Sozialstaat: Zukunftsmodell Wertschöpfungsabgabe

Sie können nicht alles aufs Spital abwälzen«, sagt der Herr in Weiß. Schon schäme ich mich und sehe sie vor mir, all die jungen Querschnittgelähmten, die auf einen Platz in der »Rehab« warten. »Vergeblich«, sagt der Oberarzt der Unfallabteilung. Selbst für die Jungen gäbe es schon Probleme bei der Unterbringung. Den Vater mit dem Oberschenkelbruch, 75 Jahre, auf Kur: »Wenn Sie Beziehungen haben«, meint der weiße Mann tatsächlich, und fixiert mich streng durch die Brille, »könnte es sein, dass Sie ihn wo unterbringen. Das ist so, bei uns in Österreich.«

Ein Beitragszahler ohne Beziehungen ist demnach in Österreich ein Bittsteller? »Es ist nicht entscheidend, ob die Gesellschaft insgesamt älter wird. Entscheidend ist, ob sie reicher wird. Und: Ob von diesem gesellschaftlichen Reichtum mehr zur gerechten Finanzierung des Sozialstaates herangezogen wird«, meint Georg Kovarik, Leiter des volkswirtschaftlichen Referats im ÖGB, ganz allgemein zur Frage der Beitragsfinanzierung. »Man kann die Menschen dann nicht mehr damit schrecken, dass sie immer älter werden.«

»Maschinensteuer«

Die Forderung nach einer neuen Form der Besteuerung, die ein getreueres Abbild der tatsächlichen Wirtschaftskraft eines Unternehmens und des Staates insgesamt gibt, ist nicht neu. Schon 1959 wurden in Deutschland die wirtschaftlichen Auswirkungen von Sozialabgaben auf lohnintensive Klein- und Mittelbetriebe untersucht. »Inwieweit ist es möglich, anstelle der Lohnsumme eine andere Bemessungsgrundlage für die Sozialabgaben einzuführen?« lautete die Fragestellung der Studie.

Am 10. Bundeskongress des ÖGB 1983 griff der damalige Sozialminister Alfred Dallinger die bundesdeutsche Diskussion auf und zog eine Änderung der Beitragsgrundlage der Dienstgeberabgaben zur Sozialversicherung in Erwägung. 1989 legte Dallinger einen Gesetzesentwurf zur Wertschöpfungsabgabe vor, die seither eine Reihe von Bezeichnungen erhielt, die ihr in den wenigsten Fällen gerecht werden. Von »Maschinensteuer«, »Experimentierfeld für linke Steuerideen« (Kronen Zeitung, »Der Unfug mit der Maschinensteuer«, 31. Jänner 1998), bis zur »Vertreibungssteuer« von Unternehmen aus Österreich reichen die Vorurteile, mit denen die Diskussion um eine gerechtere Steuerpolitik unterbunden wird. Auch Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer meldete sich – in der ORF-Pressestunde am vergangen 28. November – zu Wort: Mit derartigen »Uraltmodellen« könne man keinen Staat machen.

Uraltes Modell

Uralt ist tatsächlich die Finanzierung unseres Sozialsystems, das in der arbeitsintensiven Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstand. Damals machte es Sinn, als Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherung die Löhne und Gehälter heranzuziehen. Aber aus den Fabrikhallen, in denen anno dazumal tausende Arbeiter beschäftigt waren, wurden menschenleere, aber wertschöpfungsintensive und hochprofitable Produktionsstätten. Die Beitragsgrundlage ist nach wie vor die Bruttolohn- und Gehaltssumme. Mit ihr werden die Sozialversicherungsbeiträge (Pensionen, Gesundheit, Unfallkosten und Arbeitslosigkeit) finanziert. Ebenso die Wohnbauförderung, die Kommunalabgabe und der Beitrag für den Familienlastenausgleichsfonds (FLAF), aus dem unter anderem Familienbeihilfen und Karenzgeld berechnet werden.

