Trotz des gewaltigen Zuwachses an Bedeutung lässt sich aber nicht übersehen, dass es sich bei Europa doch noch sehr weitgehend um ein Projekt »in progress« handelt, dessen künftige Konturen und Funktionsweisen noch nicht genau abzusehen sind. Die anstehenden Probleme sind an den schwierigen und strittigen Überlegungen erkennbar, die sich bei den Fragen des Umfangs und der Terminisierung der EU-Erweiterung, bei den Auseinandersetzungen des Konvents über die künftige Verfassung der EU und nicht zuletzt bei den wirtschaftspolitischen Problemen und Divergenzen, insbesondere in den Bereichen der Agrarwirtschaft und der Konjunkturpolitik, ergeben. Während viele dieser Probleme und Auseinandersetzungen generell und insbesondere angesichts eines umfangreichen Transformationsprozesses unvermeidlich sind, dürften einige von ihnen doch mit konkreten Aspekten der EU verbunden sein.
Wiewohl es im Folgenden vorwiegend um wirtschaftspolitische Fragen geht, möchte ich zunächst kurz auf eine grundlegende Schwäche der Diskussionen und Einschätzungen eingehen, die auch auf die wirtschaftspolitische Diskussion abfärbt. Dass der europäische Raum im Rahmen einer wachsenden weltweiten Globalisierungstendenz eine spezifische Entwicklung durchläuft, steht außer Zweifel. Sie setzte vor mehr als fünfzig Jahren relativ bescheiden mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS 1951) ein und erhielt wenige Jahre später mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG 1958) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA 1960) entscheidende Anstöße für einen fortlaufenden Erweiterungs- und Vertiefungsprozess, der heute noch im Gange ist. In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es mit dem erweiterten Binnenmarkt der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Währungsunion (EWU) neue Höhepunkte.
Schlagwort »Europa«
Die Titel all der Institutionen, die den fortschreitenden Integrationsprozess begleiten und charakterisieren, werden von einem großen E eingeleitet, das für Europa steht, unabhängig vom jeweiligen Inhalt und Geltungsbereich der verschiedenen Organisationen. »Europa« ist zum vereinfachenden und flächendeckenden Schlagwort für die verschiedensten Aspekte eines langfristigen und komplexen Strukturwandels im europäischen Raum geworden. Parteien werden schlagwortartig als »europafreundlich« oder »europaskeptisch« eingestuft, Personen werden befragt, ob sie sich als »Europäer« fühlen oder nicht, kurz »Europa« ist zu einem emotionsgeladenen Schlagwort geworden, das Einstellungen charakterisieren und Motivierungen hervorrufen soll.
Das wäre an und für sich kein Malheur, wenn der Begriff »Europa« in der politischen Diskussion ein einigermaßen klar umrissenes Konzept wäre. So wie es trotz aller Vagheit des Begriffs »Demokratie« einen ziemlich klaren Sinn ergibt, wenn wir Personen oder Institutionen als generell »prodemokratisch« oder »antidemokratisch« bezeichnen, könnte man dann ebenso schlüssig über Personen und Institutionen urteilen, ob sie generell als »proeuropäisch« oder »antieuropäisch« zu gelten haben, und nicht nur in Bezug auf einzelne Aspekte der aktuellen Europapolitik. Eine solche konzeptuelle Klarheit fehlt aber dem Europabegriff, was Unklarheiten, Missverständnisse und Missbrauch nach sich ziehen kann.
»Europäische friedensstiftende Einigkeit bis hin zur europäischen Einheit kann auf verschiedenen Wegen erfolgen«
Was ist Europa und wer ist Europäer?
In Zusammenhang mit der weltweiten Globalisierung und ihren politischen und wirtschaftlichen Begleiterscheinungen ist »Europa« ein vielschichtiger Begriff geworden, der je nach Kontext verschiedene Definitionen und Assoziationen mit sich bringt. So ist Europa zunächst einmal immer noch ein geographischer Begriff und als solcher (so lange der Ural und der Atlantik schön auf ihrem Platz bleiben) die einzige Form, in der Europa eindeutig definiert und frei von irgendwelchen emotionalen, ideologischen oder kontextbezogenen Untertönen ist. In diesem Zusammenhang ist die Aussage, dass man Europäer ist, eine reine Tatsachenfeststellung mit demselben Stellenwert wie die Aussage, dass man in Österreich lebe und Österreicher sei. Weder erfordert sie ein »Bekenntnis« zu Europa noch beinhaltet sie eine bestimmte »message«.
