Plötzlich nur Mensch zweiter Klasse

Es ist eng in der Ambulanz, durch einen schummerig beleuchteten Gang werden eilig neue PatientInnen auf Bahren geschoben, ältere zumeist, halb weggetreten, die Augen auf die Decke gerichtet, wo die Neonröhren vorbeiziehen. Hinter der großen Tür, die pausenlos auf- und zuschwingt, wird diagnostiziert und stabilisiert, wiederbelebt und gerettet. Der normale Wettlauf gegen die Zeit. Aber in Wahrheit ist nichts normal in Griechenlands größtem Krankenhaus. Hinter der Tür kämpfen die ÄrztInnen gegen den Zusammenbruch des Gesundheitswesens nach fünf Jahren Sparpolitik, die so radikal war wie nirgendwo sonst in Europa.

Kein Geld für Heilung

Die Angehörigen draußen wissen das. Sie sitzen auf Plastikschalensitzen, wie man sie in den 1980er-Jahren hatte, dunkelblau oder orangefarben. „Ich sage ihm schon seit drei Jahren, er soll sich untersuchen lassen“, klagt eine Frau, „aber er hat Angst vor den Krankenhäusern.“ Agelikki Keko, eine 78-jährige Athenerin, ist aufgebracht. Ihr Ehemann ist beim Spazierengehen umgekippt. Jetzt liegt er drinnen in der Ambulanz, die Tochter hat angefangen, den Papierkram zu erledigen: Registrierung, die ersten Gebühren, Einverständniserklärung. „Es ist dramatisch. Wir haben so etwas noch nie in Griechenland erlebt“, sagt Agelikki, „ich weiß nicht, wer daran Schuld hat. Nur Gott kann uns helfen.“ Ihr Mann hat vermutlich ein schweres Herzproblem. Vor allem aber hat er kein Geld, um sich Heilung zu erkaufen auf diesem schnell sinkenden Schiff. 950 Betten stehen im Evangelismos-Krankenhaus im Stadtzentrum von Athen. Es fehlt an ÄrztInnen für die OP, an PflegerInnen für die Betreuung, an Geld für Medikamente und den täglichen Spitalbedarf – die sind nämlich alle nur auf Pump gekauft.
Ganz oben, im elften Stock des Hauptgebäudes, erklärt Anastasios Grigoropoulos die Misere. Er ist kein Arzt, sondern Manager – und Präsident von Evangelismos. „Ein politischer Posten“, sagt er, „leider.“ Ein Gesundheitsminister der konservativen Vorgängerregierung hat ihn im vergangenen Jahr eingesetzt, der neue will nicht nur seinen Rücktritt, sondern den aller anderen Spitalpräsidenten im Land. Grigoropoulos denkt nicht daran. Er habe einen Vertrag mit dem Staat unterschrieben, sagt der Ökonom, beide Seiten müssen sich daran halten. Dabei trennt den Spitaldirektor eigentlich nicht viel von Panayiotis Kourouklis, den Minister von der linksradikalen Partei Syriza. Es geht ja in erster Linie um Zahlen, und die sind schlecht, absurd schlecht. 200 Millionen Euro an Personal- und Betriebskosten im Jahr hatte das Evangelismos-Krankenhaus in Athen verbucht, als 2010 die griechische Finanzkrise ausbrach. 120 Millionen Euro sind es bei sparsamer Führung, sagt Grigoropoulos. Veranschlagt wurden aber 72 Millionen Euro für dieses Jahr, viel weniger also, als für den Betrieb notwendig wären. Bis Mai, als Regierung und Kreditgeber noch in Brüssel verhandelten, hat Grigoropoulos bereits 30 Millionen ausgegeben. Bekommen hat er vom Staat bis dahin ganze zwei Millionen Euro.

Aus dem Gleichgewicht

Der Kahlschlag im Gesundheitswesen zusammen mit der Rezession hat die griechische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht gebracht. 20 oder 50 Euro in der Ordination beim Hausarzt, 25 Prozent Selbstbehalt bei Medikamenten in der Apotheke wurden plötzlich für sehr viele ein Problem. Arbeitslose verlieren nach zwei Jahren ihren Versicherungsschutz. Erst Mitte 2014 hat die Regierung ein Gesetz erlassen, das den mindestens zwei Millionen Menschen ohne Krankenversicherung freie Behandlung in Spitälern ermöglichte – nach entsprechender Wartezeit, die medikamentöse Behandlung nach dem Krankenhausaufenthalt nicht inkludiert. Woher das Geld dafür kommen soll, sagte der Gesundheitsminister damals nicht.
„Die Griechen sind Menschen zweiter Klasse geworden“, stellt Christos Sideris fest. Er ist einer der Mitbegründer der ersten „Sozialklinik“ in Athen, die nicht versicherte Griechen und Immigranten behandelt. 2011, als die Arbeitslosenrate in die Höhe schoss und die Griechen Woche für Woche auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament gegen den Sparkurs protestierten, tat sich Sideris mit fünf anderen zusammen und überredete die Gemeindeverwaltung in einem Athener Außenbezirk im Süden, ihnen eine Baracke auf dem Gelände des früheren Flughafens Helleniko zu überlassen. „Die Klinik ist ein Weg, um Widerstand gegen die Krise zu leisten und den Krieg, der gegen die griechische Gesellschaft geführt wird“, sagt der junge Grieche.