Weiterentwicklung

Am 15. ÖGB-Bundeskongress 2003 stellte sich der ÖGB einmal mehr hinter die Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung von Sozial-, Gesundheits- und Pensionssystem. Seit Alfred Dallinger ist das Konzept weiterentwickelt worden. Die Modelle ähneln einander, Auffassungsunterschiede gibt es über die Schnelligkeit und Form der Einführung. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die Berechnung der Sozialabgaben nach der Lohnsumme den heutigen Wirtschaftsstrukturen nicht mehr gerecht wird. »Die Alternative ist die Wertschöpfungsabgabe«, meint Hans Kohlmaier, Vorsitzender des Zentralbetriebsrates der Hotel-Imperial-Gruppe.

Die Bezeichnung der Abgabe leitet sich davon ab, dass die Wertschöpfung eines Betriebes alternativ zur Lohn- und Gehaltssumme als Beitragsbasis für die Sozialleistungen dient. Georg Kovarik, Leiter des volkswirtschaftlichen Referats im ÖGB: »Damit wird die Bemessungsgrundlage breiter.

Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens soll zum Gradmesser werden, nicht nur die Lohnsumme.« Die Komponenten der Wertschöpfung enthalten dann die Lohnsumme, Abschreibungen, Gewinne, Fremdkapitalzinsen, Mieten, Pachten und Steuern (siehe Kasten).

Immer mehr Stimmen, die kaum als linke Experimentierer bezeichnet werden können, reihen sich in den Chor der Befürworter, die bislang aus dem Bereich der Gewerkschaften und Sozialdemokratie kamen.

Tabubrüche

»ÖAAB bricht Tabu« titelte die »Presse« unter dem Schlagwort »Maschinensteuer« am 30. 1. 1998.

»Die mitgliederstärktste Teilorganisation der ÖVP befürwortet nun die Wertschöpfungsabgabe.« »Ja, das ist ein Tabubruch«, wurde der damalige ÖAAB-Generalsekretär Walter Tancsits zitiert. »Probieren wir es aus.« Jedenfalls habe der ÖAAB-Bundesvorstand »einhellig den Beschluss gefasst, die Wertschöpfungsabgabe beim Familienlastenausgleichsfonds einzuführen«.

Tanscits Begründung: »Um Rationalisierungen nicht nur über eine
Rationalisierung von Arbeitsplätzen attraktiv zu machen.« Die Reaktion des damaligen Wirtschaftskammer-Generalsekretärs Günther Stummvoll: »Es istlegitim, dass der ÖAAB eine andere Meinung hat. Sie ist aber nicht die der ÖVP.«

In der Presse vom 21. 9. 2004 will der nunmehrige Wirtschaftskammer-Generalsekretär Reinhold Mitterlehner bei der Krankenkassenfinanzierung »Systemflüchtlinge« einfangen – und denkt dabei an Sozialversicherungsbeiträge auf Mieten und Pachten.

»Das heißt anderswo ›Verbreiterung der Bemessungsgrundlage‹, ist der erste Schritt zur Wertschöpfungsabgabe und in erweiterter Form in den vergangenen Monaten in Österreich unter anderem von SP-Finanzsprecher Christoph Maznetter, dem ÖGB, der Arbeiterkammer, der steirischen Ärztekammer, VP-Arbeitnehmerchef Fritz Neugebauer, den Grünen und Attac gefordert worden«, schreibt Presse-Kommentator Josef Urschitz.

Nicht erzkapitalistisch

Nicht gerade ein erzkapitalistisches Konzept sei dies, aber im Prinzip ein grundvernünftiges.

Die Rahmenbedingungen seien unumstritten: Es gelte weiterhin ein Sozialsystem zu erhalten und die zu hohen Arbeitskosten zu senken. Wenn hier Konsens herrsche, sei der gedankliche Schritt zur Verbreiterung der Finanzierungsbasis nicht mehr weit.

Der große Nachteil, so Urschitz: Eine echte Wertschöpfungsabgabe, die Mitterlehner dezidiert ablehnt, würde kapitalintensive Branchen stark belasten, einen Teil der Industrie vertreiben und Österreich als Standort für Finanzinstitutionen unattraktiv machen.

»Die Steuern sind der Eckpunkt in einem Sozialstaat, von dem vieles abhängt: Die Frage der Pensionen, der Krankenkassen, der Arbeitslosenversicherung, der Bildung und der Infrastruktur«, meint Hans Kohlmaier. Beim 15. ÖGB-Bundeskongress forderte der Gewerkschafter der HGPD (Hotel, Gastgewerbe, persönliche Dienste) eine Neupositionierung der Gewerkschaften in Sachen Steuern. Der rege Widerhall führte zur Gründung der überfraktionellen Steuerplattform, die seither – auch im Internet – eine ebenso rege Diskussionsrunde führt. »Es sollte eine strategische Neuorientierung in der Arbeit des ÖGB sein und keine parteipolitische Sache.

