Lohnzurückhaltung | Wie lange noch?

Fünf Jahre nach der Jahrhundertwende ist es eine bedauernswerte Tatsache, dass das neue Jahrhundert wirtschaftlich in Österreich und im Großteil Europas einen schlechten Start gehabt hat. Das wurde zuletzt durch den Bericht der Wim Kok-Kommission deutlich, die bei ihrer Halbzeit-evaluierung der »Lissabon-Strategie« zu einem ernüchternden Schluss gekommen ist: Europa ist seiner selbst gewählten Zielsetzung, bis zum Jahr 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« zu werden, bisher nicht nähergekommen, sondern hat sich weiter davon entfernt. Wenn diese Einsicht an sich keine Neuigkeit darstellt, so sollte doch der Anlass als Gelegenheit dazu benützt werden, die europäische wirtschaftspolitische Strategie und ihre konzeptuellen Grundlagen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Die Lissabon-Strategie beurteilt Erfolg oder Misserfolg anhand von 14 Indikatoren für verschiedene Bereiche1). Letztlich kommt es aber für das Gesamtziel, das ein Aufholen des Rückstandes gegenüber den USA bedeutet, auf das Wirtschaftswachstum pro Einwohner an. Nachdem seit etwa drei Jahrzehnten der Wachstumsmotor der Wirtschaft immer wieder ins Stocken geraten ist und die Arbeitslosigkeit stark zugenommen hat, hat die Wirtschaftspolitik den Hebel für eine Behebung und Lösung dieser Problematik stets primär bei den Löhnen gesehen. Zuerst – in der Zeit der hohen Inflation – wurde die Mäßigung der Lohnforderungen von den Gewerkschaften verlangt, um die Lohnerhöhungen wieder besser mit dem Produktivitätsfortschritt in Einklang zu bringen und dadurch die Inflation wieder auf ein tragbares Ausmaß von zirka zwei bis drei Prozent zurückzuführen. Die Konzeption eines »inflationsfreien Wirtschaftswachstums« wurde auch von den Gewerkschaften mehr oder weniger akzeptiert unter der Prämisse, dass bei niedrigeren nominellen Lohnsteigerungsraten die Realeinkommen der Arbeitnehmer keine Einbuße erleiden würden und die Arbeitslosigkeit bei stärkerem Wachstum mittelfristig wieder abgebaut werden kann. Diese Erwartungen wurden allerdings von der tatsächlichen Entwicklung, welche die europäische Wirtschaft in den Neunzigerjahren genommen hat, enttäuscht.

Löhne zu hoch?
Zwar gelang es, die Inflation auf etwa 3% und später sogar auf weniger als 2% zu drücken. Eine nachhaltige Belebung des Wirtschaftswachstums blieb jedoch aus, und die Arbeitslosigkeit stieg bis weit in die Neunzigerjahre weiter an (bisheriger Höchstwert: 11,3% 1994), ohne dass es seither gelungen wäre, eine fühlbare Reduktion zu erreichen (derzeit immer noch fast 9%). In der in der EU-Kommission und in den politischen Kreisen vorherrschenden Sichtweise war die Erklärung für dieses Phänomen rasch gefunden: Wenn ein größerer Teil des Arbeitskräfteangebots keine Beschäftigung findet, dann sind die Löhne zu hoch. Zur Korrektur wurde eine allmähliche Anpassung durch fortgesetzte Lohnmoderation empfohlen, und zwar in der Weise, dass die Lohnerhöhungen eine Zeit lang im Schnitt jeweils unter der Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bleiben sollten. Damit soll ein deutlich über der Lohnzunahme liegendes Wachstum der Unternehmensgewinne ermöglicht werden, aus dem eine steigende Investitionsquote finanziert werden kann – und mehr Investitionen sollten dem Wachstum wieder auf die Sprünge helfen.

Nachdem in den letzten eineinhalb Jahrzehnten die Wirtschaftspolitik diesen Ratschlägen weitgehend gefolgt ist und die Steuerpolitik die Gewinne zusätzlich entlastet hat, ist das Resultat allerdings neuerlich eindeutig negativ, wie zunächst am österreichischen Beispiel gezeigt werden soll.

