Wozu noch Gewerkschaften?

Oskar Negt nennt seine knapp 145 Seiten umfassende Publikation eine »Streitschrift« und führt im Vorwort unter anderem aus:

»Die Themen, die ich darin abhandle, berühren Gedanken, Interessen und Traumphantasien von Menschen, die selbst bei hinreichender materieller Ausstattung das Gefühl haben, auf der Schattenseite des Lebens zu stehen und der kollektiven Hilfe zu bedürfen, um sich als menschliche Lebewesen in einer von Gewinnern geprägten Gesellschaftsordnung aufrechten Ganges zu bewegen.

Obwohl ich seit Jahrzehnten den Gewerkschaften in kritischer Solidarität verbunden bin und deshalb immer auch zu öffentlichen Vorträgen und Beratungsgesprächen eingeladen wurde, war es für mich doch eine verblüffende Erfahrung, innerhalb kurzer Zeit viele Einladungen zu erhalten, die das gewerkschaftliche Selbstverständnis zum Thema haben sollten …

Wozu noch Gewerkschaften? – das war ein Grundtenor von Besorgnis in allen diesen Einladungen. Meine Reden sollten den verunsicherten Gewerkschaftsmitgliedern ein historisches Profil vermitteln, dem Gewerkschaftsgedanken wieder Gültigkeit und Fundament verschaffen.

Die gewerkschaftliche Orientierungskrise, die von den Vorständen der nach wie vor mächtigen Organisationen öffentlich kaum eingestanden wird, weil sich die medialen Mächte sofort darauf stürzen würden, hat an der Basis eine lebendige und höchst phantasievolle Auseinandersetzung mit der Realität erzeugt. Den Weg ins 21. Jahrhundert kann niemand mit klaren Richtungsstrategien vorgeben, aber gewerkschaftliche Organisationsformen in der gegenwärtigen Situation des Kapitalismus einfach zu verabschieden, weil viele zur Zeit nicht recht wissen, welche Politik zukunftsträchtig ist, wäre keine Kleinigkeit, sondern ein zentraler Bruch im Demokratieverständnis der westlichen Welt.«

Alles in allem eine Publikation, die jeder überzeugte Gewerkschafter am Nachttisch liegen haben sollte.

Auszug aus dem Buch von Oskar Negt »Wozu noch Gewerkschaften?« – Imperative gewerkschaftlichen Handelns:
Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität, Gemeinwesen

Gäbe es so etwas wie einen Hippokratischen Eid für einen Gewerkschafter, der Handlungsanforderungen in der Tradition der Gewerkschaftsbewegung definiert, dann müßte er sich auf vier Ideen stützen, die gleichzeitig kritische Untersuchungsfelder und Verpflichtungen zum Handeln bezeichnen. Verantwortung im geschichtlich geprägten Sinne des Gewerkschaftsgedankens setzt unabdingbar Begriffe von Gerechtigkeit, von Gleichheit, von Solidarität und Gemeinwesen voraus. Damit ist nicht gesagt, dass diese normativ zugespitzten Begriffe in anderen gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen keine Rolle spielen; betrachtet man aber ihre historische Prägung, ist unschwer zu erkennen, dass sie in ihrer Substanz den Anerkennungskampf arbeitender Menschen im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung im Vergleich zu anderen kollektiven Organisationsformen, wie zum Beispiel Interessenverbänden, staatlichen Einrichtungen oder Parteien, in besonderer Weise kennzeichnen.

Politisch bewusste Gewerkschaften

Befragt nach seinem beruflichen Selbstverständnis, würde dem politisch bewussten Gewerkschafter sofort einfallen, worin die Schwergewichte seiner Arbeit liegen und was den Umkreis seiner Verantwortung ausmacht. Auch wenn solchen Definitionsversuchen einer Berufsethik stets ein Moment von Selbstidealisierung anhaftet, ist es im Interesse der Erweiterung der Gemeinwesenarbeit nicht überflüssig, die regulativen Ideen einzelner Handlungsfelder näher zu bestimmen. Denn die Flucht in das Unvermeidliche beliebiger Sachgesetze eröffnet allen Funktionären attraktive und gerne genutzte Möglichkeiten, der Frage »Was soll ich tun?« auszuweichen.

