Schon als Jugendliche war Iris K. Migränepatientin. Während des Studiums bekam die heute 42-Jährige Panikattacken und nahm daraufhin zum ersten Mal Psychotherapie in Anspruch. Mithilfe von Psychopharmaka wurde Iris K. zumindest die Panikattacken los. Sie ging weiterhin in Therapie und es ging ihr besser, bis auf einmal gar nichts mehr ging. Iris K. arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einem großen Unternehmen. Der enorme Druck, unter dem sie dort stand, entlud sich schließlich in Verzweiflung: „Ich hatte einen Nervenzusammenbruch.“
Fehlende Studien
Psychische Erkrankungen sind inzwischen allgegenwärtiges Thema politischer Diskussionen. Wer sich aber im Bundesministerium für Gesundheit viele Studien und Zahlen dazu erwartet, irrt. So verwunderlich dies erscheinen mag: Es gibt dafür auch einige handfeste Ursachen. So ist allein schon schwer zu fassen, wie viele ÖsterreicherInnen tatsächlich erkrankt sind. Dass Betroffene zu niedergelassenen Ärzten gehen, ist dafür nur eine Ursache. Auch bei den Zahlen aus Spitälern ist Vorsicht angebracht: Dort werden etwa mehrere Konsultationen eines einzigen Patienten mehrfach gezählt.
Einen kleinen Einblick bietet die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage über psychische Erkrankungen bei ArbeitnehmerInnen vom Jänner 2013. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erhob: Im Jahr 2009 waren 78.028 Versicherte der Gebietskrankenkassen aufgrund einer psychischen Diagnose arbeitsunfähig, darunter 46.539 Frauen. Am meisten betroffen sind Personen zwischen 31 und 50 Jahren, sie stellen etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen. Kosten für das Jahr 2011 laut Hauptverband: 250 Millionen Euro für Psychopharmaka, 67 Millionen Euro für Psychotherapie, 31 Millionen Euro für die Behandlung bei niedergelassenen PsychiaterInnen.
Die meisten psychisch Erkrankten schaffen ohne Tabletten keinen geregelten Tagesablauf. Dass es hilft, über psychische Schmerzen und Hoffnungslosigkeit zu reden, ist bekannt, doch im Job soll es niemand wissen. „Viele Menschen sagen nichts, weil sie Angst haben, die Arbeit zu verlieren. Psychische Erkrankungen sind heute noch immer ein Tabuthema“, erklärt der Klinische Psychologe Peter Hoffmann von der AK Wien. „Es sollte eine Kampagne geben, denn viele Menschen reagieren panisch, erklären Kranke für verrückt. Sie wissen nicht, was sie mit ihren ArbeitnehmerInnen machen sollen, glauben, dass sie ihnen dauerhaft ausfallen, und halten sie für unberechenbar. Die Chefs müssten mehr gecoacht und aufgeklärt werden, dass dieser Zustand vorübergehend sein kann.“
Verschweigen und Vertuschen
Was es heißt, die Krankheit im Betrieb zu verschweigen und zu vertuschen, weiß Iris K. nur allzu gut. War sie im Krankenstand, schrieb ihr Hausarzt auf die Krankmeldung natürlich eine andere Diagnose. „Zu Hause zu bleiben ist in einer solchen Situation natürlich keine gute Idee. Zum Glück ließ sich mein Vater nicht beirren und entführte mich zu einem kleinen Ausflug in die Sonne“, erzählt sie. Doch dann kam die Angst: „Was, wenn mich ein Kollege oder eine Kollegin sieht?“ Nach ihrem Zusammenbruch schlug die Personalabteilung Iris K. in einem klärenden Gespräch ein Coaching vor. Das vertrauliche Coaching durch eine externe Expertin hat Iris K. auf ihrem Weg geholfen. Statt sich weiter dem täglichen Druck auszusetzen, hat sie gekündigt und arbeitet heute selbstständig.
Eine ganz entscheidende Rolle fällt den BetriebsrätInnen zu, denn sie sind zumeist erster/erste AnsprechpartnerIn. „Auch mein Betriebsrat war natürlich überfordert. Er hat sich alles geduldig angehört und auch meine Weinkrämpfe ertragen, aber angenehm war das natürlich für uns beide nicht.“ In Zukunft werden BetriebsrätInnen eine stärkere Funktion in der Beratung betroffener ArbeitnehmerInnen übernehmen müssen. Zum einen sollten sie KooperationspartnerInnen in der Prävention für alle Personen sein, die sich psychisch zu stark belastet fühlen. Bei betrieblichen Veränderungsprozessen müssen sie beteiligt sein. Dabei sind auch Fortbildungen zur Gesprächsführung und sozialen Kompetenz enorm wichtig – das Erlernte sollte regelmäßig aufgefrischt und vertieft werden. Wenn ein Betriebsrat oder eine Betriebsrätin merkt, dass ein/e ArbeitnehmerIn psychische Probleme hat, kann er oder sie allerdings nur sehr dezent Hilfe anbieten – dieses Angebot dürfe auf keinen Fall aufdringlich wirken.
