Die Stadt Rosarno in Kalabrien liegt umgeben von einem undurchdringlichen Labyrinth aus Feldwegen zwischen eingezäunten Orangenhainen. In der Stadt stehen die Erntearbeiter – die meisten von ihnen Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara – allein oder in kleinen Gruppen an der Straße und hoffen darauf, dass ein Lieferwagen anhält und der Fahrer sie anheuert. Der Dezemberwind in der Bucht ist schneidend kalt und bis auf die wartenden Afrikaner sind die Straßen wie leergefegt. Auch wenn sie keine Arbeit finden, harren sie aus, denn sie haben keinen Ort, an dem sie sich vor der Kälte schützen können.
An guten Tagen 25 Euro
Die Gemeinde Rosarno und der Nachbarort San Ferdinando haben zwar eine Notschlafstelle in Containern und Zeltunterkünften errichtet, in der es Gemeinschaftstoiletten gibt. Aber die Kapazitäten reichen bei Weitem nicht aus. Um hier einen Platz zu bekommen, müssen die Wanderarbeiter schon mindestens einen Monat vor Beginn der Ernte eintreffen. Das aber erfordert Rücklagen, denn in der Wartezeit bis zum Saisonbeginn müssen sie sich ohne Verdienst über Wasser halten. Hinter dem offiziellen Notlager ist auf dem schlammigen Boden ein fast ebenso großer Slum aus notdürftig mit Karton, Plastik und Müll errichteten Hütten entstanden. Die Bewohner kriechen durch ein Loch im Zaun, um Wasser zu holen und das WC zu benutzen. In der Nähe der Autobahn hat ein knappes Dutzend Flüchtlinge aus Darfur in einem Waldstück selbst ein Zeltlager errichtet. Als wir uns nähern, begrüßt uns ein junger Mann, der sich gerade vor einem zerbrochenen Spiegel rasiert hat. Abit erzählt uns in ausgezeichnetem Italienisch, dass er seit vier Jahren im Land sei. Er kam als Bootsflüchtling aus Libyen, aber nicht wie die meisten anderen über Lampedusa, sondern er wurde von der Küstenwache aus einem kleinen Boot gerettet und direkt nach Sizilien gebracht. Die Reise beschreibt er als hart. Acht Tage waren sie auf See. Von den fünfzig Leuten an Bord starben zwei unterwegs. Die Überlebenden haben Asyl bekommen.
Er lädt uns ein, ihre Siedlung zu besichtigen. Aufgebockt auf Ziegelsteinen und Autoreifen stehen kleine Igluzelte, die mit Karton zusätzlich umwickelt und verstärkt und mit vielen Schichten Plastikfolie überzogen sind, um weiter zu isolieren und abzudichten. Die Küche ist auf dem bloßen Erdboden gebaut und besteht nur aus einem alten Gaskocher. Wasser holen die Männer mit Kanistern in einer nahe gelegenen Fabrikanlage. Neben dem Feuer unter freiem Himmel stehen ein alter Hocker und ein kaputter Bürostuhl. Es sind die einzigen beiden Sitzgelegenheiten.1 Seit 25 Tagen ist Abit in Rosarno. Bis jetzt hat er nur an fünf Tagen Arbeit gefunden. An guten Tagen kann er bis zu 25 Euro verdienen, aber er muss dem Fahrer des Lieferwagens drei Euro für die Fahrt zum Feld zahlen. Manchmal wird er nach Kisten bezahlt. Das bringt 50 Cent pro 22-Kilo-Kiste, etwa zwei Cent pro Kilo. „Oft hängen die Orangen sehr hoch, dann ist die Arbeit beschwerlich. Man darf aber keine übersehen oder eine unreife Frucht pflücken, denn dann zieht der ‚capo‘ eine ganze Kiste vom Lohn ab.“ Oft werden die Löhne am Ende des Tages unter fadenscheinigen Vorwänden auch gar nicht ausbezahlt. Während unseres Gesprächs kommen die anderen Männer nach Hause. Sie sind völlig durchnässt und halten ihre Pullover, Socken und Mützen in die Flammen des Feuers, immer gerade so lange, dass sie nicht in Brand geraten. Richtig trocken werden die Kleider nie, sagen sie uns.
Bürger und Entrechtete
Die Obst- und Gemüsewirtschaft in Südeuropa hat einen hohen Bedarf an irregulären Saisonarbeitskräften, und die Rechtlosigkeit der Illegalisierten und ihre existenzielle Notlage machen sie besonders ausbeutbar. Viele haben jahrelange Migrationsgeschichten durch mehrere Länder hinter sich, weil sie um Leib und Leben fürchteten und fliehen mussten. Die Flucht nach Europa erweist sich dabei als Sackgasse. An keinem Punkt seiner Reise habe er unter solchen Bedingungen leben müssen, beschreibt Hassan. Libyen klingt in der Erzählung vieler Flüchtlinge wie ein Paradies. Dort hatten sie Arbeit und ein Dach über dem Kopf, konnten Geld nach Hause zu ihren Kindern schicken. Bis die NATO-Bomben kamen und sie keine andere Wahl hatten, als sich auf den Weg nach Italien zu machen. Von Europa geträumt haben sie nie.
