Vor etwa 120 Jahren begannen die Arbeiter und Angestellten, sich gegen das soziale Elend aufzulehnen, in dem die meisten von ihnen leben mussten. Die Regierungen des Kaisers Franz Joseph fürchteten die junge Arbeiterbewegung und versuchten, diese mit einer Doppelstrategie zu »befrieden«: Einerseits durch Polizeigewalt und politischen Druck, andrerseits durch das Angebot eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit und das Angebot von – wenn auch zunächst noch sehr begrenzter – Mitbestimmung.
- 1888 trat das erste Krankenversicherungsgesetz für Arbeiter in Kraft.
- 1889 folgte das erste Unfallversicherungsgesetz für Arbeiter.
- 1906 erhielten die Angestellten als erste Arbeitnehmergruppe eine Pensionsversicherung.
- Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 gab es nur in einigen großen Städten eine öffentliche Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenunterstützung war damals eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften.
- 1920 ersetzte eine Arbeitslosen-Pflichtversicherung die bestehenden Arbeitslosenunterstützungseinrichtungen.
- 1927 wurde endlich eine Pensionsversicherung für Arbeiter beschlossen, die es in Deutschland längst gab. Sie blieb aber auf dem Papier, weil man für ihre Verwirklichung einen »ausgeglichenen Staatshaushalt« zur Bedingung gemacht hatte. Sie kam erst 1938 mit der Übernahme der »Reichsgesetzgebung« nach der Okkupation durch Hitler-Deutschland.
Es geht um sozialen Frieden
Aufsichtsbehörde für die Sozialversicherung war bis 1917 das Innenministerium – ein Zeichen, wie sehr die Sozialgesetzgebung als Maßnahme der inneren Sicherheit verstanden wurde. Erst 1917 kamen die Kompetenzen zum neuen Sozialministerium. Mit der Selbstverwaltung der Sozialversicherung, die von Anfang an bestand, sollte auch
- »durch Heranziehen ehrenamtlich tätiger Kräfte die Administration verbilligt und zugleich die Kontrolle allfälliger Missbräuche … erleichtert« werden;
- das »gemeinsame Zusammenwirken beider sonst so gegensätzlicher Gruppen (Arbeitgeber/Arbeitnehmer) durch Kooperation auf einem neutralen Gebiet« forciert werden (Sozialpartnerschaft!).
Kontrolle und Mitbestimmung der Arbeitnehmer
Als das Krankenversicherungsgesetz in Kraft trat, blieben alle Arbeiter, die bereits bei einer anerkannten Kasse versichert waren (ob durch Gesetz, wie bei den Bruderladen der Bergleute, oder freiwillig in Vereinskassen), bei ihrer bisherigen Versicherung. Das galt auch für die Arbeiterkrankenkassen und Arbeiterinvalidenkassen, die sich als freiwillige Selbsthilfeeinrichtungen natürlich autonom verwalteten. Sie wurden zu einer der beiden tragenden Säulen des Sozialversicherungssystems.
Alle Arbeiter ohne eigenen oder besonderen Versicherungsschutz wurden in der gesetzlichen Pflichtversicherung, den Bezirkskrankenkassen, erfasst. Sie standen unter staatlicher Aufsicht, wurden aber schon in Selbstverwaltung geführt. Da die Arbeiter den größten Teil der Beiträge aufbrachten, hatten ihre Vertreter in den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen die Mehrheit. Bei der Kontrolle wurde umgekehrt gewichtet.
Die Unfallversicherung ersetzte die Haftpflicht der Unternehmer für Arbeitsunfälle. Die Finanzierung erfolgte überwiegend durch die Arbeitgeber. Demgemäß hatten sie in den Organen auch die Mehrheit – in der Kontrolle waren dagegen die Arbeitnehmer bestimmend.
Auch in der Pensionsversicherung der Angestellten erfolgte die Organisation in Selbstverwaltung ebenfalls unter Mitsprache der Arbeitnehmer.
Bei der 1920 eingeführten Arbeitslosen-Pflichtversicherung zahlten Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils gleich viel ein. Die Kosten wurden je zu einem Drittel von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat aufgebracht. In den Verwaltungsausschüssen der »Industriellen Bezirkskommissionen«, wie die Arbeitsämter damals hießen, waren Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter 50:50 vertreten.
Die autonome Selbstverwaltung blieb im demokratischen Österreich unangetastet. Im Gegenteil – durch die Reform der Sozialversicherung 1927 hatten die Arbeitnehmervertreter vor allem in den neuen Gebietskrankenkassen entscheidenden Einfluss.
Die Gewerkschaften spielten bei den Wahlen in die Selbstverwaltung eine ausschlaggebende Rolle.
Diktatur und Faschismus gegen Selbstverwaltung und Mitbestimmung
Von 1934 bis 1938 war Österreich ein »Ständestaat«, in dem es keine freien Wahlen gab. Parteien und die damals üblichen parteinahen Gewerkschaften waren verboten. Noch 1934 entfernte man alle Arbeitnehmervertreter aus den Verwaltungsausschüssen der Sozialversicherungen, einschließlich der Industriellen Bezirkskommissionen, wenn ihnen ein Naheverhältnis zur Sozialdemokratie unterstellt werden konnte. Mit dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz 1935 wurden die Wahlen zur Selbstverwaltung offiziell abgeschafft. Arbeitnehmervertreter wurden durch den Sozialminister aufgrund des Vorschlagsrechts des staatlich eingerichteten »Gewerkschaftsbundes« bestellt.
1938 kam Österreich unter die Herrschaft des Nationalsozialismus. Die nationalsozialistische Herrschaft vollzog ab 1938 in Österreich nach, was sie bereits in Deutschland durchgeführt hatte. Ein Gesetz zur Wiederherstellung des »nationalen Berufsbeamtentums« führte zur vollständigen Beseitigung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. An ihre Stelle trat eine Staatsverwaltung, die nach dem Führerprinzip agierte. Das Gesetz bot auch Handhabe zur Judenverfolgung in der Sozialversicherung.
Zweite Republik: Wieder Selbstverwaltung und Mitbestimmung
Mit dem Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz vom Juli 1947 führte die Zweite Republik die unter Diktatur und Faschismus zerschlagene Selbstverwaltung wieder ein. Seit damals werden die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter von den gewählten Organen der gesetzlichen Interessenvertretungen entsendet, also von der Arbeiterkammer und der Wirtschaftskammer.
1949 wurde auch wieder eine Arbeitslosenversicherung mit Mitbestimmungsrechten der Beitragszahler über ihre Vertreter beschlossen. Diese Mitbestimmungsrechte konnten auch bei der Teilprivatisierung der Arbeitsämter 1994 gesichert werden.
Von Sabine Lichtenberger (Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte)
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