Jobmotor mit Armutsgefährdung

Es steht Aussage gegen Aussage. „Die Krise ist vorbei“, bekundete Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) bereits zum Jahreswechsel. Der konservative spanische Premier lässt sich als erfolgreicher Sanierer feiern, immerhin ist „Superwahljahr“. Kommunal- und Regionalwahlen sind geschlagen, im Spätherbst geht es um seinen Job. So lobte er vollmundig, dass dies allein das „Verdienst der gesammelten Kraftanstrengungen der spanischen Familien“ sei. Und er fragte: „Wer spricht heute eigentlich noch im Zusammenhang zu Spanien von Arbeitslosigkeit, Rettung und Rezession?“ Damit erntete er vor allem eines: Häme. Sind doch die SpanierInnen selbst nach wie vor gemäß dem CIS-Bevölkerungsbarometer von zweierlei überzeugt: 70 Prozent gaben im April 2015 als größte Sorge die Arbeitslosigkeit an. Gar drei Viertel „spürten nichts von einer Verbesserung der Wirtschaftslage“ in den vergangenen zwölf Monaten.

Armut omnipräsent

„So kommen wir nicht aus der Krise“, sagt auch der Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaft Comisiones Obreras (kurz CCOO), Ignacio Fernández Toxo. Er fordert: „Es ist unabdingbar, für würdevolle, qualitative Arbeitsplätze zu kämpfen.“ Cándido Méndez Rodríguez, Chef der sozialistischen Unión General de Trabajadores (UGT), warnte zudem, dass „die negative Kaufkraftentwicklung die Schwäche des einsetzenden Aufschwungs deutlich macht. Diesen spüren weder ArbeiterInnen noch Familien.“
So sind sie nach wie vor lange, die Warteschlangen vor Sozialküchen, Lebensmittelbanken und den Arbeitsämtern. Armut ist ebenso omnipräsent wie offensichtlich: 27,3 Prozent der SpanierInnen, rund 12,8 Millionen Menschen, sind laut Caritas stark von sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Arbeitslosigkeit ist exorbitant hoch: Zu Ende des Erstquartals 2015 lag sie bei 28,78 Prozent, damit sind mehr als 5,4 Millionen SpanierInnen auf Stellensuche.
Wie CCOO-Chef Toxo betont, liegt der Anteil der strukturellen Arbeitslosigkeit bei 13 Prozent. Sprich für die Hälfte gebe es „keine Perspektive, mittel- oder langfristig Arbeit zu finden“ – das Gros der Betroffenen hat nur eine niedrige Qualifikation. In 1,7 Millionen Haushalten geht kein Mitglied einem Erwerb nach. Spanien wird frühestens 2023 das Vorkrisen-Beschäftigungsniveau wieder erreicht haben, lautet die optimistischste Prognose.
Wenngleich Menschen wieder Jobs finden, haben sich die Arbeitsbedingungen im Gefolge der schweren Wirtschaftskrise, die mit dem Platzen der Immobilienblase 2007/08 ihren Ursprung nahm, drastisch verschlechtert. Was der Internationale Währungsfonds (IWF) „als Reformen“ bezeichnet und Ex-Premier José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE) sowie der amtierende Rajoy von der Bevölkerung „als Opfer“ einforderten, machte sich über gesunkene Reallöhne bemerkbar: laut CCOO-Chef „um sieben Prozentpunkte seit dem Amtsantritt von Rajoy Ende 2011“.
Aufweichungen beim Kündigungsschutz, reduzierte Abfindungszahlungen, aber auch eine auf 21 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer für die meisten Produkte und Dienstleistungen gingen damit einher. Erwerbstätige wurden mit der Krise auf einmal deutlich „gesünder“: Die verbuchten Krankenstandstage sanken drastisch, um 28 Prozent in der Privatwirtschaft und immerhin 18 Prozent im öffentlichen Dienst. Die großen Gewerkschaften UGT und CCOO weisen darauf hin, dass die Angst vor Jobverlust im Krankheitsfall groß ist.

Zahnlose Gewerkschaften

Im Kampf gegen jene Entwicklungen wirkten die großen ArbeitnehmerInnen-Verbände trotz der in den schweren Krisenjahren gefundenen Einheit von KommunistInnen und SozialistInnen (CCOO und UGT) zahnlos. Mehrere Generalstreiks – für die Beibehaltung wesentlicher arbeitsrechtlicher Gesetze, sei es in Privatwirtschaft oder öffentlichem Dienst, und gegen Arbeitsrechts- und Pensionsreform – waren weitgehend wirkungslos.
Etwa 35 Prozent der ArbeitnehmerInnen erhalten aktuell den gesetzlichen Mindestlohn (645 Euro, 14 Gehälter pro Jahr). Oder sie leben von Mini-Jobs unter der Armutsgrenze. Sogenannte Working Poor machen fast 13 Prozent der SpanierInnen aus. Daher beklagt CCOO-Generalsekretär Toxo, dass „Spanien das einzige Land Europas ist, wo die Teilzeitarbeit auf Zwang und nicht auf Freiwilligkeit beruht“. Dies betreffe insbesondere Frauen und Junge. Selbst seitens der stets auf Sparkurs beharrenden EU-Kommission kritisierte man, dass man mit einem derart niedrigen Einkommen „kein Leben in Würde führen könne“.