Will man in sozialen Fragen etwas erreichen, muss zuerst die Steuerfrage in Angriff genommen werden. Wir glauben, dass dies in Form eines Aktionsbündnisses aller Parteien, aller Nichtregierungsorganisationen und aller interessierten Menschen geschehen und der ÖGB dabei eine führende Rolle spielen soll.« Als taktische Methode, so Hans Kohlmaier, wäre eine Volksabstimmung zielführend. Drei Forderungen stehen im Zentrum der Plattform: Die Wertschöpfungsabgabe, die das Feld der Gewinn-erzeugung, sprich Wertschöpfung abdeckt.

Die Tobin-Steuer, um den ausufernde Finanzspekulationen zu entgegnen und eine Energieabgabe zur ökologischen Lenkung und Umgestaltung. Sind all dies nur utopische Vorstellung von linken Experimentierern zu Lasten der Unternehmen?

Reformen

Das Wort »Reform« ist heute fast zum Synonym für Leistungskürzungen geworden. Die Eigenverantwortung des einzelnen Bürgers gilt als neue Prämisse, der Opa möge sich die »Designerbrille« selbst finanzieren. Glücksspiele boomen wie einst die Pyramidenspiele in Albanien. Tausende bangen dreimal die Woche an den Fernsehgeräten mit dem Mitbürger am Fragestuhl: Schafft es die Studentin mit dem Telefonjoker bei Armin Assinger? Die wirkliche Millionenshow findet hinter den Kulissen statt.

Mit Steuersenkungen unter dem -Vorwand der Standortsicherung werden Spitzenverdiener und Großunternehmer finanziert. Der Verzicht für den einzelnen Bürger scheint unausweichlich, die Belastungen der Unternehmen sind zu groß, der Sozialstaat ist unfinanzierbar. Das Gegenteil stimmt, meint ÖGB-Experte Georg Kovarik. Es gehe primär darum, die Steuergeschenke an die Großunternehmer zu finanzieren (siehe Interview).

Warum Wertschöpfungsabgabe?

Die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit im Verhältnis zur Besteuerung des Faktors Kapital vermindert den Einsatz von Arbeit in der Produktion bzw. führt zur Ersetzung durch Maschinen. Die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung von Sozialleistungen – oft auch als »Umbasierung« der Sozialversicherungsbeiträge bezeichnet – kann aufkommensneutral erfolgen, erläutert Georg Kovarik. Ein erster Schritt wäre etwa eine Umbasierung der Beiträge zum FLAF, mit einer Senkung des Beitragssatzes von derzeit 4,5 auf 2,5%. Mehr Beiträge hätten kapitalintensive Branchen, wie Energiewirtschaft, Banken, Versicherungen und die Landwirtschaft, zu leisten. Entlastet würden Industrie und Gewerbe insgesamt, der Handel und der Bausektor. In einer WIFO-Studie aus 1997 wurde die Beschäftigungswirkung einer Umstellung der FLAF-Finanzierung untersucht. Mittelfristig, so das Ergebnis, könnte durch diese geringfügige Änderung 21.000 Arbeitsplätze entstehen.

»Eine vorerst aufkommensneutrale Wertschöpfungsabgabe würde auch zu einer Steigerung des Beitragsaufkommens führen, weil die erweiterte Bemessungsgrundlage rascher steigt als die in den letzten 15 Jahren sinkende Lohnsumme. Von einer adäquaten Mitfinanzierung des Sozialstaates könnten sich Unternehmen, die jetzt durch Rationalisierungsinvestitionen und Kündigungen sparen, nicht mehr so leicht drücken«, schreiben Günther Chaloupek, Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der AK und Georg Kovarik in einem Grundsatzpapier (siehe Internetseite der Steuerinitiative:www.steuerini.at)

Sparen bei Kranken

Schon im Jänner 2001 ließ Sozialminister Haupt anklingen, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherung, sprich Wertschöpfungsabgabe, zu überlegen.