Löhne und Gewinne seit 1992
Der durchschnittliche Lohn und Gehalt je Arbeitnehmer hat in Österreich im Zeitraum 1992 bis 2003 nominell um 28,2% zugenommen. Im Vergleich dazu ist das Volkseinkommen je Erwerbstätigen (Löhne plus Selbstständigeneinkommen plus Gewinne der Kapitalgesellschaften) deutlich stärker gestiegen, nämlich um 36,7%. Für sich gesehen weist die Nichtlohn-Komponente des Volkseinkommens eine viel kräftigere Zunahme auf als die Löhne, nämlich um 65,2% (siehe Grafik 1: »Löhne je Arbeitnehmer, Gewinne, Volkseinkommen je Erwerbstätigen 1992-2003«).

In der so genannten »funktionalen Einkommensverteilung«, also in den Anteilen von Löhnen und Gewinnen am Volkseinkommen, schlägt sich dies in einer sinkenden Lohnquote und in einer steigenden Gewinnquote nieder. Die Lohnquote sank von 72,7% im Jahr 1992 auf 69,5% 2003, wobei diese Werte den Rückgang sogar noch etwas untertreiben, da sie die Struktur der Erwerbstätigen längerfristig immer noch etwas zu den Arbeitnehmern verschiebt. Deren Zahl hat sich in dem betrachteten Zeitraum um fast 150.000 erhöht, während die Zahl der Selbständigen durch den anhaltenden Rückgang in der Landwirtschaft um 30.000 abgenommen hat. Die um diese Strukturverschiebung bereinigte Lohnquote ist noch um mehr als einen Prozentpunkt stärker gesunken (siehe Grafik 2: »Lohnquote 1992-2003«).

Falsch kalkuliert
Dem Kalkül der vorherrschenden wirtschaftspolitischen Schule entsprechend hätte das stark überdurchschnittliche Wachstum der Gewinne einen ebensolchen Zuwachs bei den Investitionen ermöglichen sollen, für deren Finanzierung ja wesentlich mehr Eigenmittel der Unternehmungen zur Verfügung gestanden sind. Genau dies ist allerdings nicht eingetreten, die Zunahme der Investitionen blieb weit hinter dem Gewinnwachstum zurück. Die Entwicklung unterliegt bei Investitionen naturgemäß stärkeren Schwankungen von Jahr zu Jahr, die im konkreten Fall auch durch befristete steuerliche Sonderförderungen von Investitionen zusätzlich verstärkt werden2). Insgesamt nahmen die Investitionen mit 37% signifikant weniger zu als das nominelle Bruttoinlandsprodukt (+49%) und blieben damit um 23%-Punkte hinter der Zunahme des Betriebsüberschusses zurück (siehe Grafik 3: »Zunahme von Investitionen und Gewinnen/Bruttobetriebsüberschuss 1992-2003«).

Im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist es üblich, mit Brutto- und nicht mit Nettoinvestitionen (letztere abzüglich Abschreibungen) zu rechnen. Den Bruttoinvestitionen müssen die Bruttobetriebsüberschüsse (Gewinne plus Abschreibungen) gegenübergestellt werden, da auch die Abschreibungen einen Finanzierungsbeitrag liefern.

Wo sind die Gewinne?
Daraus ergibt sich die Frage: Was haben die Unternehmungen mit den zusätzlichen Finanzmitteln gemacht, soweit sie nicht für reale Investitionen, also Maschinen, Anlagen und Bauten verwendet worden sind? Diese Frage lässt sich infolge der unzureichenden Datenlage nicht genau beantworten. Eine gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung, die sämtliche Zahlungsströme der Unternehmungen, der Haushalte und des Staates lückenlos erfasst, gibt es für Österreich nicht. Man kann dafür nur auf die Unternehmensbilanzen zurückgreifen, die aber nur die Kapitalgesellschaften erfassen, in denen aber manche Vorgänge anders berechnet oder abgebildet werden als in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (z. B. werden die Abschreibungen in der VGR unabhängig von den Bilanzen berechnet). Wenn die Gewinne der Unternehmungen steigen, die zusätzlichen Mittel aber nicht für reale Investitionen verwendet werden, so gibt es zwei alternative Verwendungsmöglichkeiten: Finanzinvestitionen oder Schuldentilgung. Analysen der AK Wien auf der Grundlage der Bilanzen von ca. 150 Kapitalgesellschaften im Sektor Industrie3) zeigen, dass beides stattgefunden hat. Die Mittelverwendung für Finanzanlagen (Bankguthaben, Wertpapiere, Beteiligungen an anderen Unternehmungen) hat im Zeitraum 1992-2003 ebenso überdurchschnittlich zugenommen wie die Verminderung der Schulden, die sich in einer deutlichen Erhöhung des Eigenkapitalanteils von anfänglich 30% auf über 40% am Ende der Periode niederschlägt.

