Ein Schreib-Arbeiter, der die Revolution ausruft. Ein Nachtportier mit einem seltsamen Doppelleben. Eine Frau, die ihr Selbstbewusstsein an einer Supermarktkasse wiedergewinnt. Ein Postler, der sein eigenes Postamt überfällt. Junge Frauen und Mädchen, die an einer Virginity-Show teilnehmen. Eine Büroangestellte, die ein zufälliges Date mit George Clooney hat. Sie und noch viele andere treffen auf die »Rote Lilo« und den »Wolfsmann«. Der Ort dieser insgesamt 33, auf den ersten Blick teilweise seltsamen Begegnungen: die Arbeitswelt. Wenn nun die AkteurInnen der im Rahmen des Literaturprojektes »Der Duft des Doppelpunktes« entstandenen Anthologie »Rote Lilo trifft Wolfsmann« ihre Geschichten »offenbaren«, hämmerten, hobelten und feilten die TeilnehmerInnen im Laufe von zwei Jahren an ihren Texten. Am Anfang dieses Prozesses steht der erste Geburtstag des Literaturblogs »Duftender Doppelpunkt«. Dieser fiel auf den 1. Mai 2006 und wir – Petra Öllinger und Georg Schober – schrieben aus diesem Anlass einen zweistufigen Literaturpreis aus. Als Thema der Ausschreibung wählten wir: die Arbeitswelt.
Ein scheinbar »alter Hut«
»Arbeiterliteratur signalisiert heutzutage Anachronismus. Ein Begriff aus einer scheinbar längst vergangenen Epoche, eine niemals klar definierte Gattung, zumal sich Kunst und Arbeitswelt im deutschsprachigen Raum geradezu ausschließen. Die anglophone wie frankophone Literaturgeschichte betrachtet die Literatur ohne Ausklammerungen, in mediterranen Ländern zählt Volkskunst ohnehin zum Kulturgut, und in Regionen, in denen die Oralliteratur überwiegt, zeugen noch heute die Interpretationen in Form von Songs, Videoclips und Filmen vom ungebrochenen Stellenwert einer hierzulande belächelten Kunstform«, schreibt Michael Tonfeld, erster Sprecher des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, Deutschland, im Vorwort der Anthologie.
Das Sujet der »Arbeitswelt« in der deutschsprachigen Literatur scheint zur Zeit nicht en vogue zu sein. Doch zeigen uns die Anzahl und die Qualität der Beiträge, dass dieser wesentliche Bereich menschlichen Seins nach wie vor SchriftstellerInnen intensiv beschäftigt. Bis Ende November 2006, dem Einsendeschluss der ersten Wettbewerbsstufe, trafen bei uns über 400 anonymisierte Beiträge von insgesamt 323 TeilnehmerInnen ein. Neben einer Fülle an Einsendungen aus Österreich und Deutschland und etwas zurückhaltender aus der Schweiz, erhielten wir auch Texte aus Polen, Spanien, Tschechien, Ungarn und der Ukraine. Anfang Jänner 2007 war es so weit – die Jury (Robert Hobl, Werner Lang, Peter Mitmasser und wir) trat zusammen. Als HerausgeberIn und MitjurorIn erlebten wir bei der Lektüre der Kurzgeschichten und Gedichte Berührendes, Aufrührendes, Humorvolles, Spannendes: Der Lurch wird bei der Hausarbeit gejagt, ein ehemaliger Schäfer verbringt seinen Lebensabend in einem Pflegeheim, einem kochfreudigen Mann wird das Zubereiten von Spinat zum Verhängnis … Erlebbar wurden für uns aber auch Lebensbedingungen, an denen viele Menschen zu zerbrechen drohen: zunehmender Arbeitsdruck, Entsolidarisierung, Mobbing, Arbeitslosigkeit.