Lebendige Arbeit bedarf, wie ich in vorherigen Argumentationsstufen gezeigt habe, des ausdrücklichen Schutzes gegenüber der in mannigfachen Formen vergegenständlichten toten Arbeit. Gewerkschaftliches Handeln hat sich also darauf zu richten, die objektiven Verhältnisse umzugestalten, damit ein Leben in Würde möglich ist. Gemäß dem an Marx formulierten kategorischen Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerten, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, steht die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft in ihren jeweiligen Macht- und Herrschaftsstrukturen im Mittelpunkt der Gewerkschaftspolitik. Verweigerung oder Einschränkungen der Verfügungsmacht anderer über lebendige Arbeit ist daher die Grundlage jenes kollektiven Kampfes, in dem mit der Herstellung von gerechten, möglichst gleichen und solidarischen Verhältnissen Existenzängste der Menschen verringert werden und damit ein Beitrag zur inneren Stabilität und zum Wohlergehen des Gemeinwesens geleistet wird.

Gerechtigkeitsformen

Über Gerechtigkeitsformen ist nachgedacht worden, seit Gemeinschaften und Gesellschaften imstande waren, ein Mehrprodukt zu erzeugen, über dessen Verteilungsregeln kollektiv Entscheidungen getroffen werden mussten. Wegen des Anteils, den das Gemeinwesen dabei beanspruchen konnte bzw. was sich die einzelnen Klassen und Schichten anzurechnen legitimiert waren, sind Kriege und innergesellschaftliche Kämpfe geführt worden. Aristoteles ist der erste europäische Philosoph, der eine empirisch vergleichende Gerechtigkeitslehre entwickelt hat. Es würde in meinem Zusammenhang zu weit führen, die Unterschiede zwischen kommutativer Gerechtigkeit und distributiver Gerechtigkeit, wie Aristoteles sie beschreibt, im Einzelnen zu erörtern. Was ich in Bezug auf den Reichtum und die Frage nach der Wesensmitte erläutere, ist für Aristoteles auch im Zusammenhang von Aneignungs- und Verteilungsgerechtigkeit von größter Bedeutung. Angemessene Verteilung der Güter, der öffentlichen Ämter, der Gratifikationen für Leistungen der Bürger gehören zu den konstitutiven Elementen der Polis und sichern deren Haltbarkeit und Überlebensfähigkeit. Aber selbst in einer Gesellschaft, in der die Produktion der materiellen Lebensgrundlage den Sklaven und damit einer Klasse obliegt, die nicht geordneter Bestandteil des öffentlichen Raumes ist, spielt die Leistungsgerechtigkeit eine zentrale Rolle. Die individuellen Tugendanteile am Gemeinwesen sind schwer messbar, aber beträchtlich. Für Aristoteles ist das Ungerechte das, »was gegen die Proportion verstößt … Das also ist das Gerechte: das Proportionale. Und das Ungerechte ist der Verstoß gegen das Proportionale. (Das Proportionale aber ist ein Mittleres.) Daraus folgt, dass (bei der ungerechten Verteilung) ein Glied (der Proportion) ungebührlich vergrößert, das andere verkleinert wird. Und so ist es auch im wirklichen Leben. Denn wer Unrecht tut, bekommt zuviel, wer Unrecht erfährt, bekommt zuwenig von dem in Frage stehenden Gut.« (»Nikomachische Ethik«)

Gerechtigkeit und Gleichheit

Jürgen Ritsert verweist in seinem Buch »Gerechtigkeit und Gleichheit« darauf, dass bereits bei Aristoteles die Gerechtigkeitsidee in ihren vielfältigen Ausprägungen mit der Gleichheitsvorstellung verkoppelt ist, auch wenn hier Gleichheit vor allem die Verteilung der Güter unter den Freien des Stadtstaates bezeichnet. »Wir unterscheiden«, sagt Aristoteles, »beim Ungerechten Verletzung des Gesetzes und Verletzung der Gleichheit und beim Gerechten die Achtung vor dem Gesetz und die Achtung der Gleichheit … Verletzung der Gleichheit und Verletzung des Gesetzes (sind) nicht identisch …, sondern verhalten sich zueinander wie der Teil zum Ganzen – jede Verletzung der Gleichheit ist nämlich eine Verletzung des Gesetzes, aber nicht jede Verletzung des Gesetzes ist eine Verletzung der Gleichheit …« Die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit betrifft also sowohl die Verteilung der Güter als auch die Teilnahme des freien Bürgers an der Mitgestaltung des Gemeinwesens.