In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge aber noch komplizierter und die (negativen) Wirkungen der nicht real investierten Gewinne größer als diese Zahlen erkennen lassen. Im gesamtwirtschaftlichen Einkommenskreislauf sind Einkommen, Nachfrage und Produktion immer gleich groß. Nicht in Nachfrage nach Investitions- oder Konsumgütern umgesetzte Gewinne führen postwendend zu einer Absenkung der Produktion, aber gleichzeitig auch zu einer Absenkung der im Produktionsprozess entstehenden Einkommen. Dieser Effekt, nämlich der Ausfall an Sozialprodukt (BIP) und Einkommen als Folge des Investitionsattentismus der Unternehmen, ist bedeutender, und er ist die Ursache unserer nun schon vier Jahre anhaltenden Wachstumsschwäche.

Streit im deutschen -Sachverständigenrat
Auch in Deutschland – ebenso wie in den meisten anderen EU-Ländern – hat sich seit mehr als zwei Jahrzehnten die Schere zwischen Löhnen und Unternehmensgewinnen immer weiter geöffnet, ohne dass dies zur Belebung des Wachstums und zur Verbesserung der Beschäftigungslage geführt hätte. Das hindert die Mehrheit des als offizielles Beratungsorgan der Regierung fungierenden »Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« nicht, unverdrossen immer wieder aufs Neue weitere Lohnzurückhaltung anzumahnen und als Therapie gegen die Stagnationskrankheit zu empfehlen. In mehreren Minderheitsvoten hat Professor Jürgen Kromphardt, der auf Vorschlag des DGB in den Sachverständigenrat nominiert wurde, dargelegt, warum ein Zurückbleiben des Lohnniveaus hinter der Produktivität nicht beschäftigungsfördernd sei, vielmehr zu diesem Zweck ein Anstieg der Reallöhne im Ausmaß der Produktivitätszunahme geboten ist. Die Lohnzurückhaltung führt unmittelbar zu einem Ausfall an Konsumnachfrage und damit an Einnahmen der Unternehmungen aus dem Verkauf von Konsumgütern. Deshalb haben die Unternehmen, »bei denen die zusätzlichen Gewinne anfallen, keinen Anreiz, mehr Investitionen durchzuführen, sodass auch die Investitionsgüterindustrie keine zusätzlichen Aufträge erhält. Wenn die Unternehmen die zusätzlichen Gewinne darauf am Kapitalmarkt anlegen, so könnten sich die Finanzierungsbedingungen anderer Unternehmen durch steigende Kurse und sinkende Zinssätze eventuell weiter verbessern, aber die entscheidende Voraussetzung für Erweiterungsinvestitionen, nämlich die Erwartung zusätzlich steigender Absatzmengen, wird dadurch nicht erfüllt. Diese Voraussetzung kann nicht durch das Argument ersetzt werden, Ersparnisse würden von den Kapitalmärkten regelmäßig in private und staatliche Nachfrage transformiert … Gehen nämlich Produktion, Beschäftigung und Einkommen zunächst zurück, so entstehen erst gar keine zusätzlichen Ersparnisse, die in Nachfrage transformiert werden könnten.«4)

Wohlstand für alle!
Zuletzt hat sich Professor Peter Bofinger, der als Nachfolger Kromphardts in den Sachverständigenrat nominiert wurde, in diesem Gremium selbst und in seinem in den Medien viel beachteten Buch »Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle«5) vehement gegen die Leier zur Wehr gesetzt, dass es allen besser gehen wird, wenn eine Lohnsenkung – seit einiger Zeit im Gewand der Arbeitszeitverlängerung daher kommend – den Unternehmen höhere Gewinne ermöglichen würde. Einige Mitglieder des Sachverständigenrates reagierten darauf mit persönlichen Angriffen, was nicht gerade ein Anzeichen dafür ist, dass sie sich ihrer Sache besonders sicher sind.

