Kommentar | Sackgasse Ökonomisierung

Menschen hatten und haben die Fähigkeit, verantwortungsvoll, respektvoll und solidarisch zu sein, das Gemeinsame vor das Eigeninteresse zu stellen. Das Bedürfnis nach Fairness leuchtet aus vielen Handlungen heraus. Die Fantasie, dieser wundervolle Aspekt der Natur der Menschen, will nicht nur die Fokussierung auf profitträchtige Anwendung, Verwertung und Nutzbarmachung von allem und jedem. Sie will das Paradies von Liebe, Symmetrie, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit.
Raum für Fairness und Solidarität
»Wir können uns das nicht mehr leisten, wir müssen den Gürtel enger schnallen, der Generationenvertrag wird nicht halten, die Kosten des Sozialstaates wuchern« – solche und ähnliche Botschaften hören die BürgerInnen der reichsten Länder dieser Welt – darunter Österreich, derzeit unter den ersten zehn – täglich. Auf der anderen Seite stehen folgende Fakten: »Die Rationalität der Produktion wächst kontinuierlich und dynamisch. Die Wirtschaft, die Unternehmensgewinne und die Privatvermögen wachsen kontinuierlich und dynamisch. Die Zahl der Milliardäre hat in den letzten fünf Jahren etwa um 70 Prozent zugenommen.« Im Gegensatz dazu wuchert der Sozialstaat nicht wie ein Krebsgeschwür, so wie ihn seine GegnerInnen darstellen. Die Sozialleistungsquote ist in Beziehung zur Wirtschaftsleistung seit 30 Jahren etwa konstant. Es ist eine zentrale Gestaltungsaufgabe, die der Politik, den Institutionen und uns einzelnen mündigen BürgerInnen aufgetragen ist, die Handlungsräume der Wirtschaft nach Regeln von Fairness, von Verantwortungsbewusstsein gegenüber KollegInnen, KundInnen und der Allgemeinheit und als Raum für solidarisches Handeln zu gestalten. Nur wenn wir Wirtschaft als Raum des fairen, auf die Interessen der anderen Bezug nehmenden Handelns auffassen, geben wir der Natur, der Kultur, unseren Mitmenschen und unseren Kindern eine Chance.
Es gibt ein neues und falsches Leitbild der Einrichtung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und individuellen Lebens: Die Durchsetzung des individuellen Vorteils auf dem Markt in freier Konkurrenz. Die Durchsetzung des individuellen auf Gewinn ausgerichteten Vorteils schaffe auch das bestmögliche Ganze – so die These, der in den öffentlichen Diskursen heute kaum jemand widerspricht. Jede Leistung, auch wenn es sich um Erziehungs-, Beziehungs-, Bildungs- und Pflegeleistungen handelt, soll zum Produkt, soll zur Ware werden, die sich auf einem freien Markt in Konkurrenz mit anderen Anbietern bewähren muss. Alle Beziehungen werden als Konkurrenzbeziehungen gestaltet. Unternehmens- und PersonalberaterInnen bieten die adäquaten Managementformen dafür an.
Alle Leistungen, die auf Liebe, Vertrauen, Zuwendung und Solidarität beruhen, geraten ins Hintertreffen, werden marginalisiert. Leistungen, die sich nicht als marktfähig erweisen, werden als unproduktiv und unfunktional dargestellt, obwohl sie den wahren Kitt der Gesellschaft bilden und für Zusammenhalt sorgen. Gesellschaften brauchen verantwortungsvolle UnternehmerInnen, LehrerInnen, MedizinerInnen, ArchitektInnen, KindergärtnerInnen, die ihre Arbeit mit Engagement, Überzeugung und einem kritischen Blick auf das Große, das Ganze und das Detail leisten können.
Wir müssen nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit in einer Konkurrenz, die die MitakteurInnen als GegnerInnen sieht, stärken, wir müssen das Gemeinsame, das miteinander Handeln, Koexistenz und Kooperation rehabilitieren, üben und als Handlungs- und Leitprinzip verankern.
Hubert Christian Ehalt,
Univ.-Prof. Dr., Wissenschaftsreferent der Stadt Wien und Professor für Sozialgeschichte an der Universität Wien

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