Wahl-Steuer

„Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ hieß 1867 bis 1915 der Teil der Habsburgermonarchie, zu dem die heutige Republik Österreich gehörte. Die Menschen in diesem Staat, der in der Umgangssprache oft „Österreich“ genannt wurde, hätten, so wurde damit signalisiert, ein gemeinsames Parlament zur politischen Mitbestimmung. Aber sehr lange war dieser „Reichsrat“ alles andere als eine demokratische Einrichtung.

Bis 1872 bestand – außer für Akademiker, hohe Beamte, Pfarrer und Lehrer – ein reines „Zensuswahlrecht“. Im ersten Wahlkörper wählten diejenigen, die jährlich mehr als 80 Gulden Steuer zahlten, im zweiten Wahlkörper Staatsbürger mit einer Steuerleistung von 20 bis 79 Gulden, im dritten Wahlkörper betrug der Zensus – in Städten und Landgemeinden unterschiedlich geregelt – 10 bis 20 Gulden. Das galt für das Abgeordnetenhaus, die Mitglieder des Herrenhauses, der zweiten Kammer des „Reichsrats“, ernannte ohnehin allein der Kaiser.

Nach diesem System bestimmten Besitz und Bildung die Teilnahme am politischen Leben, die große Mehrheit des Volkes war ausgeschlossen.
Daran änderte sich auch mit der Einführung der Wählerkurien 1873 nichts. Die Kurie der Großgrundbesitzer mit nicht einmal 5.000 Wählern hatte von den insgesamt 353 Mandaten 84, die Kurie der Handels- und Gewerbekammern mit ganzen 499 Wählern 21. Die über eine Million Wahlberechtigten aus den Landgemeinden mussten sich dagegen mit mageren 129 Mandaten zufriedengeben, denn die Bindung des Wahlrechts an die Steuerleistung blieb aufrecht. Für die Landgemeinden hieß das: Von etwa 18 Millionen Erwachsenen durften nur rund eine Million überhaupt ihre Stimme abgeben.

Ab 1882 betrug der Steuersatz nur mehr fünf Gulden und 1896 folgte die Einführung einer neuen „allgemeinen Kurie“ mit gleichem Wahlrecht für Männer unabhängig von der Steuerleistung. Für sie waren aber nur 72 der jetzt 425 Mandate reserviert, ein Kandidat benötigte für seine Wahl mehr Stimmen als die anderen Abgeordneten und die Wähler der anderen Kurien durften doppelt abstimmen. Von demokratischer Mitbestimmung konnte also schon allein aus diesen Gründen keine Rede sein. Die „Sesshaftigkeitsklausel“, die einen sechsmonatigen Aufenthalt im Wahlkreis voraussetzte, benachteiligte außerdem die Arbeiterschaft in den Industriezentren und hier wiederum Zuwanderer massiv, da man bei Arbeitslosigkeit häufig in die Herkunftsgemeinden abgeschoben wurde. Nur ein einziger Gewerkschafter, der Bergarbeiter Petr Cingr, überwand 1897 diese Barrieren.

Trotzdem bedeutete die Reform einen ersten Erfolg der Kampagne der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung für ein demokratisches Wahlrecht, in der die Gewerkschaften eine große Rolle spielten. 1907 war das Ziel wenigstens für Männer fast erreicht – eine verschärfte „Sesshaftigkeitsklausel“ blieb. Trotzdem hatten jetzt die führenden Gewerkschafter erstmals Gelegenheit, ihre Anliegen selbst im Parlament zu vertreten.

Ausgewählt und kommentiert  von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/14.

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