In der Alpenrepublik haben wir es gerne gemütlich: Ein Glaserl Wein gehört praktisch zur nationalen Identität, der Griff zur Zigarette fällt ebenfalls nicht schwer. Natürlich wird auch anderswo massig getrunken und geraucht – Österreich hat sich in dieser Disziplin aber an die europäische Spitze gesetzt. Knapp 30 Prozent der Mädchen im Alter von 15 rauchen hierzulande, das ist die höchste Rate innerhalb der OECD-26 (im Schnitt rund 15 Prozent Raucherinnen). Unter den heimischen Burschen im gleichen Alter greifen an die 25 Prozent regelmäßig zu ihrem „Glimmstängel“, in den Vergleichsländern sind es wiederum circa 15 Prozent. Beim Alkoholkonsum liegen junge ÖsterreicherInnen ebenfalls über dem Durchschnitt. Was Gemüse auf dem Speiseplan betrifft, rangieren wir vor Ungarn und Estland an vorletzter Stelle. Mahlzeit!
Umfassendes Konzept
Es muss nicht ausgeführt werden, dass Rauchen, Alkohol und ungesunde Ernährung gerade für jüngere Jahrgänge besonders schädlich sind. Deshalb fordern ExpertInnen mehr Aufklärungsarbeit, denn Gesundheitsprävention ist mehr als die – zweifellos wichtige – jährliche Vorsorgeuntersuchung. Angestrebt wird ein umfassendes Konzept, das unter der Bezeichnung Health Literacy oder Gesundheitskompetenz zusammengefasst wird.
Darunter versteht man Fähigkeiten, Wissen und Motivation, um im Alltag relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu begreifen und anzuwenden. Gesundheitskompetenz ist somit entscheidend, um in den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung die richtigen Entscheidungen zu treffen und das professionelle Krankenbehandlungssystem zielführend zu nutzen. Das beginnt bereits damit, das Gespräch mit MedizinerInnen richtig zu deuten oder einen Befund zu verstehen. Alles in allem geht es bei Health Literacy um eine Förderung des Gesundheitsbewusstseins, die sich in einem gesünderen Lebensstil und Bereitschaft zur Prävention auswirkt.
In Österreich besteht auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf, wie die Studie „Health Literacy Survey Europe“ (HLS-EU) aus dem Jahr 2011 vor Augen führt. Für diese Untersuchung wurden jeweils 1.000 EU-BürgerInnen in Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Irland, den Niederlanden, in Österreich, Polen und Spanien zu ihrer Gesundheitskompetenz befragt. Ernüchternde „Diagnose“: In Österreich hatten 18,2 Prozent der Befragten inadäquate, 38,2 Prozent problematische, 33,7 Prozent ausreichende und nur 9,9 Prozent exzellente Gesundheitskompetenz. Somit wiesen etwas mehr als jeder/jede zweite ÖsterreicherIn begrenzte Gesundheitskompetenzen auf. In den Niederlanden war die Quote der begrenzten Gesundheitskompetenz mit 28,7 Prozent am geringsten. Der Durchschnitt aller Länder lag bei 47,6 Prozent, wobei Österreich hinter Bulgarien den zweitschlechtesten Wert erreichte.
Dieser Befund hat die heimische Politik wachgerüttelt: In den sogenannten Rahmengesundheitszielen wurde die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung als ein zentrales Element offiziell festgehalten. Diese Rahmengesundheitsziele wurden vom Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Ministerien und Interessenvertretungen wie ÖGB, WKÖ oder Ärztekammer gesteckt. Angestrebt wird die Verbesserung der Gesundheit aller in Österreich lebenden Menschen.
Rosemarie Felder-Puig, Forscherin am Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research, lobt diese Bestrebungen: „Österreich war vielleicht nicht bei den Ersten, die in Gesundheitsförderung und Prävention investiert haben, aber in den letzten Jahren ist viel passiert. Mit der Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhofft man sich auch eine Senkung der Kosten für das Krankenbehandlungssystem, und dieses Geld könnte man dann verstärkt in Gesundheitsförderung und Prävention investieren.“
Niederlande als Vorreiter
Wie die „Alphabetisierung“ in Gesundheitsfragen vorangetrieben werden kann, haben bereits andere Länder vorgezeigt. Sabine Haas, stellvertretende Abteilungsleiterin für Gesundheit und Gesellschaft bei der Gesundheit Österreich GmbH, kommentiert: „Wenn man Gesundheitsförderung sehr breit versteht, so sind Länder wie Neuseeland, Kanada, Finnland, Schweden und die Niederlande gute Vorbilder eines weiten und sehr gut abgestimmten Zugangs zu Gesundheitsförderung und Prävention.“ Speziell im Hinblick auf Maßnahmen der Gesundheitskompetenz gelten die Niederlande als Vorreiter, da sie seit 20 Jahren in systematische Patientenbeteiligung und Partizipation investieren. Das Land hat auch in der erwähnten HLS-EU-Studie am besten abgeschnitten. Dort verfügen gleich 25 Prozent der Bevölkerung über exzellente und nur 1,6 Prozent über mangelhafte Gesundheitskompetenz. Abgesehen vom allgemein hohen Bildungsstandard weisen die Niederlande eine Besonderheit im Gesundheitssystem auf: PatientInnen müssen sich bei einem praktischen Arzt ihrer Wahl registrieren lassen, ein einfacher Wechsel ist nicht möglich. Weiters findet die fachärztliche Behandlung fast ausschließlich in Krankenhäusern statt, niedergelassene UrologInnen, PulmologInnen etc. können also nicht nach Gutdünken aufgesucht werden. Dadurch ist die freie Arztwahl eingeschränkt und der praktische Arzt fungiert als Lotse durch das Gesundheitssystem.
