Doch dann kam die Corona-Krise. Und das verschiebt auch die Armutszahlen. Wie weit, das kann man indes nur ahnen. Seit den Ausgangsbeschränkungen haben bereits mehr als 170.000 Menschen ihren Job verloren. Viele Ein-Personen-Unternehmen bangen um ihre Existenz. Das ist das eine. Das andere: Die, die schon vor der Krise als „Working Poor“ galten, das heißt, denen das Geld trotz Arbeit nicht zum Leben reicht, wurden just umgetauft: „Systemrelevant“ sagt man jetzt. Diese Gruppe ist häufig auch noch mehrfach belastet, zum Beispiel durch Pflege oder Kinderbetreuung. Besonders armutsgefährdet sind nämlich – und das war auch schon vor Corona so – in Österreich einerseits Frauen (vor allem Alleinerziehende und Pensionistinnen – ja, „mit kleinem i!“, wie Michaela Moser von der Armutskonferenz betont) sowie Kinder und Langzeitarbeitslose.
Mangel an sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe
Armut in Österreich bedeutet aber nicht nur finanzielle Knappheit und lässt sich nur bedingt numerisch fassen, sie geht auch mit einem Mangel an sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe einher, mit Isolation, mit Scham, psychischer Belastung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Die Armutskonferenz definiert, so Moser, „Armut als einen Mangel an Möglichkeiten bzw. Verwirklichungschancen“. Dieser Zugang wird auch als „Capability Approach“, oder zu deutsch „Befähigungsansatz“, bezeichnet. Er wurde von den Philosophinnen Martha Nussbaum und Amartya Sen in den frühen 1980er-Jahren entwickelt und beschreibt Armut nicht als einen Mangel an Geld, sondern als einen Mangel an Möglichkeiten, das eigene Leben zufriedenstellend oder erfüllend zu gestalten. „Es geht letztlich immer darum, was Menschen tun und sein können. Dafür spielt natürlich, was sie „haben“, eine große Rolle, aber auch die zur Verfügung stehende soziale Infrastruktur – also Bildung, Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Mobilität, Beratungsangebote etc. – und Möglichkeiten am Arbeitsmarkt“, so Moser.
Es geht letztlich immer darum, was Menschen tun und sein können. Dafür spielt natürlich, was sie „haben“, eine große Rolle, aber auch die zur Verfügung stehende soziale Infrastruktur – also Bildung, Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Mobilität, Beratungsangebote etc. – und Möglichkeiten am Arbeitsmarkt.
Michaela Moser, Armutskonferenz
Armut isoliert, weil sie die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen, aber auch zur politischen Teilhabe reduziert. Daniela Brodesser ist Lektorin und hostet gemeinsam mit Historikerin Kathrin Quatember den Podcast „Bitte stören“, welcher sich mit Armut und Beschämung beschäftigt. Dabei ist auch sie selbst armutsgefährdet und berichtet: „Auch Teilhabe an demokratiepolitischen Prozessen wird schwieriger, je ärmer man ist.“
Täglicher Existenzkampf
Der tägliche Existenzkampf, so Brodesser, sei besonders belastend und lasse oft nur wenig Energie für anderes: „Armut bedeutet vor allem, täglich Angst zu haben, was der nächste Tag bringt.“ Von der Stromrechnung über die defekte Waschmaschine bis hin zum Schulausflug des Kindes können für Armutsbetroffene viele unvorhergesehene Ereignisse zur nicht mehr stemmbaren Belastung werden. „Arm sein bedeutet, nachts nicht schlafen zu können, weil man nicht weiß, wie und wo man einsparen könnte, um den nächsten Schulausflug zu bezahlen“, so Brodesser. Dadurch, dass die Betroffenen meist versuchen, Beschämungen zu vermeiden, erfahren sie starke soziale Einschränkungen: „Das alles macht krank. Psychisch und physisch.“
Armut bedeutet vor allem, täglich Angst zu haben, was der nächste Tag bringt.
Daniela Brodesser, Lektorin und Aktivistin
Der „Gender-Gesundheitsbericht“ mit dem Schwerpunkt „Psychische Gesundheit“ zeigt: Arme sowie armutsgefährdete Menschen sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen. Hier werden folgende sozioökonomische Bedingungen als Risikofaktoren in Bezug auf Depression und Suizid genannt: „geringes Einkommen, geringe formale Bildung, Armut und Armutsgefährdung sowie generell geringer Sozialstatus“, „Arbeitslosigkeit“, „drohender Arbeitsplatzverlust“, „(Mehrfach-)Belastungen durch Beruf und Familie“ sowie „(Mehrfach-)Belastungen durch atypische und prekäre Beschäftigungen“. Beinahe alle diese Faktoren – Arbeitslosigkeit ausgenommen – betreffen dabei Frauen häufiger als Männer. Dies bedeutet in Bezug auf psychische Erkrankungen laut dem Report Folgendes: „Aus der Gender-Perspektive sind Frauen aufgrund der stärkeren Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung einem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt als Männer.“
Michaela Moser ergänzt, dass die Staffelung von Sozialleistungen (wie beispielsweise Pensionen) nach Einkommen ein großes Problem darstellt: „Diskriminierungen am Arbeitsmarkt […] setzen sich so fort.“ Das, so Moser, trifft auch auf alle zu, „die aus Krankheitsgründen nicht mehr – oder nur eingeschränkt – am Arbeitsmarkt Geld verdienen können.“
Armut macht krank
Armut macht krank, Krankheit macht erwerbsarbeitslos, Erwerbsarbeitslosigkeit macht noch ärmer, größere Armut macht kränker und schreibt sich durch die Knüpfung des Einkommens an Sozialleistungen auch bis ins Alter fort.
Armut macht krank, Krankheit macht erwerbsarbeitslos, Erwerbsarbeitslosigkeit macht noch ärmer, größere Armut macht kränker und schreibt sich durch die Knüpfung des Einkommens an Sozialleistungen auch bis ins Alter fort.
Was heißt das nun für die Corona-Krise? Arme Menschen könnten noch benachteiligter sein als schon zuvor. Doch die, die jetzt „das System erhalten“ mit ihren oft so prekär bezahlten Jobs, dürfen am Ende nicht die sein, die die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise mit Kürzungen direkt oder indirekt zurückzahlen müssen. Ihnen dürfen dann nicht auch noch die Krisenkosten aufgebürdet werden. Wenn sich die Frage nach einer gerechten Remuneration stellt – und dieser Tag wird kommen – sollte sich die Politik daran erinnern.