Fern von Europa“ ist der Titel einer Schmähschrift von Carl Techet auf meine Tiroler Heimat. 1909 waren die „kurzen Geschichten aus finsteren Breiten“ ein Skandal, der Autor musste aus Tirol fliehen. In meiner Jugend war der kleine Band ein Kultbuch. Unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer attestierte der Lehrer Teutz meinen Landsleuten tiefste dumpfe Provinzialität und Unverständnis für die große Welt: Europa. Ein Europa großer, mächtiger Kolonialreiche und Monarchien am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Es waren schwere Zeiten damals. Vorarlberger, Tiroler und Schweizer Kinder wurden seit Jahrhunderten als Saisonarbeitskräfte ins Schwabenland verschickt und auf Kindermärkten verkauft. Überall in Europa zogen Menschen der Arbeit nach. Schon damals zählten Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus zu den Problemen der Zeit. Mit der billigen Arbeitskraft jener, die man fern von Europa glaubte, ließen sich schon damals gute Geschäfte machen.
Europa nach zwei Weltkriegen
Zwei Weltkriege und so vieles mehr haben Europa verändert. Kein Eiserner Vorhang trennt uns mehr von den Nachbarn, den Balkanländern, den Donaustaaten. Länder wie Rumänien und Bulgarien sind uns näher gerückt seit sie EU-Mitglieder sind und haben jetzt endlich vollen Zugang zu unserem Arbeitsmarkt. Doch sie sind längst da. Nur nicht mehr unsichtbar. Z. B. jene SaisonarbeiterInnen, die ich oft auf den Feldern nahe meinem Elternhaus in der prallen Hitze schuften gesehen habe. Ihre Heimat erscheint vielen „fern von Europa“. Jahrelang hatten sie schlecht bezahlt und unter miesen Arbeitsbedingungen auf den Tiroler Feldern Gemüse geerntet. Mit Hilfe der Arbeiterkammer und des ÖGB kamen sie letztendlich zu ihrem Recht. Jetzt sind sie angekommen in Europa, in dem es auch soziale Gerechtigkeit gibt. Und viele TellerwäscherInnen, Pflegekräfte, Reinigungsfrauen und -männer mit ihnen.
Und wieder werden andere die Billigjobs übernehmen. Diejenigen, denen es wirtschaftlich noch schlechter geht; die, die noch nicht dazugehören. Wie Serbien z. B., das Ende Jänner die Beitrittsverhandlungen aufgenommen hat oder wie die Türkei, die ebenfalls verhandelt. In anderen Ländern wie eben in Bosnien und der Ukraine treiben Arbeitslosigkeit, Korruption und Armut die Menschen auf die Straße. Direkt vor der Nase haben sie das reiche Europa, so nah und doch so fern.
Woanders macht man die Schotten dicht – die SchweizerInnen, mittendrin und doch nicht dabei – haben sich für eine Einführung von Zuwanderungsquoten entschieden. Reich und neutral im Herzen Europas haben sie sich entschlossen, dieser Idee ein wenig ferner zu rücken. Schuld daran sind die von rechter Seite erfolgreich geschürten Ängste vor „Masseneinwanderung“ und Lohndumping.
Sozialer Frieden
Ängste, die auch uns nicht fremd sind und die immer wieder genutzt werden, um gegen jene mobil zu machen, die von weit her kommen, auf der Flucht vor Gewalt und Armut, auf der Suche nach Frieden und Hoffnung. Nach wie vor stranden Boote und Schiffe aus Nordafrika in Lampedusa und an den spanischen Küsten, wo jüngt auf Flüchtlinge geschossen worden sein soll. Die, die diese Reise aus der Ferne überleben und Asyl bekommen, landen als schlechtestbezahlte Arbeitskräfte auf den Obst- und Gemüseplantagen in Spanien und Italien.
In unserem Interview sprach der europäische Zeitzeuge Erhard Busek vom erfolgreichen Friedensprojekt Europa, 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Er mahnte auch, dass dieser Frieden nicht selbstverständlich ist, sondern täglich neu gesichert werden muss. Damals wie heute ist sozialer Frieden – und damit Gerechtigkeit – eines der effizientesten Mittel der Friedenssicherung – mitten in, um und auch fern von Europa.
Von Katharina Klee, Chefredakteurin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.
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