Oslo, September 2010. Noch ist Dominique Strauss-Kahn geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit dem Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Juan Somavia, präsentiert er als Ergebnis einer gemeinsamen Konferenz zur Politikentwicklung zwei Eckpunkte einer Vereinbarung zwischen beiden Organisationen: IWF und ILO werden das Konzept eines sozialen Basisschutzes für Menschen prüfen, die in Armut und ungeschützt leben; den Zusammenhang soll ein mittel- bis langfristiger strategischer makroökonomischer Rahmen herstellen. Zweiter Schwerpunkt der vereinbarten Zusammenarbeit ist eine Politik, die Beschäftigung schafft, um nachhaltiges Wachstum zu fördern – die Antwort auf die Krise, die seit 2008 die Arbeitslosigkeit vor allem in den entwickelten Ländern ansteigen ließ und weltweit auf 30 Mio. Menschen geschätzt wird, muss beschäftigungsorientiert sein.
100. IAK-Tagung
Genf, Juni 2011. Die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) tritt zu ihrer 100. Tagung zusammen. ILO-Generaldirektor Juan Somavia präsentiert dem Konferenzplenum seinen Bericht „Eine neue Ära sozialer Gerechtigkeit“ – dazu ein kurzer Überblick: Schlüsselfragen für die kommenden Jahre ergeben sich, so der ILO-Generaldirektor, aus einem ineffizienten Wachstumsmuster, das die Ungleichheit in den vergangenen Jahren weltweit vergrößert habe. Festzustellen sei ein weltweiter, durchaus auch von Wut getragener Vertrauensverlust in die Systeme der Regierungs- und Verwaltungsführung, in Politik, Wirtschaft und das globale Finanzsystem: „Die Welt braucht eine neue Ära sozialer Gerechtigkeit, die durch eine Vision nachhaltiger Entwicklung beflügelt wird.“ Weltweit werde die Last der Krise arbeitenden Familien aufgebürdet, während andere AkteurInnen weitermachten wie bisher. Die neue Weltära habe schon begonnen. Die enge Logik des Konsenses von Washington sei zusammengebrochen, das Zentrum der Wirtschaftspolitik habe sich von den G8-Staaten zum Aufschwung großer Schwellenwirtschaften verlagert. Die Werte der IAO würden mehr denn je im Übergang zu einem neuen, effizienten globalen Wachstum gebraucht.
Soziale Gerechtigkeit untergraben
Im zweiten Teil seines Berichts ging Somavia näher auf gegebene Ungleichgewichte und ihr Potenzial ein, Wirtschaft, Gesellschaft und politische Systeme zu destabilisieren. Soziale Systeme seien bedeutende Instrumente der Umverteilung: Länder müssten nicht auf Reichtum „warten“, vielmehr könnten sie durch frühzeitige Investitionen in sozialen Schutz ein breites nachhaltiges Wachstum erzielen. Neben dem nur sehr langsamen Abnehmen der Armut mit 1,25 US-Dollar pro Tag – 2005: 1,4 Mrd. Menschen; 1990: 1,8 Mrd. Menschen – könne eine „stille Revolution“ der Fortschritte bei der weltweit steten, doch zu langsamen Ausweitung des sozialen Schutzes verzeichnet werden.