Kaschierte Arbeitslosigkeit

Das schaffen übrigens auch nur die wenigsten der „Neuen Selbstständigen“ (span. „autonomos“). Sie sind aktuell der wahre Jobmotor Spaniens, doch 21,7 Prozent von ihnen leben in Armut. So wirft Toxo der PP-Regierung zu Recht vor, „Arbeitslosigkeit und Prekarität mit Scheinselbstständigen zu kaschieren“. Acht von zehn verdienen weniger als 1.000 Euro monatlich, untermauern auch die Daten der Steuerbehörde.
„39 Prozent derjenigen, die Arbeit gefunden haben, sind neue Selbstständige“, betont auch Àngels Valls, Professorin für Personalmanagement an der ESADE Business School in Barcelona, im Gespräch. Sie konstatiert „einen drastischen Verlust der Qualität der Arbeitsverhältnisse zugunsten der Quantität“. Neue Selbstständige lockt man jüngst auch per „Flatrate“: Wer sich erstmals anmeldet, muss ein Semester lang nur 50 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen monatlich berappen (regulär: über 300 Euro).
Spät, aber doch kündigte Rajoy ein Hilfsprogramm für Selbstständige an. Wer mit seiner ersten Geschäftsidee scheitert, dem/der soll es mit dem „Gesetz der zweiten Chance“ – einer Art Privatkonkurs, der in Spanien nicht existiert – weit einfacher gemacht werden, neu zu starten. Sozialversicherung und Finanz feilen an einem Paket, um die Konsequenzen einer etwaigen Pleite zu vermindern. Stundungen von Restschulden und Subventionen sollen sogleich helfen, wieder unternehmerisch auf die Beine zu kommen.
Vom Krisenfrust und von flächendeckender Politkorruption, in die auch UGT- und CCOO-Funktionäre involviert waren (wie im Fall der „ERE“, in Andalusien abgezweigte Ausbildungsgelder für Arbeitslose), profitieren nun Protestparteien: Auf der einen Seite die linke Anti-Austeritätspartei „Podemos“ (dt. „Wir können“), eine Art spanische Syriza, auf der anderen Seite die „Ciudadanos“ (dt. „Bürger“) mit einem rechtsliberalen Anstrich. Dieser aber trügt, denn sie sind keine spanische Variante von Österreichs „Neos“. Auf ihren Listen stehen Dutzende Ex-Falangisten (Einheitspartei von Ex-Diktator Francisco Francos, Anm.) und vereinzelt Neonazis.

Umstrukturierte Schulden

Beide kanalisieren die Wut und Ohnmacht der Masse mit populistischen Programmen. Die „Podemos“ fordert die „35-Stunden-Woche“ bei vollem Lohnausgleich. Sie setzt auf mehr Sozialausgaben, gestärkte Gewerkschaften – deren Position unter Rajoy gestutzt wurde –, mehr BeamtInnen in der Bildung und im Sozialbereich sowie auf ein bedingungsloses Grundeinkommen. Außerdem fordert sie eine Umstrukturierung der Staatsschulden, die mit einer Billion Euro einen historischen Höchstwert markieren und weiter steigen. Und sie regt Haushalts- und Familienschuldenschnitte an. Das kommt an und mobilisierte auch des Wählens müde StaatsbürgerInnen.
Zugleich legten die Konservativen den „Knebel“ an: Mit dem Beschluss der „Bürgersicherheitsgesetze“, das die SpanierInnen als „Knebelgesetz“ (span. „Ley Mordaza“) kritisierten, wurden nicht nur de facto alle Formen friedlichen Protests verboten. Beunruhigten doch Massenproteste wie die Zeltlager der 15-M-Bewegung 2011 – eine der Wurzeln von „Podemos“ – am Madrider Platz Puerta de Sol nicht nur ausländische InvestorInnen. Viele der damals Kampierenden sind nach wie vor „Empörte“. Andere sind emigriert – eine Lösung, auf die viele Junge spekulieren, immerhin wollen sechs von zehn jungen SpanierInnen auswandern. Mittlerweile leben ohnehin mehr als 2,4 Millionen SpanierInnen fern ihrer Heimat, mit weiterhin steigender Tendenz. Über 112.000 verließen Spanien etwa im Vorjahr.

Internet:
Sozialistische Gewerkschaft Unión General de Trabajadores:
www.ugt.es
Kommunistische Gewerkschaft CCOO, Comisiones Obreras:
ccoo.es

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Von Jan Marot aus Granada, Freier Auslandskorrespondent für Spanien, Portugal und Nordafrika

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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