Jedenfalls haben sich in den letzten Monaten Meldungen gehäuft, die darauf hinweisen, dass mangelnde Nachfrage und nicht schlechte Unternehmensgewinne der Grund der europäischen Konjunkturschwäche sind. Dass der europäische Exportboom 2004 sich nicht in einem beschleunigten Aufschwung 2005 fortsetzt, sondern das Wachstum bei 2% dahindümpelt, ist auf das anhaltend geringe Einkommenswachstum und die erhöhte Unsicherheit über die zukünftige Einkommenssituation zurückzuführen. Auf der anderen Seite tritt die Tatsache immer deutlicher ins allgemeine Bewusstsein, dass die Kassen der Unternehmen so voll sind wie schon lange nicht mehr. »Und sie schwimmen in Milliarden« übertitelte die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit«6) einen Beitrag, in dem das wachsende Missverhältnis zwischen Realinvestitionen und Finanzanlagen analysiert wird. »Das Gros der Aktiengesellschaften schwimmt in Geld, in Deutschland genau so wie in Amerika oder Japan. Flüssige Mittel von je einer Billion Dollar schieben die börsennotierten Konzerne diesseits und jenseits des Atlantiks vor sich her, aber in keinem dieser Länder setzen die Unternehmen wieder auf Expansionskurs … Anstatt zu investieren, schütten sie das Geld an ihre Aktionäre aus – entweder in Form von Sonder-dividenden oder indirekt, indem sie eigene Aktien zurückkaufen und auf diese Weise den Börsenkurs nach oben treiben.« Die damit verbundenen Einkommens- und Vermögenszuwächse sind allerdings in hohem Maße auf die oberste Einkommensschicht konzentriert, sodass davon nur ein verhältnismäßig geringer Impuls auf den Konsum ausgeht, bzw. diese Wirkung mit einiger Verzögerung eintritt.

D E F I N I T I O N E N

Der Nettobetriebsüberschuss (= exklusive AfA) ist das Einkommen, das den Wirtschaftseinheiten aus der Eigennutzung ihrer Produktionsanlagen zufließt.

Das Selbständigeneinkommen sind die Ein-kommen der Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit.

Das Arbeitnehmerentgelt = Bruttolöhne und -gehälter + Sozialbeiträge der Arbeitgeber.

Die bereinigte Lohnquote ergibt sich durch Konstanthalten der Beschäftigtenstruktur 1995 (Faktor: unselbständig Beschäftigte 95/Erwerbstätige 95).

Das Nettonationaleinkommen (NNE, auch: »Volkseinkommen« genannt) umfasst die Lohnsumme, den Nettobetriebsüberschuss und die Selbständigeneinkommen (bereinigt um den Saldo aus Faktoreinkommen an das bzw. aus dem Ausland)

 

Konsequenzen für die Steuerpolitik
Woher können Impulse für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kommen, die zu einer höheren Wachstumsrate des BIP führen, und zwar so, dass dieser Impuls nicht in der darauffolgenden Periode wieder verloren geht, sondern dauerhaft zu einer Anhebung des Wachstumstempos und damit auch der Beschäftigung führt? Prinzipiell kommen dafür neben einer Erhöhung der staatlichen Nachfrage (öffentliche Investitionen und öffentlicher Konsum) Steuersenkungen in Frage, welche die Einkommen der Haushalte (vor allem der Arbeitnehmer) oder/und der Unternehmen erhöhen. Diese können, müssen aber nicht notwendigerweise für mehr privaten Konsum oder mehr Investitionen ausgegeben werden. Die Impulswirkung einer Steuersenkung wird umso größer sein, je mehr von dem zusätzlich verfügbaren Einkommen auch tatsächlich nachfragewirksam wird. Dazu gibt es in jüngster Zeit Erfahrungsbeispiele, die eine recht eindeutige Schlussfolgerung nahe legen.

In Deutschland hat die rot-grüne Regierung zu Beginn ihrer ersten Periode eine umfassende Steuerreform beschlossen, die massive Senkungen sowohl bei den Unternehmenssteuern als auch bei der Lohnsteuer vorsah. Unmittelbar am stärksten wurde diese Steuersenkung bei der Körperschaftsteuer wirksam. Vorübergehend wurden die Staatseinnahmen aus der Körperschaftsteuer sogar negativ (2001), das heißt dass die Rückvergütungen die Steuerzahlungen sogar übertrafen. Die Reform führte jedoch auch unter Berücksichtigung der Kompensationen im Bereich anderer Steuern dauerhaft zu einer massiven Entlastung vor allem der Kapitalgesellschaften. 2004 betrugen diese- Einnahmen rund 13 Milliarden Euro – 2000 waren es noch 23,5 Milliarden Euro gewesen. Es standen also den Unternehmungen in den letzten Jahren aus diesem Grund wesentlich mehr Finanzmittel zur Investitionsfinanzierung zur Verfügung. Die gesamten Investitionen der Unternehmungen entwickelten sich allerdings genau in die Gegenrichtung: von 2000 bis 2002 sanken sie nominell um fast 10%, auch danach blieben die Investitionen in Deutschland auf niedrigem Niveau.

