Migration als Widerstand

Von Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, sind es elf Flugstunden bis nach Amsterdam. Für Emmanuel Mbolela hat die Reise in seine neue Heimat in Europa sechs Jahre gedauert. Dabei war Europa nicht sein ursprüngliches Ziel. Überhaupt wollte er seine Heimat nicht verlassen, seine Familie und Freundinnen und Freunde nicht zurücklassen, um auf seiner Flucht das erleben zu müssen, was ihn sein Leben lang prägen wird. Doch Emmanuel hatte keine Wahl. Er musste 2002 aus seinem Land flüchten, weil er mit friedlichen Mitteln für eine demokratische und gerechte Gesellschaft gekämpft hat. Das Exil war der einzige Ausweg, sein Leben zu retten. In seinem Buch „Mein Weg vom Kongo nach Europa“ erzählt der ehemalige Flüchtling, was es bedeutet, sein Leben zu riskieren, um sich in Sicherheit zu bringen. Er spart dabei nicht mit Kritik an der Europäischen Union und an den westlichen Industriestaaten, die sich immer stärker gegen die mitverursachte Migration abschotten – mit fatalen Folgen.

Zerstörung der Länder

Mehr als 51 Millionen Menschen waren Ende 2013 laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) weltweit auf der Flucht. Das waren sechs Millionen Menschen mehr als im Jahr zuvor und so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die größte Mobilitätsrate weltweit gibt es in Afrika. Die extreme globale Ungleichverteilung materieller und sozialer Ressourcen hat Menschen in Bewegung gesetzt, die selbst die Todesgefahr nicht scheuen, um in Europa Arbeit und Einkommen zu finden. „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ ist zum Slogan einer neuen Migrationsbewegung geworden. Er macht deutlich, dass es die durch Industriestaaten dominierte Weltwirtschaft und die Ausbeutung von Bodenschätzen und Ressourcen sind, welche die instabile und kritische Situation vieler Länder bedingen. Viele Menschen aus dem globalen Süden sehen sich angesichts ihrer Lebensumstände gezwungen, zu migrieren. „Afrika wurde von multinationalen Konzernen und internationalen Finanzinstitutionen arm gemacht. Diktaturen werden von den westlichen Ländern unterstützt, bewaffnete Konflikte entfacht, um natürliche Ressourcen zu plündern, und Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen“, kritisiert Emmanuel Mbolela.

Seine Heimat, die Demokratische Republik Kongo, gehört zu den ärmsten und gefährlichsten Ländern der Welt. Seit Jahren herrscht Bürgerkrieg – stellvertretend für den Kampf um Rohstoffe. Dabei könnten gerade diese das Land zu einem der reichsten Länder Afrikas machen. Neben Gold, Öl, Diamanten oder Kupfer werden 80 Prozent der weltweiten Coltan-Vorkommen im Land vermutet – ein wesentlicher Bestandteil für Mobiltelefone. Bereits 2001 haben die Vereinten Nationen in einem Bericht festgehalten, dass Dutzende westliche Unternehmen von den systematischen Rohstoff-Plünderungen in der Demokratischen Republik Kongo profitieren und die Massaker an der Bevölkerung mit verantworten. Die chaotische Situation im Kongo ist vergleichbar mit jener zahlreicher anderer afrikanischer Staaten. Ein Großteil der für die Industriestaaten wichtigen Rohstoffe befindet sich auf den afrikanischen und asiatischen Kontinenten.

Vom Abbau der Bodenschätze profitieren vor allem westliche Konzerne und Investoren. Bevölkerungsteile, meist aus dem ländlichen Raum, werden vertrieben oder umgesiedelt und verlieren dadurch ihre Lebensgrundlage. Seit der weltweiten Finanzkrise hat auch das „Land Grabbing“, also der Ausverkauf fruchtbarer Böden, explosionsartig zugenommen, berichtet Dieter Behr vom Netzwerk „Afrique-Europe-Interact“. Das gekaufte oder gepachtete Land wird meist günstig erworben und für exportorientierte industrielle Landwirtschaft oder für Pflanzen zur Produktion von Agrotreibstoffen genutzt. Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen, FischerInnen und ViehzüchterInnen verlieren dadurch den Zugang zu Land und Wasser, sprich ihre Existenzgrundlage. Seit der Krise werden die Ackerflächen als neue Anlageformen und für Spekulationen genutzt. Die Finanzkrise habe eine gewaltige neokoloniale Enteignungswelle von Land, vor allem in Afrika, in Gang gesetzt, berichtet Dieter Behr.

