Besondere Gesprächs- und Verhandlungskultur als Kennzeichen der Sozialpartnerschaft: Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg ließen Arbeiterkammer, ÖGB, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer die großen Gegensätze aus der Zwischenkriegszeit überwinden. Kooperation unter den Sozialpartnern, der „Geist der Lagerstraße“ – Synonym für die notwendige Verdrängung des Bürgerkriegs von 1934 – als Mittler. Tragbare Kompromisse nach beiden Seiten nebst Zielen im gesamtgesellschaftlichen Interesse prägten das Arbeitsverhältnis.
Wiederaufbau gemeinsam bewältigt
Eine Herausforderung, die vor allem auch gelingt, wenn es ein gutes Gesprächsklima gibt. Schließlich konnte der Wiederaufbau nur gemeinsam bewältigt werden. Die ersten Vereinbarungen der Sozialpartner kamen von 1947 bis 1951 zustande, nämlich die fünf Preis-Lohnabkommen. „Das Ziel war, bei drohender Nachkriegsinflation die Preise niedrig zu halten und durch moderate Lohnforderungen nicht zu sehr hinaufzutreiben“, erklärt Thomas Delapina, Arbeiterkammer-Experte und Geschäftsführer des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen. Der Versuch, eine Verhandlungsrunde (mit Beteiligung einiger Minister) als „Wirtschaftskommission“ gesetzlich zu verankern, scheiterte am Verfassungsgerichtshof – das Gremium wurde als verfassungswidrig eingestuft und aufgehoben. Ab 1957 kamen die Sozialpartner also wieder informell zusammen. Die Paritätische Kommission wurde gebildet, dazu im Laufe der Jahre auch vier Unterausschüsse (Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Unterausschuss für internationale Fragen, Lohnunterausschuss sowie Wettbewerbs- und Preisunterausschuss). In weiterer Folge kümmerten sich die Sozialpartner nicht bloß um Tarifverträge und Arbeitsrecht, sondern auch um weite Teile der gesamten wirtschaftlichen Willensbildung.
Thomas Delapina: „Österreich war in den 1950er-Jahren eine wirtschaftlich weitgehend geschlossene Welt.“ Der Preisunterausschuss (wurde später zum Wettbewerbs- und Preisunterausschuss erweitert) musste Preiserhöhungen für alle in Österreich standardisiert hergestellten Produkte genehmigen. Heute kaum mehr vorstellbar. Ebenso wurden die Preise in der Agrarpolitik kontrolliert. Große Leistung: Im neu zu organisierenden Sozialversicherungssystem wurde die Selbstverwaltung so geregelt, dass die Versichertenvertreter von den Sozialpartnern bestimmt wurden. Impulsgeber: In vielen Bereichen der Wirtschaftspolitik wurden Empfehlungen der Sozialpartner übernommen oder auf Basis ihrer Informationen entschieden. Die klassische Phase, in der die Sozialpartner am Höhepunkt ihres Einflusses standen, wurde von ÖGB-Präsident Anton Benya (ab 1963) und Wirtschaftskammerpräsident Rudolf Sallinger (ab 1964) geprägt.
Mit einer Organisationsdichte von über sechzig Prozent verfügte der ÖGB über ein beachtliches Durchsetzungsvermögen. Die Freundschaft der Patriarchen Benya und Sallinger hielt allen Belastungsproben stand, ihr Wort galt – auch in der jeweiligen Partei. Damit waren auch Streiks in Österreich so gut wie ausgeschlossen. Anton Benya galt als kluger Verhandler, hatte ein Gespür dafür, was er seinem Gegenüber zumuten konnte. Menschlich: Bahnte sich eine Sackgasse an, half eine Kartenpartie über Meinungsverschiedenheiten hinweg. Gemeinsam schnapsen für den Wirtschaftsaufschwung. Entsprechend positiv hat sich diese Zusammenarbeit auf die gesamte Wirtschaft ausgewirkt. „Der Austrokeynesianismus, eine wesentliche Säule des rasanten Aufholprozesses der österreichischen Wirtschaft, war ohne funktionierende Sozialpartnerschaft nicht denkbar“, weiß Arbeiterkammer-Experte Delapina. Als Säule fungierte die Hartwährungspolitik, die Bindung des Schillings an die D-Mark. „Die Strategie war erfolgreich, weil die Sozialpartner Gesamtverantwortung übernahmen und bei den Lohnabschlüssen auf die Wettbewerbsfähigkeit Rücksicht nahmen.“
Sozialpartner und EU-Beitritt
Anton Benya blieb bis 1987 an der Spitze des ÖGB, Rudolf Sallinger bis 1990 am Ruder der Wirtschaftskammer. Obwohl sich ihre Nachfolger Fritz Verzetnitsch und Leopold Maderthaner persönlich nicht besonders gut verstanden, funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den Verbänden weiterhin gut. Das zeigte sich auch beim EU-Beitritt Österreichs. Die Sozialpartner bekamen die Aufgabe, den Beitritt wirtschaftlich zu beurteilen. Klar war, dass sich in einem freien Binnenmarkt die Einflussmöglichkeiten der Sozialpartner spürbar verringern würden, etwa in der Preispolitik und in der Beeinflussung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Beitritt wurde trotzdem empfohlen, das Gemeinwohl über das eigene Wohl gestellt.