Die Perspektive ändert sich sofort, wenn »Europa« in Zusammenhang mit dem europäischen Projekt im politischen, ökonomischen und kulturellen Bereich auftaucht. Nun verwischen sich die Konturen, die Grenzen werden fließend und die Frage, ob, in welcher Form und in welchem Umfang »Europa« entstehen soll, wird Gegenstand der Diskussion. In ihr treten die geographischen Gesichtspunkte in den Hintergrund (»Gehört die Türkei zu Europa?«) und politische, ökonomische und kulturelle Faktoren treten in den Vordergrund. Die Frage, ob man »für« oder »gegen« dieses oder jenes Europa ist, ob man ein »guter« oder »schlechter« Europäer ist, erhält nun einen bestimmten Sinn und wird zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.
Politische Aspekte und ökonomische Rahmenbedingungen
Im Vordergrund dieser Debatte, die ja ihren Ursprung schon weit in der Vergangenheit hat (etwa mit Friedrich Naumanns Mitteleuropaplan von 1915 oder Richard Coudenhove-Calergis Paneuropabewegung in der Zwischenkriegszeit), stehen heute selbstverständlich die diversen Debatten und Einstellungen zu den konkreten »Europas«, wie sie sich jeweils im europäischen Integrationsprozess ergeben und wie sie im weiteren Verlauf dieses Prozesses gestaltet werden sollen. Was nun diese Debatte betrifft, das Für und Wider zu »Europa«, so ist es wichtig, einen grundlegenden Unterschied zwischen den politischen Aspekten einerseits und den ökonomischen Rahmenbedingungen andererseits zu machen. Dieser Unterschied hat – was häufig übersehen wird – bedeutsame Wirkungen auf die Einschätzung der Frage nach »guten« oder »schlechten« Europäern.
Friedensprojekt Europa
Was die politische Seite des Europaprojekts betrifft, so steht sicherlich vor allem der Friedensaspekt im Vordergrund. Die zwei Weltkriege des Zwanzigsten Jahrhunderts, die in Europa ihren Ursprung hatten und bei denen Europa den zentralen Kriegsschauplatz bildete, schufen einen eindringlichen Imperativ, speziell in dieser Region einen politischen Rahmen zu schaffen, der eine Wiederholung dieser Katastrophen verhindern sollte. Diese Idee konnte über alle nationalen und ökonomischen Konflikte und Differenzen hinweg in breitester Form akzeptiert werden. War und ist es doch für die überwiegende Mehrheit der Menschen einsichtig, dass angesichts seiner zerstörenden Wirkungen der Schaden eines modernen Krieges für die gesamte Bevölkerung unverhältnismäßig größer wäre als irgendwelche Probleme, die mit einer integrativen Friedenspolitik verbunden sein könnten.
Der Natur der Sache nach war daher die Idee eines politisch geeinten Europa ein eindeutiges, generell akzeptables Ziel. Das heißt natürlich nicht, dass es deshalb ein leicht zu verwirklichendes Ziel ist. Wenn es um seine Realisierung geht, gilt in hohem Maß der bekannte Ausspruch, dass der Teufel im Detail steckt. Europäische friedensstiftende Einigkeit bis hin zur europäischen Einheit ist kein eindeutig umrissenes Konzept, sondern kann auf verschiedenen Wegen (Staatenbund, Bundesstaat, Einkammer-, Mehrkammersystem usw.) erfolgen, welche die im Detail keineswegs immer übereinstimmenden Interessen und Entscheidungsstrukturen der verschiedenen Länder, Regionen und Lobbys in unterschiedlicher Weise berühren. Gegenwärtig stehen wir noch mitten in diesem schwierigen Prozess, einen geeigneten kompromissfähigen Pfad durch diese Schwierigkeiten zu finden. Aber das ändert nichts daran, dass das Endergebnis eines vereinten und möglichst umfassenden Europa als mehr oder weniger eindeutiges Ziel von den meisten Menschen akzeptiert werden kann, die für Frieden und Demokratie eintreten. So weit die EU und ihre Entwicklung vor allem aus politischer Perspektive gesehen wird, ist daher die Frage, ob jemand ein »guter Europäer« sei, durchaus sinnvoll und aussagekräftig. Welche Formen auch immer der Einigungsprozess letzten Endes ergeben wird, die Richtung des Prozesses kann aus friedenspolitischer Sicht bejaht werden, unabhängig von individuellen Differenzen über die detaillierte Gestaltung.
