Aber die EU, der Österreich 1995 mit maßgeblicher Unterstützung von ÖGB und AK beigetreten ist, sieht heute ganz anders aus. Der Fall der Berliner Mauer, die Erweiterung der EU um die mittel- und osteuropäischen Länder, Globalisierung und Finanzkapitalismus haben Europa von Grund auf verändert. Im heutigen Europa müssen Gewerkschaften jeden Tag aufs Neue die Rechte der ArbeitnehmerInnen verteidigen.
Diese EU ist parteiisch
Das Europa, dem Österreich beigetreten ist, hat das Grundprinzip noch respektiert, dass die EU im Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital um jeden Preis neutral bleiben muss. Dieses Prinzip wurde aber, vor allem im Zuge der Krisenbewältigung, nach und nach über Bord geworfen. Die Dienstleistungsrichtlinie war der erste unverhohlene Frontalangriff der EU auf die Gewerkschaften, und sogar der Europäische Gerichtshof schreckte in einer Reihe von Urteilen nicht davor zurück, das in der Grundrechtecharta der EU verankerte Streikrecht infrage zu stellen. Den Gewerkschaften war damit bewusst geworden, dass diese EU parteiisch geworden war. Diese Ereignisse hatten tief greifende Auswirkungen auf die Arbeit der Brüsseler Büros von ÖGB und AK, in vielen Fragen standen der ÖGB und die AK an vorderster Front in Abwehrkämpfen.
ÖGB und AK haben die neue Realität in Europa akzeptiert. Auch sie sind, so wie unzählige andere Akteure, gezwungen, aktiv Mehrheiten für ihre politischen Vorhaben zu organisieren. Noch dazu unter denkbar ungünstigen politischen Mehrheitsverhältnissen: Seit über 30 Jahren werden alle wichtigen politischen Institutionen der EU von neoliberalen Parteien beherrscht. Kein Wunder, dass ArbeitnehmerInneninteressen auf der Tagesordnung ganz unten stehen – und hier haben ÖGB und AK in Brüssel wichtige Aufgaben.
Jahr für Jahr entstehen in Brüssel Hunderte, für den Normalbürger unverständliche Gesetzestexte. Eine der unverzichtbaren Aufgaben von ÖGB und AK besteht darin, die Spreu vom Weizen zu trennen und ständig auf der Hut zu sein, damit nichts übersehen wird, von dem sich letztlich herausstellt, dass es den Interessen der ArbeitnehmerInnen sowie der Konsumentinnen und Konsumenten schadet. Hier hat die Wirtschaft beträchtliche Vorteile, da sie über erheblich mehr Mittel verfügt und auf bestens organisierte europäische Branchenverbände mit hochbezahlten Lobbyistinnen und Lobbyisten zurückgreift. Der noch immer nicht ausreichend geregelte Lobbydschungel in Brüssel ist aus Sicht von ÖGB und AK ein weiteres sehr ernst zu nehmendes Problem, das sie strukturell benachteiligt. Deshalb ist es aus Sicht von ÖGB und AK eine strategische Priorität, sich im Verbund mit NGOs und anderen nachhaltig für faires und transparentes Lobbying einzusetzen.
Einzigartige Stärke
Bei allen unleugbaren Herausforderungen muss aber eine einzigartige Stärke von ÖGB und AK, um die sie in der europäischen Gewerkschaftsbewegung von vielen beneidet werden, positiv hervorgehoben werden. Zusätzlich zu den Expertinnen und Experten in den Gewerkschaften kann die österreichische, und mit ihr auch die europäische Gewerkschaftsbewegung auch auf die umfassende und weithin anerkannte fachliche Expertise der Kolleginnen und Kollegen aus den Arbeiterkammern zurückgreifen. Fundiertes, handlungsrelevantes Wissen aus Gewerkschaftssicht, das alle arbeitnehmerrelevanten Politikbereiche abdeckt. Dazu kommt, dass Gewerkschaften und Arbeiterkammern vor einigen Jahren einen umfassenden Modernisierungsprozess angestoßen haben.
Die AK-Expertise wird heute nicht nur für die nationale, sondern auch für die europäische politische Debatte genutzt. Ein Beleg dafür, dass die strategische Bedeutung der Europapolitik von der österreichischen Gewerkschaftsbewegung erkannt und gelebt wird.
Von Amir Ghoreishi, Oliver Röpke
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.
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