EU-Handelskommissar De Gucht hat scheinbar die Notbremse gezogen und für Ende März eine öffentliche Konsultation angekündigt. Im Kern geht es um die Frage, inwieweit es US-amerikanischen Multis mittels Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren ermöglicht werden soll, die Regulierungs-kompetenz der EU sowie jene ihrer Mitgliedsstaaten zu beschränken.
Investor-Staat-Streitbelegung
Der vorläufige Verhandlungsstopp bezieht sich auf Investitionsschutzbestimmungen in dem in Verhandlung stehenden Abkommen der EU mit den USA (TTIP)1. Diese versprechen ausländischen Investoren stabile und vorhersehbare Rahmenbedingungen und ermächtigen Multis, bei vermeintlichen Verletzungen den Gaststaat direkt vor privaten Ad-hoc-Schiedsgerichten auf Schadenersatz zu verklagen (Investor-Staat-Streitbeilegung = ISDS).
Mögliche Klagegründe sind nicht nur direkte Enteignung, sondern auch Entwertung von bestehenden Eigentumstiteln unter der Annahme, dass geplante Gewinne geschmälert werden. Neue Gesetze oder sonstige Regulierungen im Gesundheits- und Umweltschutz oder in der Sozial- und Wirtschaftspolitik können als indirekte Enteignung ausgelegt werden. Deutschland zum Beispiel wurde bereits zweimal vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall verklagt. Jüngst auf Entschädigungszahlungen in Höhe von 3,2 Mrd. Euro, weil kraft des nationalen Atomausstiegs Vattenfall seine zwei Atommeiler in Zehnjahresfrist stillzulegen hat.
Private Schiedsgerichte
Die für Klagen zuständigen Ad-hoc-Schiedsgerichte bauen auf sehr vage formulierten Investitionsschutzbestimmungen wie „gerechte und billige Behandlung“ oder „umfassender Schutz und Sicherheit“ auf. Diese werden im jedem Fall neu auslegt, wobei die Schiedsrichter nicht den nationalen Gesetzen oder dem Völkerrecht verpflichtet sind. Das Schiedsgericht setzt sich aus drei von den Parteien gewählten Vertretern, meist Anwältinnen und Anwälten, zusammen. Die Schiedssprüche sind oft inkonsistent, womit das internationale Investitionsrecht zu einem Hazardspiel für verklagte Staaten wird.
Weltweit haben Multis bis heute mindestens 81 Staaten mehr als 400-mal verklagt. Die bekannten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs, weil die meisten Schiedsgerichte sehr diskret unter Ausschluss der Öffentlichkeit arbeiten.
Mit der Gründung der NAFTA2 1994 wurde das „entwicklungspolitische“ Instrument ISDS ein integraler Bestandteil der nordamerikanischen Freihandelszone, um ursprünglich Investoren vor dem politischen Risiko – beispielsweise einer Enteignung in Mexiko – zu schützen. Bis 2011 haben nordamerikanische Investoren Mexiko 19-mal verklagt. Aber auch die Industrieländer, die jahrzehntelang keine Notwendigkeit gesehen haben, ihren kapitalexportierenden Unternehmen durch das ISDS-Privileg einen besonderen Schutz zu gewähren, sahen sich plötzlich Klagen gegenüber: Die überwiegende Zahl der Klagen waren gegen Kanada und die USA gerichtet (29 Fälle)! Das ISDS zwischen Industriestaaten hatte für multinationale Unternehmen eine zusätzliche Bedeutung als effektives Abwehr- und Abschreckungsinstrument gegen neue gesetzliche Maßnahmen im Gesundheits-, Umwelt- und Sozialbereich etc. erlangt.
2,5 Mio. Entschädigungsforderung
Analysiert man die bekannten Klagen US-amerikanischer Multis gegen Kanada, so kann man sich ein Bild davon machen, was die EU-Mitgliedsstaaten in einem TTIP erwarten könnte: Gegen Kanada wurden mehr als 20 Klagen mit 2,5 Mrd. Dollar Entschädigungsforderungen eingereicht. Gegenstand der Klagen waren Gesetze im öffentlichen Interesse, wie beispielsweise Verbot von Fracking (Schiefergas-Exploration), Pharma-Patentregelungen, Chemikalienverbote, Schadstoffreduktionen und Sozialprogramme für die indigenen BewohnerInnen in Bergbaugebieten. In Kanada, aber auch in den USA, hat sich eine breite Bewegung gegen Investitionsschutzstandards und insbesondere gegen das Klageprivileg von Multis formiert. Australien hat in die laufenden Verhandlungen zu einer Freihandelszone mit den NAFTA-Staaten die ISDS-Bestimmungen erst gar nicht aufgenommen.
