Tarifautonomie ade

Im Zuge der Wirtschaftskrise hat sich auf EU-Ebene ein besorgniserregender Paradigmenwechsel in der Lohnpolitik vollzogen. Respektierte man bis dahin die Tarifautonomie der Kollektivvertragspartner, so etablierte sich mit der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung ein europäischer Interventionismus. Besonders betroffen von den Eingriffen in die nationalen Lohnpolitiken und die nationalen Tarifverhandlungssysteme waren bislang die finanziell von der Troika unterstützten Länder wie Griechenland und Spanien. Die von ihnen abverlangten Reformen hatten vor allem eins zur Folge: die Entmachtung der Gewerkschaften.

Neoliberal ausgerichteter Umbau

Diese Eingriffe zielen auf Deregulierung der Arbeitsmärkte und einen neoliberal ausgerichteten Umbau der historisch gewachsenen KV-Systeme in Europa ab. In einem Bericht aus dem Jahr 2012 formuliert die EU-Kommission folgende Ziele:

  • Dezentralisierung der KV-Verhandlungen,
  • Reduzierung des kollektivvertraglichen Deckungsgrades, bspw. durch Beschränkungen für Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Branchen-KVs,
  • Senkung der nationalen gesetzlichen Mindestlöhne.

Ganz offen zum Ausdruck kommt das Ziel der Entmachtung der Gewerkschaften in folgender Passage:

  • Förderung von Maßnahmen, „die zu einer generellen Reduzierung der Lohnsetzungsmacht von Gewerkschaften führen“.

In Südeuropa waren die Gewerkschaften vor allem in den Stammbelegschaften des öffentlichen Sektors verankert, in Spanien und Italien auch in jenen der Großunternehmen der Industrie und des privaten Dienstleistungssektors. Unter den Randbelegschaften, insbesondere den atypisch Beschäftigten, waren sie hingegen nur sehr schwach vertreten. Trotz der besonders ungleichen Verteilung ihrer organisatorischen Stärken verfügten die Gewerkschaften in Südeuropa vor der Wirtschaftskrise über ein erhebliches Maß an institutioneller Macht. Diese beruhte auf Institutionen wie Kollektivvertrag, Betriebsräten, Sozialpartnerschaft oder gesetzlichem Mindestlohn.
Im Jahr 2008 erreichten die spanischen Gewerkschaften im privaten Sektor nur einen Organisationsgrad von 17 Prozent und waren – abgesehen von einigen Großunternehmen – in den Betrieben nur schwach verankert. Dennoch gelang es ihnen, für über 85 Prozent der Beschäftigten im privaten Sektor gewisse Mindeststandards durchzusetzen: über Branchen-KVs und die Verallgemeinerung der darin enthaltenen Regelungen. Noch bedeutender war die Verhandlungsmacht der Gewerkschaf-ten gegenüber den nationalen Regierungen, die auf ihrer politischen Mobilisierungsfähigkeit beruhte. Phasenweise vermochten sie, Kompromisse im Bereich der Lohn-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Form von Sozialpakten festzuschreiben.

Steiles Gefälle

In Griechenland war das Gefälle im gewerkschaftlichen Organisationsgrad noch steiler als in Spanien: Im öffentlichen Sektor betrug dieser rund 65 Prozent, im privaten hingegen ca. 15 Prozent. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gegenüber den nationalen Regierungen beruhte vor allem auf ihrer Mobilisierungsfähigkeit in strategischen Bereichen des öffentlichen Sektors wie Verkehrswesen und Energieversorgung sowie auf ihren Verbindungen zu den klientelistischen Großparteien. In der Lohnpolitik stellte der mit den Arbeitgeberverbänden ausgehandelte nationale Mindestlohn die wichtigste institutionelle Ressource der Gewerkschaften dar. Mit der Wirtschaftskrise sollte die Macht der Gewerkschaften in den Ländern jedoch ausgehöhlt werden – nicht zuletzt auf Betreiben der EU.
Neun von der Krise besonders betroffene EU-Länder mussten bisher finanzielle Unterstützungen von der Troika bzw. von EU und IWF in Anspruch nehmen: Griechenland, Zypern, Italien, Spanien, Portugal, Rumänien, Ungarn, Lettland und Irland. Im Gegenzug vollzogen die Regierungen der Länder tiefgreifende Veränderungen in den nationalen KV-Systemen. Diese kamen durch ein mehr oder weniger intensives Zusammenwirken von verschiedenen Akteuren zustande: auf der einen Seite die Arbeitgeberseite und die neoliberal-konservativen Regierungen in den betreffenden Ländern, entsprachen doch die Veränderungen vielfach lange gehegten Forderungen derselben; auf der anderen Seite die unterstützenden Institutionen, wobei die Initiative oft von der Troika ausging.

