Wenzel und die Harmonika

Diese Geschichte ereignete sich um 1870 in einem Dorf in Böhmen – heute ein Teil der Republik Tschechien, damals wie Österreich unter der Herrschaft Kaiser Franz Josephs. Erzählt wurde sie 1930 von Wenzel Holek, der als Erwachsener in der deutschen Arbeiterbewegung aktiv war. Im Jahr 1870 fiel unter dem Druck der jungen Fachvereine das Gewerkschaftsverbot. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis sich auch die ArbeiterInnen, die in und um die Industriezentren am Land lebten, gegen Elend und Ungerechtigkeit zu wehren begannen.

Als ich wieder einmal mit der Mutter in den Wald ging, kritisierte sie wieder das Verhalten des Vaters, meine, er spare nur für die Bude1 und kümmere sich nicht darum, ob sie mit uns etwas zu essen habe oder nicht. Sie wüsste nun keinen anderen Ausweg wie den, dass auch ich wie die Jungen Babyk und Peschek mit der Harmonika in die umliegenden Dörfer spielen gehe. … Lange redete sie mir zu, ohne von mir eine Antwort zu hören. Zum Schluss meinte sie: „Na, das ist doch keine Schande. Dir geht es durch, weil du noch nicht so alt und groß bist, dass die Leute auf dich zeigen könnten, dass du arbeiten könntest und nicht betteln gehen brauchtest.“ Starr sah ich vor mich hin und fühlte, wie mein Gesicht glühte. Mein Mund, der wie eingefroren war, antwortete nicht auf Mutters Vorschlag. Früh, nach dem Essen, versuchte sie dann abermals, mich zum Spielen zu bewegen. „Nun, Wenzel, gehst du oder nicht?“ … „Wenn nicht, dann habt ihr heute nichts mehr zu essen.“

Der erste Ort, an dem ich mein Bettelmusikantenglück zu versuchen beschloss, war Knezowes. … Nachmittags, die Sonne stand noch hoch, war ich das Dorf durch. … Ich war mit diesem Erfolg zufrieden. … Der Auftritt, den ich ahnte, erfüllte sich, als ich die Stube betrat. … „Brot, Kuchen! O, o, o“, riefen freudvoll die Geschwister. Die Mutter zwang sich auch zum Lachen, ich sah aber, wie ihr die Tränen in den Augen standen. In dem Augenblick vergaß ich meine Leiden, die ich beim Spielen ausgestanden. Sah ein, wie viel Gutes meine doch so bescheidene Kunst hatte, dass mein Instrument, das mein Belustigungsgegenstand in den freien Stunden sein sollte, nun zu unserem Retter in der Not geworden war. …

Einmal, als wir spät nachts in Petersburg waren, kehrten wir in das herrschaftliche Gasthaus ein.2 … Langsam griff ich nach meiner … Harmonika und spielte. Aber kein Händeklatschen, kein Bravorufen erscholl beim Ende des Stückes wie vorher bei den anderen Musikanten. Beim Einkassieren frug mich dann ein Herr, wie alt ich wäre und ob ich noch Eltern und Geschwister hätte. Elf Jahre. Vater und Mutter haben keine Arbeit. Geschwister habe ich noch vier“, antwortete ich schüchtern.

1 Gemeint ist die Trinkbude, der arbeitslose Vater hat das wenige Geld versoffen.
2 Tschechisch Petrohrad; der Ort gehörte zu einer Schlossherrschaft.

 

Von Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 12/2012.

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