Horrorgeschichten

Jahr für Jahr wird seit 2010 im Gesundheitsbereich um 15 bis 20 Prozent gekürzt. Es gibt Horrorgeschichten wie jene von dem 54-jährigen Griechen, der schon im OP-Saal lag und einen Herzschrittmacher erhalten sollte. Dann kam plötzlich der Buchhalter des Spitals und ließ die Vorbereitungen zur Operation abbrechen, weil die Kostenübernahme nicht gesichert war. Als ein öffentlicher Protest losbrach und der Gesundheitsminister noch von einer Lügenkampagne sprach, entschuldigte sich die Krankenhausführung. Der Vorfall ereignete sich im Evangelismos.
Ganz zu Beginn sei die Krise auch eine Chance gewesen, endlich aufzuräumen, meint Spitaldirektor Grigoropoulos. Neun Milliarden Euro habe Griechenland früher jedes Jahr für die Gesundheit ausgegeben, so viel wie Spanien, nur mit viermal weniger EinwohnerInnen. Bis 2008 haben griechische Krankenhäuser keinen Haushalt veröffentlicht, sagt Grigoropoulos, der vor Evangelismos ein kleineres Spital in Athen geleitet hatte. „Aber von der Chance zur Neuordnung sind wir schrittweise ins Gegenteil gekommen“, sagt er. „Keiner hat die realen Kosten eines Krankenhauses berechnet. Die Troika hat einfach festgelegt: Nehmt 2,2 Milliarden Euro und verteilt sie auf die Spitäler im Land.“ Und danach wurde immer weiter gekürzt.
Wie er nun mit seinen bisher zwei Millionen Euro in diesem Jahr zurechtgekommen ist? „Wir bezahlen die Lieferanten nicht und hoffen, dass sie Geduld haben“, sagt Grigoropoulos. Aber das ist bei Weitem nicht alles. Seit fünf Jahren ist hier niemand mehr eingestellt worden. Rund 200 DoktorInnen und 400 PflegerInnen fehlen. In manchen Abteilungen müsse eine Krankenschwester nachts 40 bis 50 PatientInnen betreuen, berichtet Dimitris Pitsolas, Vizepräsident der Union der KrankenpflegerInnen Griechenlands. „Klar, dass da etwas schiefgehen kann.“ Auch er arbeitet im Evangelismos. Die schwierige Situation wirkt sich auch auf die Belegschaft aus. Apathie, Depressionen, immer wieder zwei, drei Tage Abwesenheit wegen Krankheit sieht er bei seinen KollegInnen. Es sind die Symptome für ein Burn-out.

ÄrztInnen-Exodus

Die Bezahlung ist schlecht, ob für PflegerInnen oder ÄrztInnen: 750 Euro für die einen, rund 1.000 bei den anderen, ein bisschen mehr nach fünf oder zehn Berufsjahren. „Wir hatten nie soziale Anerkennung, wir hatten immer nur mit dem Schmerz der Patienten zu tun“, sagt Fotinin Katsiliani, die Chefin der PflegerInnen im Spital. „Aber jetzt ist alles noch sehr viel schwerer geworden.“ Weil sich die meisten keinen Besuch mehr beim Hausarzt leisten können, kommen sie gleich zur Ambulanz ins Krankenhaus: 30 Prozent mehr PatientInnen bei schrumpfendem Personal.
Die ÄrztInnen wiederum wandern gleich aus. „Es ist ein Riesenproblem für Griechenland geworden“, sagt George Patoulis, der Präsident der Athener Ärztevereinigung und Bürgermeister im wohlhabenden Stadtteil Maroussi. Die Zahl der spezialisierten ÄrztInnen, die das Land verlassen, habe sich in den Krisenjahren verfünffacht. In Helleniko, im Athener Süden, wo auch die Sozialklinik steht, gibt es derzeit nicht einmal mehr eine/n AllgemeinmedizinerIn in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Die Menschen kommen dann eben zur Klinik mit den ÄrztInnen, die auf freiwilliger Basis arbeiten. 16.000 Besuche waren es 2014, berichtet Christos Sideris. Im sechsten Jahr der Krise hat es ihn auch noch selbst erwischt: Der Mitbegründer der Sozialklinik verlor gerade seinen Job in einer Reederei.

Internet:
Sozialklinik in Helleniko:
www.mkiellinikou.org

Nachlese:
Carmen Janko: „Wir wollen unser Leben zurück! – Reportage über die Klinik der Solidarität“, in Arbeit&Wirtschaft 10/2013

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Von Markus Bernath aus Athen, Auslandskorrespondent der Tageszeitung „Der Standard“

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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