Auch er kann nicht linker Experimentierfreudigkeit bezichtigt werden. Der Anlass: Eine Unterredung im Rahmen der Gesprächsreihe von ÖGB-Präsident Verzetnitsch, um bei den Ministern die Forderungen der ÖGB-Urabstimmung zu deponieren. VP-Klubobmann Andreas Khol bremste: Haupts Ansicht sei eine Meinungsäußerung, aber keine Ankündigung einer konkreten Politik.

Im November 2004 forderte Werner Thum, Vorsitzender der ÖGB-Pensionisten, die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe. »Mit dem Gesundheitspaket beschert die Regierung den Menschen in Österreich die bisher größten Leistungskürzungen der Zweiten Republik.« Rund 300 Millionen Euro an neuen Belastungen plane die Regierung den Österreichern im Gesundheitswesen aufzubürden. »Zur Finanzierung des Gesundheitswesens fällt der Regierung nichts anderes ein als Leistungskürzungen und Selbstbehalte.«

Häufiges Gegenargument: Nirgends in Europa gäbe es eine Wertschöpfungsabgabe. In Dänemark gibt es sie seit 1988 in Form einer Arbeitsmarktabgabe.

Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung werden von der betrieblichen Wertschöpfung bemessen. In Österreich gibt es zwar keine Abgabe für Wertschöpfung.

Dafür gibt es eine so hohe Besteuerung der Arbeit wie sonst nur in Australien. In 14 OECD-Staaten ist eine Besteuerung der Lohnsumme überhaupt unbekannt.

»Der Faktor Arbeit muss entlastet werden. Immer weniger Menschen produzieren immer mehr. Es ist an der Zeit, europaweit über die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe nachzudenken«, meint ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch. In der vielfach von der Wirtschaft geforderten allgemeinen Lohnzurückhaltung liegt nicht die Lösung.

Der Reallohnanstieg in Europa lag zwischen 1991 und 2002 um etwa neun Prozentpunkte unter dem Produktionsanstieg. Dennoch wurden massiv Arbeitsplätze abgebaut. Und was dem einzelnen Betrieb vielleicht nützt, ist für die Volkswirtschaft schädlich.

Und schließlich: Wer soll all die billig produzierten Waren und Dienstleistungen kaufen, wenn die Einkommen sinken?

Der Teufelskreis von niedrigen Löhnen, wachsender Arbeitslosigkeit und steigenden sozialen Lasten ist durch den Rückzug des Staates nicht lösbar. Auch bei der Millionenshow kommen nur Wenige zum Zug.


I N F O R M A T I O N

Mythos Maschinensteuer

Was ist die Wertschöpfungsabgabe?
Sie leitet ihre Bezeichnung davon ab, dass die Wertschöpfung eines Betriebes alternativ zur Lohn- und Gehaltssumme als Beitragsbasis für Sozialleistungen dienen soll. Mit dem Anknüpfen an die Wertschöpfung wird die Bemessungsgrundlage breiter. Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens soll zum Gradmesser werden, nicht allein die Lohnsumme.

Warum Wertschöpfungsabgabe?
Die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit im Verhältnis zur Besteuerung des Faktors Kapital vermindert den Einsatz von Arbeit in der Produktion bzw. führt zu seiner Ersetzung durch Maschinen. Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherung haben dazu geführt, dass nach zusätzlichen und breiteren Finanzierungsquellen gesucht wurde. In Österreich kommt als spezieller Beweggrund dass, dass aus den lohnbezogenen Beiträgen zum Familienlastenausgleich in erheblichem Umfang auch Leistungen an Selbständige (Bauern und Gewerbetreibende) finanziert werden.

Ist die Wertschöpfungsabgabe ein Maschinenkiller?
Die Bezeichnung »Maschinensteuer« ist unzutreffend, da durch eine Wertschöpfungsabgabe zwar die Abschreibungen besteuert werden sollen, nicht aber einseitig Maschinenankäufe. Es geht also nicht um eine einseitige Belastung des Kapitals, sondern um eine gleichmäßige Belastung aller Komponenten der Wertschöpfung.
Quelle: ÖGB-Volkswirtschaftliches Referat

Von Gabriele Müller (Freie Journalistin in Wien)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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