Wohlstand durch Ausbeutung

Das Wirtschaftssystem hat der Bevölkerung des globalen Nordens materiellen Wohlstand gebracht. Dieser beruht allerdings zu einem bedeutenden Teil auf der Ausbeutung von Ressourcen des globalen Südens und der Zerstörung von Landwirtschaft und Umwelt. Je mehr die Länder des globalen Südens von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt werden, desto stärker wächst der Druck, die Heimat zu verlassen. „Notwehr“ nennt der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler das Handeln von Emmanuel Mbolela und vielen Tausenden Menschen aus Zentralafrika und anderen Weltgegenden, die mittels Flucht in die Festung Europa ihr Leben zu retten versuchen – sei es aufgrund von Krieg, politischer Verfolgung, Armut oder Hunger.

Die Europäische Union bzw. ihre Mitgliedsstaaten reagieren auf die wachsende Migration aus dem globalen Süden mit Abschottung und der Verschärfung ihrer Grenzschutzpolitik. „Die EU bezahlt die Länder des Maghreb, damit sie den Wachhund für Europa spielen“, kritisiert Emmanuel Mbolela. Denn um die „illegale“ Einreise schon vor den Außengrenzen der EU zu verhindern, finanziert die EU zahlreiche Flüchtlingslager in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, in der Türkei oder der Ukraine. Vier Jahre hat Emmanuel in einem der Lager in Marokko verbracht. Er hat miterlebt, wie Flüchtlinge, mit oder ohne Asylbescheid, in die Wüste abgeschoben wurden, wie Frauen vergewaltigt und Flüchtlinge aufgrund von Fremdenhass ermordet wurden. „Indem die EU Marokko Geld dafür gibt, die Grenzen zuzumachen und dicht zu halten, nimmt sie das Massensterben auf dem Mittelmeer und in der Wüste in Kauf. Die unmenschliche Behandlung in den Durchgangslagern ist eine Folge der EU-Grenzpolitik“, kritisiert Mbolela, der selbst nur durch Zufall dem Tod auf dem Meer entkommen ist.

Zeitalter der irregulären Migration

Die Grenzen der EU werden immer undurchlässiger, die Wege dorthin immer länger, teurer und gefährlicher. Doch die Abschottungspolitik führt nicht dazu, dass weniger Menschen nach Europa einwandern, sondern nur, dass sie dies vermehrt auf irregulärem Weg tun. Eines machen die steigenden Flüchtlingsströme klar: Migration lässt sich nicht regulieren. Keine noch so gefährliche Überfahrt, kein noch so hoher Stacheldrahtzaun wird Menschen davon abhalten, nach einem besseren Leben zu streben. Dieter Behr sieht darin einen Akt der Emanzipation und des Widerstands: „Migration, verstanden als soziale Bewegung, trägt immer auch das Moment der (Wieder-)Aneignung materieller und immaterieller Ressourcen in sich. Die weltweit dominierenden ‚ökonomischen‘ Migrantinnen und Migranten wandern gegen das Ausbeutungsgefälle in die Akkumulationszentren und fordern, oftmals ohne jegliche politische Artikulation, ihr Recht auf Einkommen und selbstbestimmtes Leben.“

2008 ist es Emmanuel Mbolela gelungen, über das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR politisches Asyl in Holland zu bekommen. Doch auch mit Papieren, einem fast abgeschlossenen Studium der Wirtschaftswissenschaften und europäischem Boden unter den Füßen ist das Leben als Migrant nicht einfach. Diskriminierungen und Vorurteile, kaum Aussicht auf Arbeit oder entsprechende Entlohnung gehören auch in Europa zum migrantischen Alltag. Emmanuels Kampf für ein Recht auf Bewegungsfreiheit und auf ein menschenwürdiges Leben geht weiter. Mit seinem Buch möchte er Stimmlosen eine Stimme geben, wie er sagt. Es ist ein Aufschrei, um auf die Missstände der Migrationspolitik aufmerksam zu machen und dagegen Widerstand zu leisten. „Ungleichheit ist kein Naturzustand“, wie Jean-Jacques Rousseau bereits im Jahr 1754 schrieb, „sondern ein gesellschaftlich produziertes und reproduziertes Phänomen, deren Legitimität stets umkämpft bleibt.“ Emmanuel ist beispielhaft für diesen Kampf.

Netzwerk aus Aktivistinnen und Aktivisten aus Westafrika und Europa: www.afrique-europe-interact.net

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Von Irene Steindl, Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.

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