Fehlende Nachfrage
Die Kapitalgesellschaften »schwimmen zwar in Milliarden«, aber sie investieren deshalb nicht mehr – weil es an Nachfrage für die Produkte fehlt. Wenn die Absatzerwartungen der Unternehmungen pessimistisch sind, bleibt eine Senkung der Unternehmenssteuern ohne Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung – verschoben wird allerdings die Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer.

Ein anderer Weg wurde in den USA beschritten. Die Steuersenkungen der Regierung von Präsident Busch kamen primär den Haushalten, längerfristig zwar vor allem den Beziehern hoher Einkommen zugute, kurzfristig besserten sie aber auch das verfügbare Einkommen aller Haushalte spürbar auf. Die Maßnahme hat sich als kurzfristig sehr wirksamer Impuls für den privaten Konsum erwiesen und wesentlich dazu beigetragen, dass die Wirtschaft der USA die Rezession 2001 rasch überwinden konnte und 2004 wieder doppelt so stark gewachsen ist als die europäische. Das Negativbeispiel Deutschland hat allerdings keinerlei Eindruck auf die -österreichische Regierung gemacht. Bei der Steuerreform 2005 hat sie ihre Dankesschuld an die Unternehmerseite für die politische Unterstützung in den vergangenen Jahren abgetragen und einen Großteil des vorgesehenen Entlastungsvolumens für eine Senkung des KöSt-Satzes von 34% auf 25% bzw. für die Einführung der so genannten »Gruppenbesteuerung« verwendet. Damit wurde die Chance vergeben, der privaten Konsumnachfrage durch eine stärkere Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer einen entsprechend kräftigen Impuls zu geben. Auch die Haushalte können – ähnlich den Unternehmungen – auf Erhöhungen ihrer verfügbaren Einkommen mit einer Erhöhung der Ersparnisbildung reagieren. Sie werden dies besonders dann tun, wenn ihre künftigen Einkommen unsicherer werden. In dieser Hinsicht hat die Politik durch Pensions- und andere Sozial-»Reformen« in den letzten Jahren das Ihrige dazu beigetragen, um die Kaufzurückhaltung zu fördern. Bei so vielen negativ wirksamen Einflüssen darf es eigentlich niemanden wundern, wenn die europäische Wirtschaft seit Jahren mehr oder weniger stagniert. Umgekehrt zeigt sich auch, wie wichtig es wäre, den Hebel auch bei einer stärkeren steuerlichen Entlastung der Arbeitnehmereinkommen anzusetzen.

Umdenken in der Verteilungspolitik ist überfällig!
Die Lohnpolitik ist prinzipiell eine Angelegenheit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und keine Regierungsaufgabe. Sehr wohl aber beeinflussen die von der Regierung zu verantwortenden Bereiche der Wirtschaftspolitik die Entwicklung der Effektivlöhne. Wie bereits ausgeführt, hat die Regierung in der Steuerpolitik wichtige Instrumente in der Hand, mit denen die Nettolohnentwicklung innerhalb der budgetären Spiel-räume gesteuert werden kann. Darüber hinaus gehen von einigen Politikbereichen direkt und indirekt Einflüsse auf die Effektivlöhne aus. Man denke etwa an die Arbeitsmarktpolitik, die durch Intensität und Umfang ihres Schulungs- und Weiterbildungsangebots die Chancen von Personen, nach Verlust des Arbeitsplatzes einen ihren Fähigkeiten entsprechenden neuen Arbeitsplatz zu finden, mitbestimmt, aber auch durch die Höhe der Ersatzquote der Arbeitslosenversicherung.

Arbeitszeitpolitik
Besonders relevant ist in jüngster Zeit die Frage der Arbeitszeitpolitik. Statt den Druck auf die Einkommen durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen oder durch Arbeitszeitverlängerung bei gleichbleibendem Monatslohn durch -Änderungen des Arbeitszeitrechts zu -verstärken, wie dies die österreichische Regierung und auch die EU mit dem derzeit vorliegenden Entwurf einer neuen Arbeitszeitrichtlinie planen, sollte die -Politik sich darum bemühen, den vom Arbeitsmarkt ausgehenden Druck auf die Einkommen wegzunehmen, etwa durch eine strengere Regulierung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse.