Soziale Gerechtigkeit – Weg nach vorn
Im dritten Teil seines Berichts entwarf der ILO-Generaldirektor die Umrisse eines neuen, effizienten Wachstumsmodells: „Das Hauptziel besteht somit darin, die Politiken so zu gestalten, dass ein hohes Wachstum erzielt wird, aber mit anderen Marktergebnissen: Marktergebnissen im Bereich der menschenwürdigen Arbeit“. Er umriss fünf Bereiche von Maßnahmen:
- den Rahmen für produktive Investitionen stärken;
- das Finanzsystem in den Dienst der realen Wirtschaft stellen, so durch das Eindämmen „spekulativer“ Kapitalströme insbesondere durch eine Finanztransaktionssteuer, wie vom IWF angeregt;
- integrative und gerechte Arbeitsmärkte, einschließlich internationaler Arbeitsnormen: Die ILO habe stets vor der Meinung gewarnt, dass integrative Arbeitsmärkte – das heißt: qualitativ gute Arbeitsplätze, sozialer Schutz, Rechte von ArbeitnehmerInnen – schlechte wirtschaftliche Ergebnisse brächten. Vielmehr seien sogenannte flexible Arbeitsmärkte ein entscheidendes Merkmal ineffizienten Wachstums. Die in den Kernarbeitsnormen der ILO verankerten Rechte seien nicht nur Menschenrechte, sondern auch der Rahmen für ein effizientes und faires Wirken der Marktkräfte; dies zeigt nicht zuletzt der Trend zu Arbeitsrechtsklauseln in regionalen, insbesondere Süd-Süd-Handelsabkommen;
- solide makroökonomische Politiken einschließlich einer progressiven Fiskalpolitik zur Finanzierung von Schlüsselprogrammen, die Umverteilungsziele unterstützen, so in den Bereichen Bildung und sozialer Schutz. Auch ein beschäftigungsintensiver Ausbau der Infrastruktur für Unternehmen ist hier zu nennen. Im Sinn des 2009 auf der 98. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz beschlossenen Globalen Beschäftigungspaktes sollten die Sozialpartner am Ausarbeiten und Festlegen solcher grundsatzpolitischen Strategien und Programme beteiligt sein;
- Förderung multilateraler Politikkohärenz: Der ILO-Generaldirektor kann nicht nur auf die Erklärung des G20-Gipfels von 2009 (Pittsburgh) zum Globalen Beschäftigungspakt verweisen, sondern mittlerweile eben auch auf die Ergebnisse der eingangs erwähnten mit dem IWF abgehaltenen Konferenz in Oslo zu „Herausforderungen des Wachstums, der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts“. Somavia unterstrich vor dem Plenum der 100. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, dass die von IAO und IWF vereinbarte Zusammenarbeit nicht nur einen verstärkten Sozialen Dialog umfasse, sondern auch die Zusage des IWF, seine makroökonomischen Politiken zu überdenken. Abschließend wies der ILO-Generaldirektor noch einmal auf die notwendige Abkehr der Dogmen im Konsens von Washington hin: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die IAO in diesen unruhigen Zeiten über die Werte verfügt, um eine Abkehr von einem Politikparadigma zu unterstützen, das sowohl diskreditiert als auch ineffizient ist.“
ILO und G20
2011 fand parallel zur dritten Woche der 100. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz ein Treffen von MinisterInnen der G20-Staaten in Genf statt. Unter anderem richteten der Präsident der Republik Indonesien, die Bundeskanzlerin der Republik Deutschland und der Premierminister der Russischen Föderation Ansprachen an das Konferenzplenum. Die zunehmende Orientierung der ILO an G20 und IWF, für die Generaldirektor Somavia steht, beobachten manche GewerkschafterInnen im Bewusstsein einer altbekannten strategischen Zweischneidigkeit: Einerseits ist man durch Teilnahme besser informiert, andererseits wird man auch dann für die Politik verantwortlich gemacht, auch wenn man die Beschlüsse gar nicht mitgetragen hat.
Auf ihrer 100. Tagung hat die IAK im Normenausschuss einen umfassenden Bericht über soziale Sicherheit beraten; der Zugang zu Systemen sozialer Sicherheit soll auf Rechtsansprüchen einschließlich sozialer Grundrechte beruhen.
2012 nächste IAK-Tagung in Genf
Ein eigener Konferenzausschuss beriet Fragen des sozialen Basisschutzes und schlug vor, Beratungen über eine diesbezügliche Empfehlung auf die nächste Tagesordnung zu setzen. Der Verwaltungsrat ist diesem Vorschlag nachgekommen.
Das Internationale Arbeitsamt hat vor kurzem Fragebögen an die Mitgliedsstaaten ausgesendet, eine Empfehlung über soziale Basisschutzniveaus wird jedenfalls 2012 auf der nächsten Ta-gung der IAK in Genf beraten werden.
Internet:
Diskussionspapier zur ILO/IWF-Konferenz (Oslo, September 2010): The Challenges of Growth, Employment and Social Cohesion
tinyurl.com/34kj3od
Bericht des ILO-Generaldirektors „Eine neue Ära sozialer Gerechtigkeit“
tinyurl.com/5wfvjp8
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Von Neda Bei (Mitarbeiterin der AK Wien, Bereichsleitung Soziales)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.
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