Wohlstand und Verteilungsprobleme
Bei den wirtschaftlichen Aspekten der europäischen Integration liegen die Dinge grundsätzlich anders. Hier fehlt ein alle Details übergreifendes Ziel, wie es »Frieden« im politischen Bereich darstellt. Zwar kann man europäischen »Wohlstand« oder europäische »Wohlfahrt« als ein generell angestrebtes Ziel erachten, aber dieses Ziel unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht vom Friedensziel. Beim »Frieden« und auch bei jedem Schritt zu friedlicheren Konstellationen ist es ja so, dass diese Entwicklung – sieht man von einigen Rüstungsinteressen und potentiellen Kriegsgewinnern ab – allen Bürgern ungeteilt zugute kommt. »Wohlstand«, wie immer gemessen (Wirtschaftswachstum, Konsum- und Sozialstandards etc.), wirft fast immer Verteilungsprobleme auf. Auf jeder Stufe gibt es immer wieder Gewinner und Verlierer, wobei die Verteilung je nach gewähltem Weg verschieden ist. Und das zieht einen weiteren Unterschied zwischen »Frieden« und »Wohlfahrt« nach sich: Form und Richtung des gewählten Weges sind konfliktträchtig. Ökonomisch gesehen genügt es nicht, »für Europa« zu sein. Die Frage, was für ein Europa, erlangt entscheidende Bedeutung. So wie in jedem einzelnen Land politische Auseinandersetzungen über den einzuschlagenden wirtschaftspolitischen Kurs und die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen einen ständigen Bestandteil des demokratischen Prozesses bilden, ohne dass deshalb die eine oder andere Seite als »gute« oder »schlechte« Österreicher (Deutsche, Franzosen etc.) deklariert wird, müsste es auch im konkreten Entwicklungsprozess der europäischen Integration zulässig und demokratiepolitisch wünschenswert sein, Kritik und Reformvorschläge zuzulassen, ohne – wie das gegenwärtig häufig geschieht – solche Äußerungen als »antieuropäisch« zu disqualifizieren.
Heilslehre statt Vernunft
Die verbreitete Gleichsetzung der gegenwärtigen ökonomischen Verfassung der EU mit Europa schlechthin und die damit verbundene Heiligsprechung und Abschottung eines fest umschriebenen wirtschaftspolitischen Konzepts – schlagwortartig gekennzeichnet durch Deregulierung, Privatisierung, radikale Zentralbankautonomie, schlanker Staat – birgt sowohl demokratiepolitische wie ökonomische Gefahren in sich. Sie sind speziell relevant und akut in der Zeit des Übergangs zur endgültigen Konstituierung eines europäischen Staates oder Staatenbundes mit umfassenden demokratischen Institutionen und umfassenden – den heutigen Bedingungen demokratischer Staaten entsprechenden – Entscheidungsprozessen.
In dieser Übergangsperiode, die noch beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen dürfte, besteht das politische Problem vor allem in der Kluft zwischen national dominierten Wahlen und Entscheidungsprozessen einerseits und von der EU zentral vorgegebenen Rahmenbedingungen andererseits. Diese Rahmenbedingungen, die weit über das hinausgehen, was für einen Weg zur politischen Einheit nötig ist, setzen gegenwärtig enge Grenzen für die politische Handlungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedsländer, die aber nicht in einer für die Bürger klar erkennbaren Weise entsprechend aus der Verantwortung für nun nicht mehr erreichbare Ziele entlassen werden.
Beschäftigungspolitik ohne Instrumente
Ein exemplarischer Fall ist die Beschäftigungspolitik, für welche die nationalen Regierungen nach wie vor als zuständig erklärt und erachtet werden. Gleichzeitig sind ihnen aber die traditionellen Instrumente für eine entsprechende Strategie – Geld-, Fiskal- und Industriepolitik – durch die Vorgaben der Europäischen Zentralbank, die strikten Bedingungen des Stabilitätspakts sowie durch zahlreiche Detailbestimmungen weitgehend aus der Hand genommen. Unabhängig von der Frage der Qualität und Zweckmäßigkeit der EU-Bestimmungen bedeutet ihre undifferenzierte Verbindlichkeit für sehr heterogene Staaten mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Wählerwünschen ein unvermeidliches Auseinanderklaffen – zumindest in einigen Mitgliedsländern – zwischen demokratischen Ansprüchen an die Regierung und deren erzwungener Unfähigkeit, darauf mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren. Dieser Widerspruch führt dann zu einer Desavouierung des demokratischen Prozesses und/oder zu einer prinzipiellen Opposition gegen die europäische Integrationsidee. Populistische und antidemokratische Strömungen finden unter diesen Bedingungen ein reiches Betätigungsfeld.