Die Beispiele einiger europäischer Länder zeigen, dass stärkere Reallohnerhöhungen und höheres Wirtschaftswachstum durchaus Hand in Hand gehen können.
   

 Durchschnittliches Wachstum pro Jahr von
 

BIP real  

 Reallöhne je Beschäftigten 

   1996-2000  2001-2004  1996-2000  2001-2004

Österreich    

2,9

1,1

0,2

0,2

Deutschland

1,8

0,6

0,0

-0,2

EU 12  

2,6

1,2

0,3

0,5 

Großbritannien

3,2

2,4

2,3

2,9 

Schweden

3,2

2,1

3,4

1,2 

Quelle: EU-Kommission, Herbstprognose 2004

In der Periode 1996 bis 2000 erreichte das Wirtschaftswachstum in Österreich und in der Eurozone einen einigermaßen akzeptablen Wert, die Löhne haben in dieser Zeit praktisch stagniert (siehe -Tabelle 1). In den darauf folgenden vier Jahren ging das BIP-Wachstum bei anhaltender Lohnstagnation deutlich zurück. Großbritannien und Schweden haben in der ersten, aber vor allem in der zweiten Periode gemessen am BIP eine deutlich bessere Wirtschaftsentwicklung gehabt. In beiden Ländern sind die Reallöhne deutlich gestiegen, und zwar in beiden Perioden. Die bessere Entwicklung hat mittelfristig auch ein stärkeres Nachfragewachstum und damit auch ein deutlich besseres Wirtschaftswachstum ermöglicht.

1) Zu den gesamtwirtschaftlichen Indikatoren BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Kopf und Produktivität kommen Indikatoren für Beschäftigung, Bildung und Forschung, Wirtschaftsreform, sozialen Zusammenhalt und Umwelt.
2) In Österreich war – ursprünglich befristet mit Ende 2003 – eine besondere Investitionsförderung in Kraft (»Investitionszuwachs-prämie«), die dann auf das Jahr 2004 ausgedehnt wurde. Dies führte zum zeitlichen Vorziehen von Investitionen, wird sich allerdings im Jahr 2005 negativ auswirken, sodass in diesem Jahr die Investitionen der Unternehmungen nur sehr schwach steigen werden.
3) Siehe dazu den Beitrag von Alfred Kraus »Statt Realinvestitionen – mehr Finanzkapitel« auf Seite 14 in diesem Heft sowie seine beiden Untersuchungen über die »Investitionspolitik der Industrie« (April 2003 und Dezember 2004).
4) Aus dem Jahresgutachten 2003/04, Textziffer 659.
5) Verlag Pearson Studium, München, EUR 20,60.
6) »Die Zeit«, Ausgabe vom 7. Oktober 2004, Seite 21


R E S Ü M E E

Nicht nur aus verteilungspolitischen Gründen, sondern auch im Interesse eines stärkeren Wirtschaftswachstums und einer Verbesserung der Arbeitsmarktsituation haben die Gewerkschaften daher gute Gründe, bei den Kollektivvertragsverhandlungen Lohnerhöhungen im Ausmaß des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachses zu fordern. Dabei ist zu betonen, dass es gar nicht um eine ruckartige Lohnerhöhung geht, sondern um Größenordnungen, die die Lohnquote ebenso unverändert lassen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Exporte. Im Gegensatz zu einer immer noch vorherrschenden Ansicht wäre ein weiteres Zurückbleiben des Lohnniveaus hinter der Produktivität nicht beschäftigungsfördernd, vielmehr ist zu diesem Zweck ein Anstieg der Reallöhne im Ausmaß der Produktivitäts-zunahme geboten.

Die Arbeitnehmer habe dabei gar nichts dagegen, dass auch die Gewinne zunehmen und es den Unternehmen – oder wie ihre Interessenvertretung sagt: »der Wirtschaft« – noch besser geht.

Der umgedrehten Parole, dass erst die Unternehmensgewinne kräftig steigen müssen, damit es allen besser geht, können sich die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer allerdings nicht anschließen – denn die Erfahrungen der letzten Zeit sprechen eindeutig gegen diese propagandistische Behauptung.

Von Günther Chaloupek (Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaften in der AK Wien)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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