Aber es gibt kein Zurück. Wer durch die restriktive Migrationspolitik der EU-Länder weder als Flüchtling anerkannt wird, noch einen Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen erhält, wird illegalisiert. In Italien erhalten abgewiesene Asylwerber zumeist einen Ausweisungsbescheid, nach dem sie binnen 15 Tagen das Land verlassen müssen. Doch ohne Papiere, Visum und Geld können sie nicht ausreisen. Den so Festgesetzten bleibt gar nichts anderes übrig, als sich auf den Plantagen oder in ähnlich prekären Verhältnissen zu verdingen. Doch auch anerkannte Flüchtlinge wie Abit trifft das gleiche Schicksal. In der Theorie haben Flüchtlinge in Italien Anspruch auf soziale Betreuung und medizinische Versorgung. Aber in der Praxis fehlen staatliche Hilfsstrukturen, und auch Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus sind darauf angewiesen, jegliche Arbeit anzunehmen, um zu überleben.
Der Soziologe Georg Simmel hatte bereits 1908 darauf hingewiesen, dass die Struktur einer Gesellschaft daran zu erkennen sei, wie sie mit ihren Armen umgeht. Die Kämpfe um die soziale Frage haben nach 1945 in Europa zu einer weitreichenden Integration und Absicherung geführt, die an zwei Bedingungen gebunden war: an Lohnarbeit (und die damit verbundenen Ansprüche an das Sozialsystem) und, vorrangiger noch, die Staatsbürgerschaft bzw. einen legalen Aufenthaltsstatus. Beide Bedingungen haben sich seit den 1980er-Jahren stark verändert. Die neoliberale Erosion gesicherter Arbeitsverhältnisse führte zu einer neuen Ausbreitung von Prekarität und Armut, die die nie verschwundenen, aber zumindest materiell gedämpften Klassengegensätze wieder stärker hervortreten lässt. Die Frage der Staatsbürgerschaft zeigt eine ebenso ambivalente Rhetorik: Während im Inneren der EU die Freizügigkeit der EU-BürgerInnen erweitert wird, schotten sich die Mitgliedsstaaten zunehmend nach außen ab. So wie sich am Rande der Arbeitsgesellschaft eine Zone der Prekären ausbildet, denen die Teilhabe an existenzsichernder Erwerbsarbeit versagt bleibt, wird auch in der Frage des Zugangs zu den Bürgerrechten eine Zone geschaffen, in der sich die Illegalisierten ebenso wiederfinden wie die „aus humanitären Gründen“ Geduldeten: Beide Gruppen bleiben ohne Recht auf Arbeit und Existenzsicherung.
Vogelfreie und Taglöhner
Die Migrantinnen und Migranten in Kalabrien sind im Inneren der Festung Europa gefangen, sie können ihre Mauern nicht mehr verlassen. Doch als Nicht-BürgerInnen fallen sie in eine Kategorie, die an die Vogelfreien und Tagelöhner des Mittelalters erinnert. In der Ökonomie Europas werden sie gebraucht als willfährige Sklavinnen und Sklaven, die nicht aufbegehren können.
Die andere Seite der Medaille
Unser Entsetzen, in Europa die Verhältnisse der „Dritten Welt“ anzutreffen, zeigt, dass der europäische Kapitalismus noch eine weitere Bresche geschlagen hat. Nicht nur sind das Elend und die Diktaturen, die der europäische Kolonialismus in den Ländern des globalen Südens hinterlassen hat, Ursache für die Flucht so vieler Menschen. Innerhalb Europas reproduziert sich außerdem eine Ausbeutung, in der die schwarzen Sklaven zu Hungerlöhnen den Wohlstand der EuropäerInnen erarbeiten: das Einkommen der LandbesitzerInnen, die Gewinne des Agrargroßhandels, der Lebensmittelindustrie, des Transportsektors und des Einzelhandels, aber auch den selbstverständlichen Luxus billiger Südfrüchte für jeden Konsumenten und jede Konsumentin. Die Ausbeutung der Sklaven von Kalabrien ist keine Funktionsstörung der ökonomisierten Gesellschaft, sie ist Ausdruck des Funktionierens des Kapitalismus: die andere Seite der gleichen Medaille.
1 Einer der Männer bat uns, ein Handyvideo zu veröffentlichen, das er selbst gedreht hat, um auf die desaströsen Existenzbedingungen hinzuweisen. Siehe www.bitter-oranges.com
Info&News
Gilles Reckinger, Diana Reiners, Carole Reckinger erforschen seit 2009 die Lebensbedingungen von Migrantinnen und Migranten in Lampedusa und Kalabrien. Siehe www.bitter-oranges.com und Gilles Reckinger: Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal 2013.
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Von Carole Reckinger, Politikwissenschafterin und Fotografin (Luxemburg) | Gilles Reckinger, Univ.-Prof. für Interkulturelle Kommunikations- und Risikoforschung (Innsbruck) | Diana Reiners, Ethnologin (Luxemburg)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.
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