AK-Reformen
Beinahe zeitgleich kündigten sich Reformen in der Arbeiterkammer an. Durch die Fälle Zacharias und Rechberger Anfang der 1990er-Jahre geriet die AK unter Druck, die Pflichtmitgliedschaft wurde in Frage gestellt. Die AK nutzte diese Krise, um ihr Service grundlegend auszubauen. Entscheidende Neuerungen: Rechtsschutz für jedes Kammermitglied und weitschichtiges Beratungsangebot. Eine Reform mit Erfolg, denn die Position der ArbeitnehmerInnen war durch die hohe Arbeitslosigkeit mittlerweile geschwächt. Immer mehr arbeitsrechtliche Streitigkeiten mussten nun im Rechtsweg geschlichtet werden. Bis zum Antritt der schwarz-blauen Regierung galt: Die Sozialpartnerschaft funktioniert unabhängig von der Regierungskonstellation. Mit dem Jahr 2000 kam der brutale Einschnitt. Damals kam in der Politik eine „the winner takes it all“-Stimmung auf, die im kooperativen Klima der Zweiten Republik bis dahin unbekannt war. Dazu schickte die Wirtschaftskammer, nun unter der Führung von Christoph Leitl, eine ganze Generation von erfahrenen Experten und Verhandlern in Pension. Sie wurden von jungen Fachkräften ersetzt, die viel eher zu neoliberalen Werten tendierten. Die traditionell gute Basis zwischen den Verhandlungspartnern war nun empfindlich gestört. Werner Muhm, Direktor der AK, schrieb 2002 über das Klima in der Sozialpartnerschaft: „Die verstärkte Hinwendung auf Arbeitgeberseite zu einer überwiegend angebotsseitigen Orientierung in der Wirtschaftspolitik und zu einem sozialpolitischen Minimalismus haben allerdings zur Folge, dass die gemeinsame konzeptionelle Grundlage der Sozialpartnerschaft schmäler geworden ist. Die als Alternativmodell präsentierte ‚Sozialpartnerschaft light‘ ist jedoch keine stabile Konstellation, sondern würde sich weiter in Richtung eines bloßen Lobby-Systems entwickeln, in dem die starken Partikularinteressen dominieren.“
Werner Teufelsbauer, immerhin bis 2002 Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik der Wirtschaftskammer, beschrieb 2005 die Änderung der Verhandlungskultur folgendermaßen: „Es bedeutet u. a., dass in der Gesamtdiskussion ein Verlust der makroökonomischen Betrachtung stattgefunden hat. … Wir haben es zu tun mit einer Hybris der Betriebswirte und der Juristen – sie dominieren nun die Diskussion. … Aber eigentlich hat sie, die Betriebswirtschaft, kein Gegengewicht mehr, nämlich in Sinne kreislauftheoretischer oder makropolitischer Überlegungen, die vorgebracht werden könnten. Und das ist meinem Gefühl nach eine sehr starke Verarmung der Diskussion.“
Nunmehr wurden Einzelinteressen vermehrt in den Vordergrund gestellt, die Regierung versuchte, den Einfluss der ArbeiternehmerInnen zurückzudrängen. Das Recht der Kammern, Gesetze zu begutachten, wurde teilweise sogar umgangen. Dennoch waren – trotz der verschärften Rahmenbedingungen unter Schwarz-Blau – die wesentlichen Kräfte in den Sozialpartnerverbänden um eine grundsätzliche Aufrechterhaltung der Kooperation und der gemeinsamen Gesprächsbasis bemüht, wie etwa die kontinuierliche Arbeit im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen zeigt.
Stark in schwierigen Zeiten
Eine Verbesserung der Verhandlungsbasis hat die große Koalition 2006 geschaffen. Und mit der tiefen Wirtschaftskrise kamen auch viele andere politische Akteure wieder auf die Idee, dass eine funktionierende Sozialpartnerschaft allen nutzen kann. AK-Experte Delapina: „Ab Herbst 2008 haben die Sozialpartner mit einer Reihe von Maßnahmen, etwa durch die Kurzarbeit, wesentlich dazu beigetragen, dass in Österreich der Einbruch bei Wachstum und Beschäftigung deutlich geringer war als im europäischen Durchschnitt.“ In schwierigen Zeiten konnten die ÖsterreicherInnen wieder ihre alten Stärken nutzen.
Internet:
Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen:
www.sozialpartner.at/beirat/beirat_start.htm
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Von Christian Resei (Freier Journalist)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.
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