Kommentar | Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges

Sind sie doch die wesentlichsten Voraussetzungen, um die Position nicht nur der Gewerkschaften, sondern aller Gegner einer Änderung des Pensionssystems in Österreich verstehen zu können und um gleichzeitig all jene zu warnen, die sich von den geplanten Opfern der Bundesregierung eine Besserung der Situation erwarten.

1. Die Pensionen sind finanzierbar.

Nicht nur das, Österreich hat eines der besten und leistungsfähigsten Pensionssysteme der Welt. Jeder Mensch in Österreich, der sich mit den wirtschaftlichen Daten beschäftigt, weiß dies. Der staatliche Zuschuss zu den Pensionen gemessen am BIP sinkt sogar! Gefragt ist vielmehr eine Anhebung der unteren Pensionen! Alle aber, die für eine Kürzung der Pensionen eintreten, müssen ehrlicherweise sagen: wir wollen uns dieses Pensionssystem nicht mehr leisten.

2.Die Finanzierbarkeit der Pensionen hängt am wenigsten von der demographischen Entwicklung ab.

Auf dieses Killerargument fallen erstaunlicherweise fast alle herein, – vor allem auch JournalistInnen.

Nach diesem Dogma würden etwa in Nigeria derzeit die PensionistInnen am besten leben, da dieses Land eine der jüngsten Bevölkerungen hat. Ob Pensionen finanzierbar sind und bleiben, hängt in erster Linie von der Produktivität der Wirtschaft ab. Ein Vergleich mit der Landwirtschaft macht da sicher. Um es mit Norbert Blüm, dem ehemaligen Sozialminister der CDU, auszudrücken: »Eigentlich müssten wir nach der Kopfzahltheorie verhungert sein, weil 1900 ein Bauer drei Konsumenten ernährt hat, heute aber auf einen Landwirt über achtzig Verbraucher kommen.« Gemessen an der Zeit nach dem 2. Weltkrieg sind wir heute um so vieles reicher und leistungsfähiger, dass Pensionssicherung (wie alle anderen sozialen Errungenschaften auch) heute nur eine Frage der Verteilung und des Verteilungswillens ist. Bei einem jährlichen Wachstum der Produktivität von 2% stellt jeder Werktätige in 50 Jahren pro Stunde um knapp 170% mehr her als heute!

3. So lange es keine Besteuerung nach Wertschöpfung gibt, hängt unser Sozialsystem in zweiter Linie von der Anzahl der Arbeitsplätze und dem Grad der Beschäftigung ab.

Oder, um es mit anderen Worten auszudrücken: hätten wir uns in den sechziger und siebziger Jahren auch den Luxus von 300.000 Arbeitslosen (oder wie in Deutschland fünf Millionen) geleistet, wären damals schon in unseren Pensionskassen größere Löcher entstanden.

4. »Wir« haben also auch nicht

– wie es immer als Argument kommt – über unsere Verhältnisse gelebt, sondern die Politik der letzten 20 Jahre hat Einkünfte aus Gewinnen und Vermögen über unsere Verhältnisse entlastet. Diese Milliarden gehen uns immer mehr ab.

Und es soll ja noch schlimmer kommen: Viele Politiker drohen uns mit einer weiteren Senkung der Abgabenquote. Hier beginnt wohl das schäbigste Spiel neoliberaler Politiker à la Bartenstein und Grasser. Wenn sie von Steuersenkungen und Entlastungen sprechen, verbinden die DurchschnittsösterreicherInnen damit die Vorstellung, dass damit ihre Steuern und Abgaben gemeint wären. Weit gefehlt. Bartenstein im O-Ton: Idealziel 25% Körperschaftssteuer!2)

Solche Aussagen sind eine generelle Kriegserklärung an den Sozialstaat: Man hungert den Staatssäckel aus, schafft damit das Diktat der leeren Kassen und kann somit weitere Steuererleichterung für Unternehmungen fordern: Umverteilung von unten nach oben unter schamloser Benützung des viel geschmähten Staates.

5. Die Frage der Finanzierbarkeit der Pensionen ist also

– wen wundert’s? – eine Verteilungsfrage. Auch in dieser Frage weiß an sich jeder Experte, dass der Anteil der Lohnsteuer am Gesamtsteueraufkommen sich ständig erhöht und der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern verringert hat, wobei die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen sich im Vergleich zu den Löhnen und Gehältern um das Vielfache erhöht haben.

