Mehr als Mitsprache

Das Gewerbegerichtsgesetz von 1896 markierte eine Trendwende in der Regierungspolitik der späten Habsburgermonarchie. Es sah vor, dass Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter „paritätisch“, also in gleicher Zahl an der Schlichtung von Streitfällen aus dem Arbeitsverhältnis mitwirken sollten. Erstmals wurde damit die Existenz unterschiedlicher Interessen von „Arbeit“ und „Kapital“ anerkannt und die Gewerkschaft als politischer Faktor ernst genommen. Einen Schritt weiter ging Handelsminister Joseph Maria Baernreither 1898, als er zu dem in seinem Ministerium errichteten „arbeitsstatistischen Amt“ einen „ständigen Arbeitsbeirat“ plante:

Bei dem Versuche, schwierige gesellschaftliche Probleme zu lösen, kann es sich nicht darum handeln, verschwommene Ansichten zu sammeln, sondern ein Resultat ist nur zu erwarten, wenn offen und loyal, sachlich und ernst die entgegenstehenden Interessen ihre Vertretung finden und wenn durch das gegenseitige Sich-Aussprechen nach und nach jener Wall von Misstrauen, von Missverständnissen und einseitigen Parteiansichten abgetragen wird.

Hier wurde nicht nur das Bestehen von Interessengegensätzen anerkannt, sondern auch das Austragen von Interessenkonflikten zur Voraussetzung für tragfähige Kompromisse erklärt. Das klingt wie das Urkonzept der modernen Sozialpartnerschaft – der Haken liegt im Wörtchen „loyal“. Dort, wo die Machtverhältnisse infrage gestellt werden konnten, hatte die Öffnung ihre Grenzen. Nur hielten es die klügeren Politiker für besser, der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung kontrollierten Spielraum zu eröffnen und auf Gewalt zu verzichten. Rudolf Müller, einer der Gründer der freigewerkschaftlichen Eisenbahner-Organisation, brachte Baernreithers Konzept auf den Punkt:

Er wollte so ein Stück Harmonie zwischen Unternehmern und Arbeitern schaffen. Es sollten dort die harten Kanten des Klassenkampfes abgeschliffen werden.

Die Gewerkschafter im „Arbeitsbeirat“ beteiligten sich zwar engagiert an dessen Entscheidungsfindungen, wussten aber um die Grenzen einer solchen außerparlamentarischen Mitbestimmung ohne demokratische Bedingungen. Rudolf Müller beim Kongress der Freien Gewerkschaften 1913:

Solange die Arbeiterschaft kein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht hatte, hat der Arbeitsbeirat einen bestimmten Zweck … erfüllen können. Das hat auch die Regierung gewusst. Darum hat sie ihm eine sehr engherzige Geschäftsordnung gegeben. … Sie konnte ihn einberufen und entlassen, ganz nach Belieben. … Es ist … im Laufe der Zeit gelungen, die Institution einigermaßen zu modernisieren. … Aber diese geringe Erweiterung hat auf das Wesen der Körperschaft keinen Einfluss gehabt. Wir dürfen zwar Gutachten abgeben, aber die Regierung ist nicht im Mindesten irgendwie daran gebunden. … Was wir … in erster Linie von dieser Institution verlangen, ist, dass ihre … Beschlüsse bindend sind, … dass sie dem Parlament vorgelegt werden.

Ausgewählt und kommentiert  von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/14.

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