Sensible Kommunikation
Peter Hoffmann macht deutlich, dass betroffene ArbeitnehmerInnen bestimmte Aufgaben – über einen gewissen Zeitraum hinweg – nicht mehr übernehmen können. „Das muss in der Abteilung geklärt werden, denn oft wird die Arbeit, die der Kranke nicht mehr machen kann, aufgeteilt. Doch auch mit den Betroffenen muss gesprochen werden, damit sich diese nicht zurückgesetzt fühlen“, weiß Hoffmann. „Das erfordert eine sensible Kommunikation zwischen Vorgesetzten und MitarbeiterInnen. Wenn die Leute nicht rechtzeitig über ihre Erkrankung sprechen, geraten sie in eine Spirale, aus der sie nur schwer herauskommen. Wenn sie es zeitgerecht sagen und man sie im Betrieb halten kann, dann wirkt das stabilisierend.“ Der falsche Weg: ArbeitnehmerInnen, die nicht mehr können, aber auch nichts sagen, nehmen oft noch mehr Arbeitsaufwand auf sich, um ihren Rückstand aufzuholen – der Zusammenbruch wird damit geradezu unausweichlich. Gesundheitspsychologe Hoffmann: „Dabei sollten sie eine Auszeit zum Selbstschutz fordern.“
Das hat Martina F. für sich entschieden. Die 34-Jährige ist in der Bildungsarbeit tätig. Vor rund vier Jahren hat es mit starkem Herzklopfen begonnen. Selbst Ruhepausen auf dem Land halfen nichts mehr, das starke Pochen wurde nicht weniger, dazu kamen massive Schlafstörungen. „Auf dem Höhepunkt hat es sich angefühlt, als hätte ich ein paar Wochen gar nicht geschlafen“, erzählt Martina F. Die Nerven lagen blank, keine Spur von Ruhe und Erholung. Dass sie schlecht schläft, haben auch ihre KollegInnen mitbekommen. In ihrem vierwöchigen Urlaub stellte sich keine Besserung ein und die Angestellte entschied sich für eine psychosomatische Klinik: „Mit den Begriffen für die Krankheit wird flexibel umgegangen. Ich würde sagen, dass ich eine Erschöpfungsdepression hatte.“ Erst wollte Martina F. kündigen, weil sie nicht wusste, wann sie wieder arbeiten kann – einen langen Krankenstand schloss sie für sich aus. Die Situation hatte sie vorab mit ihrer Chefin besprochen, allerdings verbindet die beiden ein besonders gutes kollegiales Verhältnis. Entschieden hat sich Martina F. für ein Jahr Bildungskarenz. „Ich würde nicht empfehlen, es allen zu erzählen. Eine Depression ist immer noch eine Stigmatisierung – eine Krankheit von Schwächlingen. Jemand, der es nie hatte, kann es sich auch nicht vorstellen.“ Was Martina F. geholfen hat, waren anfangs Medikamente: „Ich war glücklich, dass ich schlafen konnte.“ Später Psychotherapie, viel Sport und Shiatsu. „Und ich habe mich sehr dahintergeklemmt, dass es mir gut geht. Wenn du wieder ins Arbeitsleben kommst, sind die Medikamente eine Stütze, um deinen Platz zu erkämpfen.“ Heute muss Martina F. keine Psychopharmaka mehr einnehmen und geht in eine Gruppentherapie. Wenn sie heute wieder Herzklopfen, einen Druck auf der Brust und Erschöpfung spürt, nutzt sie ihr Notfallprogramm: „Das kann einfach Ruhe geben und nicht so viel machen sein – oder fortgehen und tanzen, denn das ist eine sehr gute Therapie.“
So wichtig wie andere Krankheiten
Doch ArbeitnehmerInnen müssen nicht allein auf sich achten – sie dürfen auch nicht zur Belastung für ihre Kolleginnen und Kollegen oder die ihnen unterstellten MitarbeiterInnen werden, denn der Faktor Mensch ist eine häufige psychische Fehlbelastung im Betrieb. Peter Hoffmann: „Die Herausforderung ist: Wie kann eine Firma signalisieren, dass psychische Erkrankungen für sie genauso wichtig sind wie andere Krankheiten auch?“
Internet:
Hilfe für Menschen in Krisen und bei Suizidgefahr bzw. für Freunde und Helfer:
www.hilfe-in-der-krise.at
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM):
tinyurl.com/n782ssq
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Von Sophia Fielhauer-Resei, Freie Journalistin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.
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