Keine Panikmache

"Sozialtourismus" – mit diesem Schlagwort haben in den vergangenen Monaten Boulevardmedien und sehr „heimatverbundene“ Parteien versucht, politisch zu punkten. Gewarnt wurde vor Scharen von Auswanderinnen und Auswanderern aus Osteuropa, die sich in Österreich und anderen wohlhabenden Staaten angeblich auf die „soziale Hängematte“ drängen wollen.

Von Schockwelle keine Rede

Ursache für die Aufregung: Seit 1. Jänner 2014 haben auch ArbeitnehmerInnen aus Rumänien und Bulgarien das Recht auf uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt der EU. Bekanntlich erfolgte die Arbeitsmarktöffnung in homöopathischen Dosen: Bereits am 1. Mai 2011 sind die, von Österreich und Deutschland initiierten, siebenjährigen Übergangsbestimmungen für Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen, Estland, Lettland und Litauen ausgelaufen. Seither dürfen Personen aus diesen EU-8 auch in Österreich und Deutschland ohne Einschränkungen arbeiten. Schon damals war die Angst vor einer Überflutung durch Billigarbeitskräfte groß – die tatsächlichen Auswirkungen blieben allerdings bescheiden. Laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO war ein Jahr nach der ersten Öffnungsrunde die Zahl der aus den EU-8-Ländern stammenden unselbstständig Beschäftigten um 21.736 Personen angestiegen. Insgesamt betrug die Nettozuwanderung (also auch aus Nicht-EU-Ländern) 2011 rund 31.000 Personen, 2012 waren es knapp 44.000. Im Vergleich zu 2010 mit zirka 29.000 Personen sehen wir eine steigende Tendenz, von einer Schockwelle kann aber keine Rede sein.

Auch bei der aktuellen Öffnungsrunde sind Heulen und Zähneklappern fehl am Platz, wie eine Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und des IHS belegt. Die im Auftrag des Sozial- und des Wirtschaftsministeriums erstellte Analyse geht davon aus, dass 2014 eine Zuwanderung von 7.173 Personen aus Bulgarien und Rumänien (EU-2) zu erwarten ist. 2015 sollen es 12.518 Zuwanderinnen und Zuwanderer sein. Ohne Liberalisierung des Arbeitsmarktes wäre der Zuzug laut Modellrechung der Studie etwas geringer ausgefallen: Somit werden 2014 und 2015 pro Jahr rund 5.500 Menschen aus Bulgarien und Rumänien mehr auf Arbeitssuche in Österreich gehen, als das ohne der Öffnung der Fall gewesen wäre.

Experten wie AMS-Vorstandsmitglied Herbert Buchinger glauben, dass die genannten Zahlen bereits den „oberen Rand des Spektrums“ darstellen: „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass bei einer Arbeitsmarktöffnung in etwa mit einer Verdoppelung des Arbeitskräftezuzugs aus dem Vorjahr zu rechnen ist. Da 2013 zirka 2.000 zusätzliche Arbeitssuchende aus Bulgarien und Rumänien nach Österreich gekommen sind, erwarte ich heuer etwa 4.000 Personen extra aus diesen Ländern.“

Das erscheint nicht gerade viel. Allerdings ist auch Österreich keine Insel der Seeligen mehr und mit der höchsten Arbeitslosenzahl seit 1946 konfrontiert. Das aus der Öffnung entstehende Arbeitskräfteangebot aus Rumänien und Bulgarien hat darauf aber kaum dauerhaften Einfluss. Laut der Studie von wiiw und IHS wird dadurch nämlich nur eine Steigerung der Arbeitslosenquote um 0,03 Prozentpunkte 2014 und 2015 zu bemerken sein. Ab 2016 soll dieser Effekt auf rund 0,02 Prozentpunkte zurückgehen. Auch die Gefahr des Lohndumpings durch jobsuchende Bulgarinnen und Bulgaren sowie Rumäninnen und Rumänen ist laut der Studie praktisch zu vernachlässigen: Die Löhne werden um rund zwei Zehntel Prozentpunkte weniger steigen als ohne den Liberalisierungsschritt.

Positiver Effekt Legalisierung

Natürlich sind Wirtschaftsprognosen im Promillebereich schwierig, entscheidend ist aber die deutliche Grundtendenz, die Hermann Deutsch, Arbeitsrechtsexperte im BMASK, so zusammenfasst: „Die Auswirkungen auf den heimischen Arbeitsmarkt werden marginal sein. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sehr viele Zuwanderungswillige aus Osteuropa, meistens handelt es sich dabei um Fachkräfte, bereits in Österreich arbeiten.“ Ein positiver Effekt sei, dass es jetzt zu einer zusätzlichen Legalisierung des bereits bestehenden Arbeitskräftepotenzials in Österreich kommen sollte. Sprich: Menschen, die bisher schwarzgearbeitet haben, könnten sich durch Wegfall der Restriktionen bei der Sozialversicherung anmelden und in geregelte Arbeitsverhältnisse eintreten. Das hat zum einen den erfreulichen volkswirtschaftlichen Effekt, dass mehr Steuern eingenommen werden können. Zum anderen verbessert sich die Situation für die betroffenen ArbeitnehmerInnen selbst. Denn in der Vergangenheit war immer wieder von ausbeuterischen Bedingungen für Menschen aus Osteuropa zu hören – in illegalen und regulären Arbeitsverhältnissen.