Die Jury stand vor der Herausforderung, aus der Fülle der qualitätsvollen Beiträge die besten zehn herauszufiltern. Es wurde gelesen, besprochen und, teilweise sehr kontroversiell, diskutiert – schlussendlich wurden die zehn PreisträgerInnen gekürt. Diese standen nun ihrerseits vor der Herausforderung, an Hand von zehn Kurzbiographien, die geeignete Tutorin, den geeigneten Tutor zu wählen; im Februar 2007 startete die zweite Runde des Wettbewerbs.
Netzwerkaufbau
Von Anfang an war für uns klar: Wir wollten uns nicht auf die Vergabe eines Preises beschränken. Einerseits sollte die Veröffentlichung der Texte in der Anthologie den AutorInnen zu größerer Bekanntheit verhelfen. Andererseits war der zentrale Gedanke der Ausschreibung, Menschen, die am Anfang ihres literarischen Weges stehen, durch die Zusammenarbeit mit einer im Literaturbetrieb erfahrenen Person zu unterstützen. Unter den TutorInnen befanden sich Mitglieder des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt Deutschland (Markus Dosch, Marie-Sophie Michel, Marinus Münster, Horst Oberbeil, Ingeborg Struckmeyer) und im österreichischen Literaturbereich Tätige (El Awadalla, Raimund Bahr, Armin Baumgartner, Gerald Grassl, Traude Korosa). Das Ziel war nicht ein »belehrendes« Verhältnis »LehrerIn-SchülerIn«, sondern die Auseinandersetzung mit dem literarischen Schaffen sowohl auf der Seite der PreisträgerInnen als auch auf jener der TutorInnen. Die Zusammenarbeit soll auch dazu dienen, Kontakte zu Verlagen, Zeitschriften und anderen Kulturschaffenden herzustellen.
Die Teamfindung ging rasch vonstatten. Um einen strukturierten Rahmen zu bieten, legten wir eine maximal dreimonatige gemeinsame Schaffensperiode fest. In der Praxis gestalteten sich die einzelnen Kooperationen sehr unterschiedlich. Einige Teams entwickelten, konform mit den Ausschreibungsbedingungen, einen projektbezogenen, zeitlich beschränkten Austausch. Andere »übererfüllten« den Plan und arbeiten bereits an weiteren kooperativen Projekten. In dieser Phase verfassten die PreisträgerInnen einen zweiten Text zum Ausschreibungsthema – auch die TutorInnen stellten einen Beitrag für die Anthologie zur Verfügung. Besonders freuten wir uns, dass uns TeilnehmerInnen, die nicht zu den GewinnerInnen zählten, immer wieder über ihre Entwicklung berichteten. Einige wurden bereits aufgrund ihrer Beiträge, die sie auf unserer Site ins Netz stellten, von anderen Medien zwecks Publikation von Texten kontaktiert. Unser Wunsch, eine Vernetzung innerhalb der schreibenden »Zunft« zu entwickeln, erfüllte sich … Ein Netzwerk, in dem sich der Begriff der Solidarität manifestiert: durch gegenseitige Unterstützung und voneinander Lernen.
Michael Tonfeld formuliert vorsichtig optimistisch: »Wenn die schriftliche Auseinandersetzung mit der Situation abhängig Arbeitender nun allen Unkenrufen zum Trotz wieder erstarkt, von Hamburg über Berlin und Leipzig bis nach Wien wiederum Werkstätten schreibender Lohnabhängiger entstanden sind, beweist dies, die Auseinandersetzung mit den Auswüchsen des Spätkapitalismus in Zeiten der Globalisierung beginnt von neuem, wie Krimis, Satiren, selbst Lyrikbände und Romane belegen. Die Gegenöffentlichkeit lebt, wenn auch auf Sparflamme.« Und sie lebt auch in der Anthologie »Rote Lilo trifft Wolfsmann« – in Form von 33 literarischen Stimmen.
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Von Petra Öllinger, Georg Schober (Arbeitspsychologin Mitarbeiter der Sozialwissenschaftlichen Bibliothek der AK Wien)
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