Rund 1,5 Millionen Menschen gelten in Österreich als arm oder ausgrenzungsgefährdet. Das entspricht 17,5 Prozent der Gesamtbevölkerung oder knapp jeder sechsten Person. Der Wert ist deutlich geringer als in anderen europäischen Ländern. Das liegt unter anderem an den guten Sozialleistungen in Österreich – sie reduzieren die Zahl der armutsgefährdeten Erwachsenen um fast 40 Prozent. Die wichtigsten sozialen Auffangnetze sind das Erwerbsarbeitslosengeld, die Mindestsicherung/Sozialhilfe und die Ausgleichszulage für Mindestpensionist:innen. Trotz dieser Sozialleistungen leben viele Haushalte unter der Armutsgefährdungsschwelle von aktuell 1.328 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt oder 1.992 Euro für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen. Bemessen werden die Zahlen von EU-SILC, den European Union Statistics on Income and Living Conditions. Viele Indikatoren sprechen dafür, dass die Zahl Armutsbetroffener durch die Pandemie zugenommen hat.
Armutsgefährdung: Die „neuen“ Arbeitslosen
Ein wichtiger Indikator in der Armutsforschung und damit für die Armutsgefährdung ist die Erwerbsintensität, also wie viele Stunden ein Haushalt innerhalb eines Jahres arbeitet. Durch die Rekordarbeitslosigkeit im ersten Pandemiejahr ist die Erwerbsintensität vieler Haushalte massiv eingebrochen. Gekündigt worden sind zunächst vor allem Menschen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. „Es hat also jene getroffen, die schon davor weniger Einkommen hatten“, so die Armutsforscherin Karin Heitzmann von der Wirtschaftsuniversität Wien.
Die Armutskonferenz hat während der Lockdowns zwei Studien im Auftrag des Sozialministeriums über die Auswirkungen von Corona auf Armutsbetroffene durchgeführt. Dabei haben sich zwei Gruppen von „neuen“ Arbeitslosen seit der Pandemie herauskristallisiert: Jene, die zuvor gut verdient haben und ausreichend Ersparnisse hatten, konnten die plötzliche Arbeitslosigkeit gut wegstecken. Jene hingegen, die davor in prekären Dienstverhältnissen mit geringem Einkommen gearbeitet haben und nicht auf Erspartes zurückgreifen konnten, hat die Arbeitslosigkeit hart getroffen. Viele davon sind in die Armut gerutscht, weil das Arbeitslosengeld nicht zum Leben reicht.
Beengter Wohnraum, teures Wohnen
Neben Arbeitslosigkeit ist Wohnen vermehrt zum Thema für einkommensschwache Menschen geworden – keinen leistbaren Wohnraum zu finden oder ausziehen zu müssen, weil die Wohnung nicht mehr finanzierbar ist. „Für Familien, die auf engem Wohnraum leben, ist die Wohnsituation während der Lockdowns zum Albtraum geworden. Da hat es extrem viel gekracht“, weiß Martin Schenk aus den vermehrten Anrufen bei der Armutskonferenz. Für Kinder und Jugendliche, die keinen Raum zum Lernen haben oder den Laptop mit den Geschwistern teilen mussten, hat Distance Learning schlecht funktioniert. „Und auch das zeigen die Ergebnisse der Befragung: Jugendliche aus einkommensschwachen Familien berichten häufiger von Schulabbrüchen, dass sie beim Homeschooling nicht mitkommen oder die Lehre geschmissen haben“, so Schenk. Erschwerend kommt hinzu, dass das politische Interesse von Jugendlichen, die ökonomisch weniger gut gestellt sind, schwindet.
Weniger Einkommen, höhere Ausgaben
Wenn wir von Armutsgefährdung sprechen, meint das: Welches Einkommen hat ein Haushalt überhaupt? Die Ausgaben eines Haushalts werden nicht berücksichtigt. „Das ist ein großes Manko“, so Heitzmann. In der Diskussion um die Reform des Arbeitslosengelds müsse man auch die Ausgaben heranziehen und sich anschauen: Kann ich mir mit dem Geld, das ich erhalte, mein Leben leisten? Für viele reicht das Arbeitslosengeld nicht. Die Nettoersatzrate liegt mit 55 Prozent weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder von 74 Prozent. „Anfangs haben Arbeitslose noch Ersparnisse, auf die sie zurückgreifen können. Irgendwann sind die aufgebraucht, und dann wird’s finanziell eng.