Lohndumping und Sozialbetrug

Für Aufsehen sorgte Ende vergangenen Jahres zum Beispiel ein Fall in Tirol. Rund 50 ErntehelferInnen aus Rumänien und Serbien schufteten mehr als 70 Stunden pro Woche, sechs Tage, angeblich bis zu 15 Stunden pro Tag. Dafür erhielten sie einen Monatslohn von nicht einmal 1.000 Euro; auf die Vergütung der Überstunden, Weihnachts- und Urlaubsgeld wurde dabei „vergessen“. Erst als die ErntearbeiterInnen kollektiv die Arbeit niederlegten, erhielten sie letztendlich die gesetzlich zuständige Entlohnung ausbezahlt. Kein Einzelfall. Auch im privaten Pflegebereich kommt es immer wieder zu Missständen. Man hört von Lohndumping und Knebelverträgen für die betroffenen Frauen, die zu einem Großteil aus Slowenien und Rumänien stammen. Die Caritas empfiehlt einen Tagsatz von rund 60 Euro für die Altenpflege, diverse Vermittlungsagenturen legen aber bereits Angebote ab zirka 30 Euro pro Tag vor. Die „Wiener Zeitung“ berichtete auch, dass manche Agenturen die Reisedokumente der Pflegerinnen einbehalten und horrende Vermittlungsgebühren von den Frauen verlangen. Auch am Bausektor kommt es immer wieder zu Verstößen, bestätigt Rainer Grießl, Direktor der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse (BUAK). Allerdings haben der Gesetzgeber und Arbeitnehmervertretungen reagiert: „Es wurden bereits sehr viele Schritte gegen Sozialbetrug gesetzt, ein entscheidender davon war der Beschluss des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes“, so Grießl.

Das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSDB-G) ist am 1. Mai 2011, also zeitgleich mit der ersten Ost-Arbeitsmarktliberalisierung, in Kraft getreten. Ziel des LSDB-G ist es, gleiche Arbeitsmarkt- und Lohnbedingungen für in- und ausländische ArbeitnehmerInnen zu erreichen. Außerdem soll der faire Wettbewerb für die am Markt agierenden Betriebe sowie die korrekte Entrichtung von Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen sichergestellt werden. Grießl zur konkreten Umsetzung: „Das Gesetz ermöglicht es uns vor Ort, Kontrollen an Baustellen und in Lohnbüros durchzuführen. Stellen wir Unregelmäßigkeiten wie eine Unterentlohnung fest, wird Anzeige gegen die betreffende Firma erstattet.“

Abeitsmarkt gut gerüstet

Die BUAK fungiert aber nicht nur als Kontrollorgan, sondern auch als Informationsstelle: „ArbeitnehmerInnen können bei uns nachfragen, ob sie auch tatsächlich angemeldet sind, wie sie offiziell beschäftigt sind, welcher Lohn ihnen laut Kollektivvertrag zusteht etc. Wir schicken den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch quartalsweise entsprechende Informationen zu ihrem persönlichen Arbeitsverhältnis zu“, erklärt Grießl. Auch BMASK-Experte Deutsch sieht den heimischen Arbeitsmarkt mit Maßnahmen wie dem Sozialdumpinggesetz für die neue Liberalisierungsrunde gut gerüstet und spricht von einer „generell präventiven Wirkung der Kontrollen und möglichen Bestrafungen“.

Die Befürchtung, dass das heimische Sozialsystem von „Sozialtouristinnen und -touristen“ ausgenützt werden könnte, teilt der Experte nicht. Denn um Mindestsicherung und andere Sozialleistungen beantragen zu können, müssen EU-BürgerInnen erst um eine Anmeldebescheinigung ansuchen. Diese erhält man wiederum nur unter bestimmten Bedingungen wie einem umfassenden Krankenversicherungsschutz und ausreichenden Mitteln zur Existenzsicherung. „Sozialtourismus“ ist also eine Mär, ebenso wie die angebliche Flut von Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die den heimischen Arbeitsmarkt zu überschwemmen drohen.

Mehr Infos unter:
www.arbeitsmarktoeffnung.at
www.buak.at
www.bmask.gv.at

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Von Harald Kolerus, Freier Journalist

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.

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