Rekord und Massensport

Julius Deutsch, 1931: »Dieses brutale egoistische, nur an den eigenen Vorteil denkende Erfolgsstreben im Wirtschaftsleben des Kapitalismus findet seine getreue Widerspiegelung im bürgerlichen Sport. Auch hier finden wir das Streben des Einzelnen, sich auf Kosten aller anderen in die Höhe zu bringen. … Um die Erreichung solcher Ziele möglich zu machen, artet der bürgerliche Sport in einen Rekordwahnsinn aus. … Man verstehe uns recht: Wir sind selbstredend nicht grundsätzlich gegen Spitzenleistungen. Wir sind nicht dagegen, dass die Sportler in edlem Wettbewerb ihre Kräfte messen und ihre Leistungen zu steigern versuchen. Wir sind aber ganz entschieden dagegen, dass aus dem Sport, der alle Teile des Körpers harmonisch entwickeln soll, die Hypertrophie eines einzelnen Muskels wird. Mit einem Worte, wir wenden uns dagegen, dass der Sport zu einem Artistenkunststück herabsinke, dass an die Stelle der Ertüchtigung des ganzen Menschen die übermäßige Aufzüchtung einer einzigen Fertigkeit tritt. … Unser Ziel ist die Ertüchtigung der Massen. Im letzten Jahrzehnt hat sich in dieser Beziehung eine große, kulturhistorisch ungemein bedeutsame Entwicklung vollzogen. … Die Voraussetzung für die sportliche Betätigung der breiten Masse ist die kürzere Arbeitszeit.

So lange die Proletarier zehn oder elf Stunden, ja oft noch mehr, im Tage arbeiten mussten, konnte von einem ernsthaften Sportbetrieb keine Rede sein. Erst der Achtstundentag schuf den Arbeitersport. Natürlich nicht er allein. Die Gesamtheit der sozialen Errungenschaften, die die Nachkriegszeit dem Proletariat brachte, bildete die Grundlage, auf der sich der Sport der Massen aufbauen konnte. Andererseits ist der Massensport ein weithin sichtbares Zeugnis des erfolgten Aufstieges des Proletariats. … Der Arbeitersport ist mit dem Werden einer neuen Kultur in der Arbeiterklasse auf das engste verknüpft. Er hat am meisten dazu beigetragen, die Arbeiter vom Wirtshaus loszulösen und ihnen die Schönheiten des Wanderns in der freien Natur zu erschließen. Er flößte ihnen Mut und Selbstvertrauen ein, hob das stolze Bewusstsein eigener Kraft und schuf damit Voraussetzungen für die Entfaltung geistiger Werte.« Dieser Text stammt aus der Broschüre »Unter roten Fahnen! Vom Rekord zum Massensport«, die aus Anlass der zweiten Internationalen Arbeiter-Sport-Olympiade in Wien 1931 herausgegeben wurde. Die Auflage betrug 420.000 Exemplare.

Julius Deutsch war einer der führenden sozialdemokratischen Politiker in der Ersten Republik und Verfasser der ersten großen österreichischen Gewerkschaftsgeschichte Österreichs. In der Sport-Broschüre sprach er auch die Konfrontation mit dem Nationalsozialismus an, der damals längst eine wichtige politische Rolle als Sammelbecken von Unzufriedenen spielte.

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Von Herausgesucht und kommentiert von Dr. Brigitte Pellar Historikerin, Schwerpunkt Geschichte und Entwicklungsanalyse der ArbeitnehmerInneninteressenvertretungen

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