Formel für das gute Leben

In dem Maße nun, wie die Arbeit ins Zentrum der politischen Ökonomie als der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft dringt, wird sie zur Schlüsselkategorie der Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen. Fragen nach der Äquivalenz, dem Proportionalen, von Verausgabung lebendiger Arbeit und dem Maß, in dem sie entlohnt wird, werden zum Antriebsmotiv für die Lösung dessen, was unter der sozialen Frage verstanden wird. Unter der normativen Schicht der bereits im römischen Recht ausgebildeten Formel für das gute Leben – Suum cuique! (Jedem das Seine); Neminem laede! (Verletze niemanden); Honeste vive! (Lebe ehrenhaft) – werden immer deutlicher die Lebensbedingungen sichtbar gemacht, auf deren widerständige Blöcke diese Verhaltensanforderungen stoßen und sie häufig genug zu bloßen Abstraktionen machen. Es ist das im verallgemeinerten Äquivalententausch enthaltende Nicht-Äquivalent, das die soziale Frage motiviert und die Kämpfe mitbestimmt, die um den gerechten Anteil am eigenproduzierten Wohlstand und Gemeinwesen geführt werden.

Wie verwickelt die Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit werden, wenn nicht mehr allein gegebene Besitzstände oder die Verteilung vorhandener Güter Gegenstand der Reflexionen sind, sondern der Produktionsprozess, die Verausgabung lebendiger Arbeitskraft normative Bedeutung gewinnt, hat bereits Marx differenziert auseinandergelegt. Er kritisiert die Gerechtigkeitsvorstellungen der Lassalleander, die für die Arbeiterschaft den »unverkürzten Arbeitsertrag« fordern, weil dadurch die mannigfachen Abzüge für das Gemeinwesen verschwinden. Aber selbst wenn man annimmt, dass lebendige Arbeit die Substanz der Wertschöpfung und des Mehrwertes ist, gibt es nur unbefriedigende Lösungen der Gerechtigkeitsfrage, solange das Proportionale in dem Quantum verausgabter Arbeitskraft begründet wird. Wirkliche soziale Gerechtigkeit ist etwas anderes und wohl auch mehr als die Durchsetzung des Gleichheitsprinzips, nämlich eine Zielvorstellung, bei der die Differenzierung der Lebenslagen und der natürlichen Voraussetzungen der Menschen in den gesellschaftlichen Umwandlungsprozess miteinbezogen wird. »Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, dass man an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muss der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hört sie auf Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit.« (Marx, »Kritik des Gothaer Programms«)

Fähigkeiten und Bedürfnisse

So ist in die Gerechtigkeits- und Gleichheitsidee die gesamte Kulturentwicklung der Gesellschaft einzubeziehen; aber auch der Zustand des ökonomischen Mangels und des ökonomischen Reichtums, der den Horizont objektiver Veränderungsmöglichkeiten der Gesellschaft bezeichnet. Auf dem Wege zur Realisierung dieses Ziels verändert sich auch die Arbeit. »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« So steht es in der »Kritik des Gothaer Programms«. Mit der Veränderung von Funktionen und Inhalt der Arbeit, die Medium der Selbstverwirklichung wird, verändern sich auch die Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen. Sie verlieren nicht ihren universalistischen Geltungsanspruch, aber sie entfalten ihre eigentliche Kraft an den faktischen Zuständen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit und sind dadurch in kollektive Kampfsituationen einbezogen, in denen sich die dritte regulative Idee gewerkschaftlichen Handelns herausgebildet hat, nämlich Solidarität.

Horst-Eberhard Richter hat in seinem Standardwerk »Lernziel Solidarität« von der Notwendigkeit zur Entwicklung solidarischer Bindekräfte gesprochen. Die Bedeutung von Solidarität in einem umfassenden Sinne fächern Karl-Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger unter dem Titel »Solidarität in der modernen Gesellschaft« (Frankfurt am Main 1992) auf: »Wie ist sie entstanden, welche Bedingungen wirken auf sie ein und verwandeln sie, wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen, lässt sie sich zum Zwecke politischer Steuerung in Dienst nehmen? Kann Solidarität zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit mobilisiert werden? Schafft sich der Sozialstaat seine eigenen Solidaritätsprobleme? Zerbricht der Solidarvertrag der Generationen?« Solidarität gilt ihnen als Antwort auf soziale Probleme in Industriegesellschaften. Entgegen den Klagen über den Verlust von Solidarität vertreten sie die These, dass die Solidarität in modernen Gesellschaften weniger verfällt als vielmehr erschaffen wird.

Enzyklika Quadragesimo Anno

Solidarität beruht in erster Linie darauf, dass verschiedene Interessen gegenseitig geachtet und anerkannt werden, dass kein Konkurrenzkampf auf Leben und Tod abläuft. Solidarität hat immer damit zu tun, dass die aus Machtstrukturen und Wohlstandsbereichen Herausgefallenen – Arbeitslose, Obdachlose, Arme , dass alle diese Schichten, Gruppen und Einzelnen in die Fürsorge einer Gesellschaft mit aufgenommen sind. Solidarität ist etwas anderes als Nächstenliebe, wobei sich beides nicht ausschließt.