6.Frühpensionierungen sind nicht ein Ziel an sich, aber ein gutes Medikament bei Versagen einer guten Arbeitszeitpolitik.

Wenn Produktivitätssteigerung nicht in einem ausreichenden Maße an Konsumenten und Arbeitnehmer weitergegeben wird, bestraft sich die Wirtschaft selbst.
Das Geheimnis der Aufschwungphase nach dem Krieg war, dass dies zumindest in gewissem Ausmaß in Form von Reallohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen für die Beschäftigten geschah. Seit dem Beginn der Achtziger- jahre ist es damit vorbei. Die in Österreich nun so verketzerten Frühpensionierungen sind eigentlich ein Grund für unser langsameres Bremsen der Konjunktur, weil de facto damit die nicht weitergeführte wöchentliche Arbeitszeitreduktion auf diesem Wege teilkompensiert wurde. Ansonsten wäre die Arbeitslosenrate etwa gleich hoch wie im EU-Durchschnitt. Und Arbeitslosigkeit ist bekanntlich die teuerste Form der Arbeitszeitverkürzung.

7. Wie man bei fallenden Börsenkursen, rundum crashenden Pensionsfonds und ständigen Leistungskürzungen bei Privatpensionen kapitalgedeckte Pensionen als Alternative anpreisen kann, ist ein Meisterstück gelungener Manipulation unserer Zeit.

Aktuell müssen die Schweizerischen Pensionskassen zugeben, dass sie mit 50 Milliarden Franken (!) in der Kreide sind, und ihre Kunden damit zu beruhigen versuchen, dass sie beteuern, nicht insolvent zu sein, sondern nur ihren vertraglichen Leistungen nicht mehr nachkommen zu können.3)

8. Wird dieser Umstieg noch dazu vom Staat steuerlich gefördert, kommt dieses System teurer als das alte:

Das britische Pensionssystem – übrigens nach einer Umstellung im Schüsselschen Sinn eines der schlechtesten der EU – kommt dadurch dem Staat um ein Drittel teurer: Österreich verwendet 2% des Budgets für Pensionszuschüsse, Großbritannien verwendet 3% für Steuererleichterungen, die natürlich wiederum den Wohlhabenderen mehr nützen. Ein Drittel der PenionistInnen ist in Großbritannien seitdem verarmt.

9. In Wahrheit geht es dieser Regierung darum, ein System einzuführen, welches bei einer Grundpension mit einer ca. 50%igen Nettoersatzrate landet.

Die FPÖ hat das seit dem Jahr 2000 in ihrem Programm, und »Experte« Dr. Matzal gib es auch unumwunden zu: Alle unter-35-Jährigen, die nicht monatlich mindest 200 Euro für ihre Pension verwenden, werden im Alter nicht viel haben4). Die großen Verlierer werden also die Jungen sein. Damit wird das Inserat des Herrn Bundeskanzler mit einem Zitat des »Experten« Tomandl zur blanken Lüge: »Gewinner sind die Jüngeren5)

10. Die Armut in Österreich wird nach »Reformen« wie die vorliegende steigen, die Wirtschaft noch mehr lahmen.

Man rechnet mit einem Rückgang des BIP um bis zu vier Prozentpunkten. Es soll sich daher niemand wundern, wenn von einer Regierung, die diese grundlegenden Zusammenhänge ignoriert, in ein paar Jahren die nächste »Reform« ausgerufen wird, weil es der Wirtschaft noch schlechter geht, die Staatseinnahmen weiter sinken, das Budgetloch noch größer geworden ist. Eine Reform wie diese schüttet Öl ins Feuer und fährt Wirtschaft und Sozialstaat vorsätzlich an die Wand.

1) Dieser Beitrag ist in gekürzter Form in der Tageszeitung »DER STANDARD« erschienen
2) Der STANDARD, 16./17. November 2003
3) ORF, Ö1 Morgenjournal, 28. Mai 2003
4) ORF Ö 1 Abendjournal, 27. Mai 2003
5) Z. B. Der STANDARD, 28./29. Mai 2003, Seite 3

Von Sepp Wall-Strasser (Bildungssekretär des ÖGB Oberösterreich)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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