Ausweg: Subsidiarität
Ohne auf Details einzugehen, kann man sagen, dass ein generelles Gebot gegen diese Gefahr darin bestehen sollte, dass die EU ihren Grundsatz der Subsidiarität weit ernster nehmen und extensiver auslegen sollte als das bisher der Fall war, sodass – in dieser Übergangszeit – den verantwortlichen Regierungen mehr Spielraum für geeignete Reaktionen auf spezifische nationale Bedingungen und Wählerpräferenzen verbleibt. Eine solche Umstellung empfiehlt sich nicht nur aus demokratiepolitischen Erwägungen. Sie würde sich auch ökonomisch als produktiv erweisen.
Es kann wohl kein Zweifel bestehen, dass heutzutage mehr als in »normalen Zeiten« neue Technologien, eine beschleunigte Globalisierung und neue Organisationsformen in der Finanz- und Realwirtschaft der wirtschaftlichen Entwicklung eine Dynamik verliehen haben, welche die Beschreitung neuer Wege in eine ungewisse Zukunft erfordert. Die Flexibilität und Kreativität, die man heute angesichts des ra-schen Wandels mit Recht von Managern und Arbeitskräften verlangt, muss auch von der Wirtschaftspolitik gefordert werden.
Dazu kommt weiters, dass in einem national noch aufgesplitterten Europa die wirtschaftspolitisch geforderten Zielsetzungen von Land zu Land verschieden gewichtet sind. Auch dies spricht für eine für Reformen offene Wirtschaftspolitik der EU und für einen möglichst großen Spielraum für nationale Differenzierung.
Damit würde nicht nur der besseren Übereinstimmung zwischen Wählerwillen und Regierung gedient sein, es würde auch ein Experimentierfeld für die Suche nach geeigneten Wegen in eine unbekannte Zukunft geboten werden. Das könnte einen Schutz gegen sich selbst verstärkende Wirkungen gemeinsam begangener Fehler bedeuten.
Jedenfalls zeigten die Erfahrungen der langen Konjunkturperiode der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, dass national verschiedene Präferenzen und Gewichtungen von Wirtschaftszielen wie Preisstabilität und Beschäftigung sowie Differenzierung der wirtschaftspolitischen Methoden eine nicht unbedeutende Rolle bei der Vermeidung geschlossener Märsche in falsche Richtungen spielen können.
Natürlich kann es aber auch unerwünschte Bremseffekte bei positiven Entwicklungen geben.
RESÜMEE
Kritischer Europäer gefragt
Aus dieser Sicht erscheint die starre zentralistische und dogmatische Festschreibung zahlreicher wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, die nicht hinterfragt werden sollen und dürfen, als ein ausgesprochener Webfehler der gegenwärtigen EU-Verfassung. Den neoliberalen Gedankengängen und dem »Washington Consensus« angepasste Rahmenbedingungen, die weitgehend den Bedürfnissen der sich ausweitenden transnationalen Finanz- und Produktionsinteressen entgegenkommen, können nicht das letzte und für alle Zeiten sakrosankte Wort sein. Sich ändernde Verhältnisse und alternative Bewertungen ökonomischer, sozialer, ökologischer und kultureller Faktoren verlangen mehr Offenheit, mehr Reform- und Experimentierbereitschaft, um zu einem noch nicht klar umrissenen, generell akzeptierbaren und generell akzeptierten Gesamteuropa zu gelangen. Die wachsenden kritischen Bedenken gegen verschiedene Starrheiten des EU-Konzepts und der EU-Praxis, die sich gegenwärtig in mehreren Ländern bemerkbar machen, lassen eine Tendenz in diese Richtung erkennen. Es könnte sehr wohl der Fall sein, dass sich »kritische Europäer« als notwendig erweisen und dass diese letzten Endes die »guten Europäer« sind.
Von Kurt Rothschild (Professor emeritus der Wirtschaftswissenschaften an der Linzer Universität)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .
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