Erst recht, wenn die Preise so steigen wie jetzt“, so Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien. Die Wohnkosten sind in den letzten Jahren dramatisch gestiegen – der Hauptmietzins um 15 Prozent zwischen 2016 und 2020. Aber auch die Lebensmittelpreise und die Energiekosten schießen in die Höhe. Ehrenamtliche Mitarbeiter:innen der Wiener Tafel sind mittlerweile dringend nötig, um die Auswirkungen zu mildern. Die meisten Sozialleistungen wie Familienzuschläge oder die Sozialhilfe sind hingegen seit 20 Jahren nicht an die Inflation angepasst worden. Problematisch sei laut Heitzmann aber nicht nur Einkommensarmut, sondern auch Deprivation. Das bedeutet, sich verschiedene Ausgaben, die Menschen als wünschenswert oder lebensnotwendig erachten, nicht mehr leisten zu können. Die Preissteigerungen spielen hierbei eine Rolle, aber nicht die einzige. Vor allem gehe es um Sicherheit: Werde ich im nächsten halben Jahr noch meine Arbeit haben? Heitzmann geht davon aus, dass die Deprivation seit der Pandemie deutlich zugenommen hat.
Erste Hilfen gegen Armutsgefährdung: zu wenig, zu kurz
Dabei ist während der Pandemie auch viel Sinnvolles passiert, um Menschen vor Armut zu schützen. Die Regierung hat etwa die Notstandshilfe (befristet) angehoben, Arbeitslosen eine Einmalzahlung ausbezahlt oder die Ausgleichszulage erhöht. Wenn auch mit einem großen Aber: Für das untere Einkommensdrittel seien diese Hilfen zu wenig und von zu kurzer Dauer gewesen, kritisiert Pirklbauer. Ein Tropfen auf dem heißen Stein also. Der Familienhärtefonds habe lange nicht funktioniert und galt nur für drei Monate, obwohl die Krise viel länger gedauert hat.
Ist bei Alleinerziehenden der andere Elternteil arbeitslos geworden, bestand überhaupt kein Anspruch auf den Familienhärtefonds, da die arbeitslose Person nicht mit den Kindern im gemeinsamen Haushalt lebt. Bis heute wurde dieses Defizit nicht saniert. Einmalzahlungen beim Arbeitslosengeld seien zwar besser als nichts, aber eben nicht nachhaltig. Auch Stundungen bei Mieten und Ratenzahlungen waren eine schnelle Hilfe, die nun aber zum Problem wird. Stundungen addieren sich, und plötzlich wird ein Betrag fällig, der einer Jahresmiete entsprechen kann.
Armutsfaktor: alleinerziehend
Eine große Gruppe unter Armutsbetroffenen oder Armutsgefährdeten sind Alleinerziehende. Sie haben unter der Schließung von Schulen und Kindergärten besonders gelitten. Oftmals sind es Frauen, die in systemerhaltenden Berufen arbeiten, etwa in der Pflege, im Gesundheitsbereich oder im Handel. Sie mussten plötzlich Lösungen finden für das Problem, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Im schlimmsten Fall hat das zu Arbeitslosigkeit geführt, so Pirklbauer. Eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien zeigt, dass sich die Gründe für Armut von Alleinerziehenden im Zeitraum zwischen 2008 und 2019 kaum verändert haben. Es ist eine Kombination der Faktoren Erwerbsstatus, Anzahl der Kinder sowie das Alter des jüngsten Kindes im Haushalt. „Auffällig ist jedoch“, so die Studienautorin Heitzmann, „dass Herkunft eine viel stärkere Rolle spielt als noch 2008. Nicht-Österreicher:innen: innen haben ein deutlich höheres Armutsrisiko, der Anteil an Personen mit migrantischem Hintergrund hat bei Alleinerziehenden enorm zugenommen.“
Die Zahl der Erwerbsarbeitslosen ist fast wieder auf Vorkrisenniveau zurückgegangen, und für einige ist auch das Ende der Pandemie schon absehbar. Martin Schenk warnt aber vor voreiliger Euphorie: „Wenn alle glauben, die Pandemie ist vorbei, ist es im Sozialbereich längst nicht vorbei.“ Soziale Verwerfungen treten zeitverzögert auf. Auch nach der Finanzkrise 2008 ist die Armutsgefährdung später angestiegen. So war etwa Wohnungslosigkeit erst 2013 als Folge der Krise spürbar, unter anderem, weil Staaten nach Krisen Sparpakete schnüren, die oft mit Einschnitten im Sozial- und Gesundheitsbereich einhergehen. „Unsere Aufgabe wird es sein, eine postpandemische Strategie zu entwickeln, um ein verzögertes Abrutschen in Armut zu vermeiden“, so Schenk.
Geld allein löst
das Armutsproblem nicht,
lindert es aber.
Regierung will Armut halbieren
Im Regierungsprogramm ist das Ziel definiert, Armutsgefährdung um 50 Prozent zu reduzieren. Das sei eine wichtige Vision, meint Heitzmann. Bisher sei, auch pandemiebedingt, jedoch wenig geschehen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Abschaffung der Mindestsicherung und die Wiedereinführung der Sozialhilfe im Jahr 2019 hatten bereits massive Einschnitte im unteren sozialen Netz zur Folge, etwa Kürzungen im Bereich Wohnen, für Familien oder Menschen mit Behinderungen.
