Wenn uns Kopfschmerzen plagen, die Nebenhöhlen pulsieren, der Hals kratzt und die Nase rinnt, dann gehen wir einfach zum Arzt oder zur Ärztin unseres Vertrauens, klagen ihm oder ihr unser Leid und erhalten nach einer Untersuchung und im besten Fall innerhalb von wenigen Minuten eine Diagnose und ein Rezept dazu. Stellen Sie sich dieselbe Situation vor, nur, dass Sie im Rollstuhl sitzen. Oder Ihr Sehvermögen verloren haben. Oder sich nicht verständigen können, Ihrem Arzt nicht begreifbar machen können, wo die Schmerzen liegen, was Ihnen fehlt. Behinderte Menschen benötigen in medizinischen Belangen besonders viel Aufmerksamkeit und spezielle Betreuung. Angefangen vom barrierefreien Weg zur Arztpraxis bis hin zur Kommunikation mit dem Arzt – auch wenn sich die ärztliche Versorgung stetig bessert, Menschen mit besonderen Bedürfnissen haben immer noch mit Hürden zu kämpfen.
Erste Anlaufstelle Familie
Irina Jäger ist 34 Jahre alt und seit ihrer Geburt körperlich und geistig schwerstbehindert. Sie sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen, man weiß nicht, ob sie sehen kann oder ob sie taub ist. Sie gehört zu den PatientInnen des Allgemeinmediziners Christian Euler. Er betreibt eine Ordination im burgenländischen Rust und zählt viele intellektuell und körperlich behinderte Personen zu seinen PatientInnen. Irina kennt er seit ihrer Geburt, sie begleitet ihn bereits sein ganzes Berufsleben. Wenn Irina Beschwerden hat, ist sie auf ihre Eltern und ihren Hausarzt angewiesen. Menschen mit schweren Behinderungen zeigen teils atypische Schmerzreaktionen und können sich nicht mitteilen. Dadurch wird Ärzten die richtige Diagnose und somit die adäquate medizinische Behandlung erschwert, Krankheiten werden oft spät erkannt. Umso mehr sind ÄrztInnen auf detaillierte Informationen von Familienangehörigen, Betreuungspersonen oder bestehende Befunde angewiesen. In Irinas Fall erkennt Euler meist relativ schnell, was ihr fehlt. „Jemand, der Irina das erste Mal sieht, ist höchstwahrscheinlich erst einmal überfordert. Denn die Beschwerden sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Wenn man den Patienten lange kennt, kann man auf seine Erfahrung zurückgreifen und fühlt sich sicherer – in der Diagnose und in der Behandlung.“ Je genauer und detaillierter die Beschwerden der PatientInnen von den Betreuungspersonen geschildert werden, desto präziser kann die Diagnose gestellt und eine zielführende Behandlung eingeleitet werden. „An betreuenden Personen kommt man nicht vorbei. Die Eltern sind die kompetentesten Behandler“, sagt Euler.
Ein langjähriges und enges Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Arzt führt oft dazu, dass der Mediziner die ganze Familie mitbetreut und so Einblicke in den Familienverband gewinnt. „Ich konnte zum Beispiel erleben, wie ein junger, schwer behinderter Mann seine ganze Familie zusammenhielt“, erzählt Euler. „Er wurde von allen liebevoll gepflegt und jedes Familienmitglied hatte seinen Alltag rund um ihn organisiert. Wenn es dem Jungen gut ging, ging es allen gut.“
Barrieren im Kopf
Während viele ÄrztInnen wie Euler über langjährige Erfahrung mit behinderten PatientInnen verfügen, gibt es andererseits immer noch MedizinerInnen, die von der Behinderung ihrer PatientInnen überfordert sind. „Bedingt durch mangelnde Erfahrung bei den Auswirkungen von Behinderungen, wie zum Beispiel nicht frei stehen zu können, oder wenn der Arzt über keine Kenntnisse der Gebärdensprache verfügt, kommt es manchmal zu Unsicherheiten bei Ärzten und medizinischem Personal“, sagt Annemarie Srb-Rössler vom Behindertenberatungszentrum BIZEPS, Zentrum für Selbstbestimmtes Leben. „Im Medizinstudium und der weiteren Ausbildung der Ärzte wird das Thema ‚Behinderung‘ kaum erwähnt. Daher gibt es oft nur mangelndes Wissen zu dem Gebiet.“ Srb-Rössler ist selbst Rollstuhlfahrerin und war lange Zeit im Vorstand von BIZEPS tätig.