Mit dem Privileg, den Staat unmittelbar klagen zu können, wird der nationale politische Handlungsspielraum, auch in Zukunft Regulierungen im öffentlichen Interesse zu ergreifen, empfindlich eingeschränkt. Bereits Klagsdrohungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Zu befürchten ist, dass Staaten neue Gesetze im Interesse der Allgemeinheit nicht oder sehr zögerlich in Angriff nehmen, wenn sie Entschädigungszahlungen an Multis zu fürchten haben.
Mit folgenden Argumenten werden daher Investitionsschutzstandards und insbesondere die ISDS-Klausel im TTIP, aber auch in allen anderen Handels- und Investitionsabkommen der EU, abgelehnt:
Die europäischen Mitgliedsstaaten haben ein gut funktionierendes Rechtssystem, das jeder/jedem ein faires Verfahren sowie Berufung gegen Entscheidungen garantiert. Die Möglichkeit, nationale Gerichte zu umgehen und private Ad-hoc-Schiedsgerichte anzurufen, untergräbt das zentrale europäische Prinzip der demokratisch legitimierten Rechtsstaatlichkeit.
Unbestimmte Investitionsschutzformulierungen wie „faire und gerechte Behandlung“, „legitimes öffentliches Interesse“ oder „indirekte Formen der Enteignung“ werden von Multis mit dem Ziel hoher Entschädigungszahlungen genutzt. Dies eröffnet privaten Schiedsgerichten großen Interpretationsspielraum und führt zu inkonsistenter Rechtsprechung. Ein Großteil der bisherigen Konzernklagen baut allein auf der Bestimmung „faire und gerechte Behandlung“ auf.
Von den kostenaufwendigen Schiedsverfahren (oft acht Mio. Euro und mehr) profitieren auch einige große Anwaltskanzleien, aus denen meist die SchiedsrichterInnen kommen und die Gutachten schreiben. Die Kanzleien lobbyieren gemeinsam mit den Multis auf europäischer Ebene, das intransparente System beizubehalten. BranchenkennerInnen sprechen von undurchsichtigen „Insidergeschäften“.
Wer trägt das Investitionsrisiko?
Europäische Unternehmen können keine Schadenersatzklagen wegen entgangener zukünftiger Gewinne anstregen. Das wäre allein den US-amerikanischen Tochterfirmen in Europa vorbehalten. Zu dieser Inländerdiskriminierung kommt hinzu, dass sich das „Quasi-Anrecht“ ausländischer Investoren auf Gewinne grundsätzlich von der volkswirtschaftlichen Sicht unterscheidet, dass das Investitionsrisiko (inklusive des politischen Risikos) natürlich auch zu Verlusten führen kann!
Mit der öffentlichen Konsultation will die Kommission BürgerInnennähe und Diskussionsbereitschaft signalisieren. Auch soll eine potenziell europakritische Diskussion den EU-Wahlkampf nicht stören. Es ist aber höchst fraglich, ob die von De Gucht angekündigte Nachdenkpause dazu führen wird, dass diese Argumente auch in den Regierungen der Mitgliedsstaaten mehr Gehör finden.
1 Siehe hierzu den Artikel „Transatlantische Partnerschaft der Konzerne?“ in dieser Ausgabe.
2 NAFTA ist das Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko.
INFO & NEWS
Fallbeispiele zu indirekter Enteignung
Ein prominenter Fall ist die Klage des amerikanischen Medienkonzerns Lauder gegen Tschechien. Lauder argumentierte, dass eine Entscheidung der tschechischen Medienregulierungsbehörde zu einem Wertverlust seiner erworbenen Lizenzen geführt habe. Das Schiedsgericht erkannte Lauder eine Entschädigungszahlung von 300 Mio. Euro zu (entspricht zirka dem jährlichen Sozialbudget). Anlass der noch nicht entschiedenen Klage des amerikanischen Tabakmultis Philip Morris gegen Uruguay war ein Gesetz, das unter anderem Gesundheitswarnungen auf Zigarettenpackungen vorschreibt, die zumindest 80 Prozent der Vorder- und der Rückseite der Packung einnehmen müssen. Der Multi verlangt nun Entschädigung für zukünftige entgangene Gewinne, da er seine gesetzlich geschützte Marke nicht im erwarteten Umfang nutzen kann. Eine vergleichbare Klage hat Philip Morris gegen Australien angestrengt. Die Entschädigungsforderungen bewegen sich – so wird kolportiert – in Milliarden-Dollar-Höhe.
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Von Christian Bellak, a.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien | Elisabeth Beer, Abteilung EU & Internationales der AK Wien
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.
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