„Armut ist ein komplexes Phänomen. Man muss mehrere Schienen legen, damit Menschen erst gar nicht in die Situation von Armut kommen und sie auch nicht weitervererben“, meint Pirklbauer. „Denn wer sich keine Winterkleidung kaufen kann, wird sich nicht über Schulaufgaben der Kinder den Kopf zerbrechen.“ Geld allein löst das Armutsproblem nicht, lindert es aber. Wichtig seien Chancengerechtigkeit in der Bildung, damit Armut nicht vererbt wird, ein Rechtsanspruch auf einen hochqualitativen Kindergartenplatz, damit Eltern die Möglichkeit haben, voll arbeiten zu gehen, eine Ganztagesschule, in der Kinder gefördert werden, auch wenn Eltern sich keine Nachhilfe leisten können, ausreichend therapeutische Angebote, vor allem für Kinder und Jugendliche.
Wie verringert Österreich die Armutsgefährdung?
Oder am Beispiel Energiearmut: Die steigenden Preise machen einerseits eine rasche finanzielle Unterstützung dringlich, um nicht zwischen Essenkaufen oder dem Heizen der Wohnung entscheiden zu müssen. Genauso müssen andererseits Gebäude saniert und umgerüstet werden, damit alle Zugang zu energiefreundlichen Wohnungen haben, nicht nur jene, die es sich leisten können.Was keinesfalls passieren darf, da sind sich Schenk, Heitzmann und Pirklbauer einig, sind Einschnitte im Sozialbereich und eine Senkung des Arbeitslosengeldes. Das würde die Armutsgefährdung verschärfen. Konzepte, um die Armut in Österreich einzudämmen, haben die Arbeiterkammer, Armutsforscher:innen und soziale Organisationen längst ausgearbeitet. Karin Heitzmann wird daher nicht müde zu betonen: „Wir müssen uns nichts Neues einfallen lassen. Wir kennen längst Wege aus der Armut, wir müssen sie nur gehen!“
„Je mehr ich Arbeitssuchende von oben herab behandle oder unter Druck setze, desto passiver werden die Menschen", erzählt Wolfgang Schmidt vom Verein AMSEL. Er fordert ein höheres #Arbeitslosengeld und Mitbestimmungsmöglichkeiten für Arbeitssuchende. https://t.co/zoKeKy5aur pic.twitter.com/RaaGa30up1
— Gewerkschaft GPA (@GewerkschaftGPA) May 5, 2022
Drei Fragen zum Thema
an Wolfgang Schmidt, der 2006 den Verein AMSEL – Arbeitslose Menschen suchen effektive Lösungen – in der Steiermark mitgegründet hat. Von Armut und existenziellem Druck und Armutsgefährdung durch keine oder zu wenig bezahlte Arbeit weiß die AMSEL ein Lied zu singen.
1 / Warum ein Verein von Arbeitslosen für Arbeitslose?
Das Sozialrecht ist so kompliziert, dass ich, obwohl ich Jus studiert habe, bei Weitem nicht alles weiß. Dieses Ausgeliefertsein von arbeitslosen Menschen hat mich dazu veranlasst, aktiv zu werden und AMSEL mitzugründen. Wir sind selbst Arbeitslose und wollen aus dieser Erfahrung heraus besser Informationen austauschen. Das könnte eine behördenabhängige Organisation niemals leisten, weil ihnen die Erfahrung von Arbeitslosigkeit ebenso wie die Vertraulichkeit fehlt.
2 / Wofür tritt AMSEL ein?
Wir wollen mitbestimmen, wenn es um unsere Lebenssituation geht. Mitsprache ist ein wichtiger Prozess demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung. Wir sind 400.000 Betroffene und haben keine echte Vertretung. Warum nicht eine eigene Interessenvertretung für Arbeitslose? Wir möchten unser Wissen und unsere Erfahrungen als Arbeitslose in die Gesellschaft bringen: an die Sozialpartner, die Medien – und die Politik, die den Umgang mit uns Arbeitslosen regelt und zu verantworten hat.
3 / Welche Verbesserungen wünschen Sie sich noch für Arbeitslose?
Zuverdienstgrenzen, geringes Arbeitslosengeld und Zumutbarkeitsregeln bringen keine Vorteile. Wir fordern Verbesserungen für Arbeitslose, nicht um die sogenannte Hängematte weicher zu machen, sondern weil es auch für die bestehende Wirtschaftsordnung besser wäre, Menschen nicht in Existenznot zu treiben. Um bezahlte Arbeit zu finden, brauchen wir mehr Spielraum – und mehr Kaufkraft würde ja schließlich volkswirtschaftlich auch nicht schaden. Das beginnt bei einem höheren Arbeitslosengeld, daher machen wir auch mit beim Volksbegehren „Arbeitslosengeld rauf!“.