Da den Prinzipien von Gerechtigkeit und Gleichheit stets auch Kälteelemente anhaften, wurde immer versucht, den Kampf um ein besseres Leben und eine vernünftiger gestaltete Gesellschaft in eine Art Wärmestrom der Beziehungen einzubetten. Die Enzyklika »Quadragesimo Anno« von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1931 nimmt zwar eine ganze Reihe von Ideen aus der Arbeiterbewegung auf, macht soziale Gerechtigkeit zu einem regulativen Prinzip der Wirtschaft und fordert sogar, daß die »Organe des gesamten sozialen Lebens von dieser Gerechtigkeit durchsäuert werden sollen«, nimmt diesen gesellschaftlichen Gedanken von Gerechtigkeit aber sofort wieder zurück, indem er der sozialen Liebe untergeordnet wird: »Die Seele dieser Ordnung muss die soziale Liebe sein.«

Fairness

Aber nicht nur in den Sozialenzykliken der katholischen Kirche zerfasert sich der Begriff der Solidarität und wird in die Näheverhältnisse gedrängt. Auch für den gegenwärtig wohl bedeutendsten Theoretiker von Gerechtigkeit, John Rawls, der am klarsten die Äquivalenz-Prinzipien und das Fairnessgebot im Gerechtigkeitsbegriff zur Geltung bringt, ist Solidarität ein unbekannter Begriff, obwohl Rawls in der Sache, wenn er von Fairness und ausgleichender Gerechtigkeit spricht, den Normen solidarischen Verhaltens doch sehr nahe kommt. Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit formuliert Rawls so: »1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2.Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen und (b) sie mit Positionen und Ämtern verknüpft und verbunden sind, die jedem offenstehen.« (»Eine Theorie der Gerechtigkeit«, Frankfurt am Main 1975) Das kann für Gewerkschafter ein nützlicher Hinweis sein, dort, wo aufgrund der Macht- und Herrschaftsstrukturen Ungleichheiten unveränderlich sind, den am schlechtesten Ausgestatteten Vorteile zu verschaffen. Aber wie soll das ohne Solidarprinzip möglich sein? Wie sind Ungleichheiten in der Ausstattung von Lebensbedingungen überhaupt zugunsten der Unterprivilegierten zu nutzen, wenn nicht durch kollektive Solidaraktionen? Die moderne Gewerkschaftsidee ist unabtrennbar von dem, was solidarisches Handeln bezeichnet. Es ist die dritte Säule, auf der gewerkschaftliche Verantwortung und, wenn man so will, die Berufsethik des Gewerkschaftsfunktionärs gegründet sind.

Die moderne Gewerkschaftsidee ist unabtrennbar von dem, was solidarisches Handeln bezeichnet.

Vernünftig organisiert

Die vierte Idee, die das verantwortungsbewusste Handeln eines Gewerkschaftsfunktionärs reguliert, beruht auf der Vorstellung eines vernünftig organisierten Gemeinwesens. Wo der Gewerkschafter sich darauf beschränkt, Vorteile für die eigene Klientel herauszuschlagen und die etwa in sensiblen Produktionsbereichen begründete Verweigerungsmacht nur zum Vorteil dieser einzelnen Gruppe einsetzt, steht er der Berufsethik eines Unternehmers näher als dem, was die Substanz des historisch entwickelten Gewerkschaftsgedankens ausmacht. So ist das Bild vom Gemeinwesen, wie es aussehen soll, für die Imperative gewerkschaftlichen Handelns und für die Verantwortungsdimension dieses Tätigkeitsfeldes unabdingbar.

Gewerkschaftliches Handeln, das historisch einsetzt mit der kollektiven Verteidigung der Selbsterhaltung und der Würde lebendiger Arbeit gegen die Anmaßungen der toten Arbeit, des Kapitals, der Maschinerie, verliert ohne Erweiterung des kulturellen und politischen Mandats langfristig jede historische Legitimation. Die Verantwortungsbereitschaft für das Ganze der Gesellschaft ist daher nicht eine Marotte, auf die man notfalls auch verzichten könnte, sondern ist unabdingbares Element des Kampfes um Anerkennung und würdige Lebensbedingungen. Will man das kulturelle und politische Mandat der Gewerkschaften ausweiten, geht es einerseits um eine erweiterte Mitbestimmung im innerbetrieblichen Produktionszusammenhang und andererseits muss gleichzeitig das Organisationsfeld außerbetrieblicher Lebensverhältnisse, die immer stärker einer sekundären Ausbeutung der Menschen unterliegen, intensiviert werden.

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