Der Verein betreibt in Wien eine Beratungsstelle für behinderte Menschen und deren Angehörige, die sich an den Prinzipien der „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung orientiert: Selbstbestimmung, Gleichstellung, Nicht-Diskriminierung und Barrierefreiheit. All diese Kriterien sollen auch in der ärztlichen Betreuung gegeben sein. „Das Wichtigste ist, dem Patienten Respekt entgegenzubringen und ihn als vollwertig zu behandeln“, sagt auch der burgenländische Arzt Euler. Wenn es beispielsweise um den Kinderwunsch von behinderten Frauen geht, kommt es durchaus noch vor, dass Patientinnen nicht ernst genommen werden. Ihr Recht, Kinder zu bekommen, wird ihnen von vornherein abgesprochen. Daher ist gerade in diesen Fällen eine gute und ausreichende Beratung unbedingt erforderlich.
Beschwerliche Routine
Bei intellektuell und körperlich behinderten PatientInnen spielt vor allem die soziale Komponente eine wesentliche Rolle. Denn der Arzt muss sich für die PatientInnen Zeit nehmen, um individuell auf sie eingehen zu können. Dazu gehört auch die Wahl der richtigen Kommunikation, beispielsweise in kurzen Sätzen zu sprechen und Fremdwörter zu vermeiden. Selbst Routineuntersuchungen bei FrauenärztInnen erweisen sich als beschwerlich, denn bei „einfachen“ Tätigkeiten wie dem An- und Ausziehen oder dem Setzen auf den Untersuchungsstuhl (und dem Verlassen desselben) sind behinderte Patientinnen oft auf die Hilfe des Arztes oder ihrer Betreuungsperson angewiesen und nehmen oft mehr Zeit in Anspruch. Auch zahnärztliche Behandlungen sind bei behinderten Menschen häufig nicht ohne Weiteres möglich. PatientInnen mit geistiger Behinderung verstehen oft nicht, warum sie sich einer schmerzhaften Zahnbehandlung aussetzen müssen, und weigern sich, den Mund zu öffnen. In diesem Fall ist viel Einfühlungsvermögen und Geduld vonseiten des medizinischen Personals gefragt. In Österreich gibt es allerdings kaum ZahnärztInnen, die auf die Behandlung von behinderten oder „schwierigen“ PatientInnen spezialisiert sind.
Während es für nicht behinderte Menschen selbstverständlich ist, sich seinen Arzt aussuchen zu können, müssen Menschen mit Behinderung danach entscheiden, welche Praxis für sie einigermaßen erreichbar und zugänglich ist. „Die Patienten und Patientinnen haben ein Recht auf einen Arzt, aber sie haben kein Recht auf denselben Arzt“, sagt Euler.
Genau dagegen kämpft Annemarie Srb-Rössler. Seit 2001 leitet sie das Projekt „Behinderte Menschen in Gesundheitseinrichtungen“. „BIZEPS arbeitet seit vielen Jahren daran, Rahmenbedingungen zu schaffen, um die freie Arztwahl für Menschen mit Behinderungen zu verbessern“, sagt Annemarie Srb-Rössler. „Um die Bedürfnisse unserer Personengruppe zu erfragen und kennenzulernen, wurde Anfang 2001 unser Gesundheitsprojekt gestartet“, so Srb-Rössler. Im Rahmen dieses Projekts wurde eine behinderungsübergreifende Arbeitsgruppe gegründet und ein gemeinsamer Fragebogen erarbeitet. Dabei wurden an Wiener Arztordinationen Fragen über Praxiseinrichtungen gestellt, die für PatientInnen ohne Behinderung selbstverständlich sind. Ist die Ordination stufenlos erreichbar bzw. wie viele Stufen sind zu überwinden? In welcher Höhe befindet sich der Türöffner? Welche Abmessungen hat die Aufzugskabine? Darf ein Blindenführhund zum Arztbesuch mitgebracht werden? Verfügt der Arzt bzw. die Ärztin über Gebärdensprachkenntnisse? Ist in der Ordination ein behindertengerechtes WC vorhanden? Wie hoch ist die Behandlungsliege und wie weit ist sie absenkbar?
Alltäglich?
Über 700 Arztpraxen in Wien wurden kontaktiert und die Ordinationsräumlichkeiten vermessen. Die Ergebnisse sind im Internet über den Praxisplan der Ärztekammer für Wien (www.praxisplan.at) abrufbar und werden laufend erweitert und aktualisiert. Wie für Srb-Rössler eine ideale ärztliche Betreuung aussieht? „Von einer ‚idealen ärztlichen Betreuung‘ kann man im besten Fall dann sprechen, wenn es keiner Auflistung barrierefreier Ordinationen mehr bedarf und die Behinderung in der Diagnosefindung Berücksichtigung findet.“
Internet:
Mehr Infos unter:
www.bizeps.or.at/broschueren/krank
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Von Maja Nizamov, Freie Journalistin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.
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