Steigende Ausgaben
Erfreulich ist, dass in Österreich die Ausgaben für Prävention kontinuierlich steigen: Zur Jahrtausendwende waren es 248 Millionen, zuletzt 474 Millionen Euro (letztverfügbare Zahlen aus 2012). Dennoch wird weniger für Präventionsmaßnahmen ausgegeben als im EU-Schnitt, der bei 2,9 Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets liegt. Beim Musterschüler Niederlande sind es sogar 4,9 Prozent, hierzulande nur 1,8 Prozent (die letzten Daten der OECD zu diesem Thema stammen aus 2008). Es ist aber zu erwarten, dass sich der Anstieg der Ausgaben in Österreich fortsetzt, da neue Vorsorgemaßnahmen breit etabliert werden (z. B. Mammografie-Screening) bzw. bestehende Maßnahmen (bspw. Jugendlichenuntersuchungen) weiterentwickelt werden.
Zu Tode untersucht?
Die Frage der richtigen Prävention hat aber auch kritische Stimmen laut werden lassen. Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems, meint dazu: „Das Problem in Österreich ist, dass wir manche Bevölkerungsschichten mit Vorsorgeprogrammen überhaupt nicht erreichen, bei anderen wird zu viel gemacht. Mit der Konsequenz, dass es viele unnotwendige Behandlungen gibt.“ Das bedeutet, gesunde Personen werden zu PatientInnen gestempelt, ohne dass irgendein gesundheitlicher Nutzen daraus resultiert. „Dazu kommt, dass ärztliche Interessengruppen wie zum Beispiel die Ärztekammer bei Empfehlungen wirtschaftliche Anliegen in den Vordergrund stel-len und nicht die bestmögliche Versorgung der PatientInnen, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen“, so der Experte.
Gartlehner verweist dabei auf eine Analyse der Donau-Universität Krems, die Krebsscreening-Empfehlungen der Wiener Ärztekammer mit internationalen, wissenschaftsbasierten Empfehlungen vergleicht. Resultat: „Es werden von der Ärztekammer Untersuchungen empfohlen, die internationale Institutionen eindeutig ablehnen, weil sie mehr Schaden als Nutzen verursachen. Eigentlich sinnvolle Untersuchungen werden wiederum zu häufig empfohlen, mit der Konsequenz, dass es viele falsch positive Ergebnisse gibt – mit zum Teil sehr unangenehmen Konsequenzen für PatientInnen, wie zum Beispiel nicht notwendigen Krebsbehandlungen“, so Gartlehner.
Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer Wien, wehrt sich vehement gegen diese Kritik und meint, dass manche Empfehlungen der Wiener Ärztekammer zur Vorsorge von Gartlehner nicht korrekt und verkürzt wiedergegeben wurden: „Die Wiener Ärztekammer ist vom Nutzen regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen mit Beachtung des Gender-Aspekts überzeugt und weist den Vorwurf, unnötige Untersuchungen aus wirtschaftlichen Interessen zu empfehlen, scharf zurück.“ Der Experte ergänzt: „Grundsätzlich gilt natürlich in jedem Fall, dass eine individuelle fachärztliche Beratung über die Vor- und Nachteile unverzichtbarer Bestandteil jeder medizinischen Gesundheitsvorsorge ist.“ Dafür ist wiederum solide Gesundheitskompetenz hilfreich – in diesem Punkt sind sich alle Experten einig.
Internet:
Weitere Infos zu Gesundheitszielen und Gesundheitsvorsorge finden Sie hier:
www.gesundheitsziele-oesterreich.at
www.gesagt-getan-vorgesorgt.at
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Von Harald Kolerus, Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.
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