Kürzungspolitik

Als Gegenleistung für die finanziellen Unterstützungen verpflichteten sich die betroffenen Länder zu fiskal-, lohn-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmenpaketen. Diese enthielten weitreichende Haushaltsreformen und Kürzungen öffentlicher Ausgaben sowie umfassende Reformen am Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherung. Vor allem aber verpflichteten sich die Regierungen zur Umsetzung einer Strategie der „inneren Abwertung“, die lohnpolitische Eingriffe des Staates und Änderungen des KV-Systems beinhaltete.
In diesen Ländern zeigte sich die potenzielle Reichweite des neuen europäischen Interventionismus bereits deutlich. Die Vereinbarungen sahen vor:

  • Lohnstopps und -kürzungen im öffentlichen Dienst,
  • das Einfrieren bzw. die Senkung des nationalen gesetzlichen Mindestlohns und
  • Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen des KV-Systems, welche auf Dezentralisierung der KV-Verhandlungen und generell die Dekollektivierung und Deregulierung der Lohnfindung hinauslaufen.

Ab 2010 begann in den finanziell von der Troika unterstützten EU-Ländern somit die institutionelle Entmachtung der Gewerkschaften durch gezielte Angriffe auf die jeweiligen tragenden Elemente der kollektiven Arbeitsmarktregulierungen.
In Spanien wurde das sogenannte Günstigkeitsprinzip bei Branchen-KVs aufgehoben. Bis dahin waren von Branchen-KVs abweichende Regelungen in Betriebs-KVs nur gültig, sofern sie für die ArbeitnehmerInnen günstiger waren. Die Nachwirkung von KVs wurde auf ein Jahr beschränkt. Arbeitgebern wurde unter bestimmten Voraussetzungen (zwei Quartale mit Verlust) der einseitige Ausstieg aus einem KV eingeräumt. Die Folge: Der Deckungsgrad der Kollektivverträge sank im privaten Sektor von 89 Prozent im Jahr 2011 auf rund 50 Prozent im Jahr 2013.
In Griechenland haben nun Unternehmens-KVs Vorrang vor Branchen-KVs. Zum Abschluss von Unternehmens-KVs sind nicht mehr ausschließlich die Gewerkschaften berechtigt, sondern auch Belegschaftsvertretungen, sofern diese von mindestens 40 Prozent der Beschäftigten beauftragt worden sind. Das Arbeitsministerium hat die Allgemeinverbindlichkeit von bestehenden Branchen-KVs ausgesetzt – ein Anreiz für Unternehmen, den jeweiligen Arbeitgeberverband zu verlassen. Die seit 1936 (mit Unterbrechungen) bestehende Praxis der Festsetzung des nationalen Mindestlohns durch einen General-KV zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften endete Anfang 2012: Die Regierung setzte den bestehenden Mindestlohn per Dekret außer Kraft und legte einen neuen, um 22 Prozent niedrigeren Minimallohn fest. Das Ende 2012 beschlossene Mindestlohngesetz sieht vor, dass der nationale Mindestlohn durch die Regierung bestimmt wird, wenn auch nach Konsultation der Sozialpartner.
Durch die Zertrümmerung institutioneller Säulen sowie die massive Schwächung ihrer Marktmacht (sinkender Organisationsgrad, hohe Arbeitslosigkeit) sind die Gewerkschaften in Südeuropa auf ihre organisatorischen Ressourcen, ihre politische Mobilisierungsfähigkeit und ihre Streikfähigkeit zurückgeworfen.

Alternative

Als nachhaltige mittel- und längerfristige Ausrichtung gewerkschaftlicher Politik erscheint eine „Strategie der autonomen Revitalisierung“ erfolgversprechend. Diese beruht auf der Stärkung und Erneuerung der organisatorischen Machtressourcen sowie auf systematischen Bemühungen um zivilgesellschaftliche Verbündete. Beides könnte die Voraussetzungen schaffen für die Rückgewinnung von Verhandlungs- und Marktmacht sowie letztlich für das Aufhalten der institutionellen Erosion und für Re-Regulierung des Arbeitsmarktes.

Internet:
Weitere Infos finden Sie unter:
tinyurl.com/oxw3ugl
Blogtipp:
tinyurl.com/otxl5rk

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Von Michael Mesch, Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien, Geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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