahren gibt es dort ein Fünfer-Schichtmodell, bei dem 34,4 statt 38,5 Stunden Wochenarbeitszeit Standard sind. Alles, was über die 34,4 Stunden hinausgeht, wird als Überstunde gerechnet. Fünfer-Schicht bedeutet, dass man die Arbeit auf fünf Gruppen aufteilt und somit pro Person weniger Arbeit anfällt.

„Wir haben am 1. Jänner 2002 das Pilotprojekt Fünfer-Schicht gestartet und wollten es erst ein Jahr testen, um dann Erkenntnisse darüber zu haben, ob es funktioniert und auch von den Mitarbeiter*innen angenommen wird. Wir waren in Österreich das erste Unternehmen, das so eine Fünfer-Schicht eingeführt hat“, sagt Borealis-Betriebsrat Christian Kempinger

„Ausschlaggebend war damals auch Rudolf Karazman.“ Karazman ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Uni-Lektor und Gründer der Innovativen Betrieblichen Gesundheitsmanagement GmbH (IBG). Er ist Spezialist im Bereich des Human Quality Managements.

Das kam so: Mit dem alten Schichtmodell war es für die Borealis schwer, als attraktiver Arbeitgeber für jüngere Menschen aufzutreten. Gleichzeitig erhöhten sich bei älteren Mitarbeiter*innen gesundheitliche Probleme. „Studien zeigen, dass bei langjährigen Schichtarbeitskräften die Lebenszeit um acht Jahre reduziert wird. Wir im Unternehmen sehen regelmäßig, dass bei Kolleg*innen ab 50 vermehrt Schlafprobleme auftreten. Herz-Kreislauf-Probleme häufen sich ebenfalls, und Probleme mit der Verdauung sind keine Seltenheit“, sagt Kempinger. Durch die Beratung von Arzt Karazman habe sich dann einiges geändert, und man sei auf eine Fünfer-Schicht umgestiegen. „Fast die komplette Industrie in Österreich setzt mittlerweile drauf“, so Kempinger.

Auf lange Sicht

Der Anfang war aber nicht leicht. Der Betriebsrat sei beschimpft und sogar sein Auto zerkratzt worden, da einige Leute zuerst vermuteten, so zu Teilzeitkräften degradiert zu werden. „Durch die Aliquotierung des Verdienstes war es zu Beginn schwierig, unsere Mitarbeiter*innen vom Modell zu überzeugen“, sagt Kempinger. Doch jetzt seien die Zufriedenheitswerte sehr hoch und die jungen Kolleg*innen auch gar nicht mehr bereit, eine Vierer-Schicht zu akzeptieren.

400 Mitarbeiter*innen nutzen das Modell, bei dem Vorwärtsrotation das Rezept ist. „Es gibt Früh-, Mittags- und Nachtschichten. Vor der Umstellung haben wir zwei freie Tage gehabt, jetzt immer mindestens drei Tage. Dazu kommen lange zusammenhängende Wochenenden. Entweder von Donnerstag bis Sonntag oder von Samstag bis Dienstag. Je nachdem, wie der Schichtplan für die jeweilige Person ist.“ Vorteile gibt es viele. So sei auch die Krankenstandsrate zurückgegangen, und wichtige Mitarbeiter*innen in ihren 50ern werden länger im Betrieb gehalten. „Weil die Lebensqualität eine deutlich höhere als zuvor ist“, schließt Kempinger.

Drei Fragen zum Thema

an Bettina Csoka, Arbeiterkammer Oberösterreich

Ist ein Versuch wie in Island auch in Österreich vorstellbar?

Eine generelle Arbeitszeitverkürzung bremst die Arbeitslosigkeit und hat durch die höhere gesamtwirtschaftliche Produktivität hohe Selbstfinanzierungseffekte. Das zeigt der Versuch in Island mit seiner Reduktion der Wochen-Vollarbeitszeit. Das, was in Island geschafft wurde, ist natürlich auch in Österreich möglich. Der öffentliche Dienst kann hier Vorreiter sein. Insbesondere im Gesundheitswesen mit häufig langen Arbeitstagen haben wir Bedarf für eine bessere Work-Life-Balance.

Sehen Sie die Gefahr, dass manche Unternehmen die 4-Tage-Woche zum Anlass nehmen könnten, um den Beschäftigten in der verkürzten Arbeitszeit trotzdem dasselbe Arbeitspensum abzuverlangen? Wie kann das überwacht werden?

Generell dürfen Arbeitszeiten nicht länger einseitig an den Markt- und Rendite-Anforderungen der Unternehmen ausgerichtet sein. Es geht gewissermaßen um eine Demokratisierung ökonomischer Fragen der Arbeit, um eine Definitionsmacht über den Arbeitstag. Gewerkschaften und Betriebsräten muss mehr Gestaltungsmacht bei den Prozessen von Zieldefinitionen, der Personalbemessung oder der Bereitstellung von Ressourcen zukommen. Denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.

Wie finden Sie individuelle Arbeitszeitverkürzungsmodelle wie beispielsweise das von Borealis?

Die größte Wirkung können wir in einer Kombination aus individuellen und betrieblichen Modellen, Branchenlösungen und branchenübergreifenden Arbeitszeitstandards erwirken, damit eine kurze Vollzeit für alle möglich wird. Mit dem aktuellen Konjunkturaufschwung sind die Bedingungen günstig, sowohl was die Verteilungs- und Arbeitsmarktmacht der Gewerkschaften anlangt als auch die potenzielle Wirksamkeit von Arbeitszeitverkürzung auf Lebensqualität, Gesundheit, Produktivität und Beschäftigung.

Über den/die Autor:in

Stefan Mayer

Stefan Mayer arbeitete viele Jahre in der Privatwirtschaft, ehe er mit Anfang 30 Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren begann. Er schreibt für unterschiedliche Publikationen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Sport.

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