Ein „übernationales“ Staatengebilde im europäischen Raum mit großen regionalen Unterschieden und multiethnischer Struktur? Demgegenüber gewerkschaftliche Herausforderungen, die mit Fragen der Produktionsverlagerung oder der Arbeitsmigration verknüpft sind; also dem Kampf gegen Lohndruck, Rassismus und Nationalismus? Gleichzeitig wenig entwickelte „internationale“ gewerkschaftliche Strukturen? Willkommen in der Gewerkschaftswelt der Habsburgermonarchie, deren Probleme erstaunlich aktuell klingen.
1. Gewerkschaftskongress 1893
Am 1. Gewerkschaftskongress 1893 vertraten die anwesenden Delegierten lediglich 30.000 Gewerkschaftsmitglieder. 20.000 davon waren in der Hauptstadt Wien organisiert und sprachen – ebenso wie die ersten Gewerkschaftsfunktionäre – praktisch ausschließlich Deutsch. Angesichts dieser Ausgangslage wirkt der Beschluss, eine zentrale Gewerkschaftsorganisation von Bregenz bis Lemberg bzw. von Nordböhmen bis Dalmatien bilden zu wollen, mehr als offensiv. Nicht weniger ambitioniert erscheint aber auch z. B. der Konferenzbeschluss, das Presseorgan der Reichsgewerkschaftskommission („Die Gewerkschaft“), in „deutscher, tschechischer und nach Bedarf anderen Sprachen erscheinen“ zu lassen. Auch die Frage multiethnischer Arbeitsmigration bewegte die ersten GewerkschaftspionierInnen. So meinte z. B. ein Delegierter aus der Pottendorfer Gegend: „Wir sind nahe der Grenze Ungarns. Unsere Arbeitgeber lassen sich einfach Kroaten kommen, die ihnen billiger arbeiten. (…) Werden sie aber nicht organisiert, so sind sie unsere Gegner. Sie müssen zur Organisation herangezogen werden.“ Politisch wendeten sich diese GewerkschafterInnen in der Folge massiv gegen die existierende Beschränkung der Freizügigkeit von ArbeitnehmerInnen im wirtschaftlichen Großraum des Habsburgerstaates. Vor allem das „Heimatrecht“, das willkürliche Abschiebungen in die Heimatgemeinde ermöglichte, wurde als Mittel zu Lohndruck und politischer Repression bekämpft.
Die Ideen und Konzepte damals können ohne internationale Impulse nicht verstanden werden. Anfang der 1890er-Jahre rollte eine Welle heftiger sozialer Auseinandersetzungen über Europa. Junge gewerkschaftliche AktivistInnen beantworteten die zentrale Frage „Wie können Arbeitskämpfe gewonnen werden?“ mit der Öffnung gegenüber neuen Schichten und dem Zusammenschluss bestehender Strukturen. Julius Deutsch resümierte 1906 diesen ab 1892/93 auch in Österreich einsetzenden Prozess, als „erstens das Bestreben, möglichst alle arbeitenden Personen, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts oder der gewerblichen Befähigung in die Organisation mit einzubeziehen, und zweitens das Streben nach Zentralisation“. Ideologisch motiviert wurden gewerkschaftliche AktivistInnen hierbei vor allem in Zentraleuropa von den Ideen des (internationalen) Sozialismus. Gerade auch nationale Spaltungen sollten durch gemeinsame Organisierung und soziale Bewegungen überwunden werden. Auf europäischer Ebene blieben die Ansätze eines internationalen Zusammenschlusses von ArbeitnehmerInnen und ihrer Organisationen zwar real in den Kinderschuhen stecken. Demgegenüber entwickelte sich aber unter den multinationalen Rahmenbedingungen der Monarchie eine besondere „innere“ internationale Gewerkschaftspraxis im Habsburgerstaat.
In den ersten Jahren nach ihrer Gründung intervenierte diese neue Gewerkschaft – bzw. ihre TrägerInnen – massiv in den mehrheitlich nichtdeutschsprachigen Bereichen des Riesenreiches. Hauptzielgebiete stellten zunächst Böhmen und Mähren bzw. auch die tschechische Arbeitsmigration in Wien dar. Gut organisierte und vergleichsweise besser verdienende Gewerkschaftsmitglieder aus Wien brachten große finanzielle Solidaritätsleistungen auf. Damit wurden die immer wieder ausbrechenden Streikbewegungen „in der Provinz“ bzw. in Niedriglohnsektoren unterstützt. Textilarbeiterinnen aus Brünn, tschechische ZiegelarbeiterInnen aus Favoriten oder Bergarbeiter aus Böhmen wurden so langfristig für moderne gewerkschaftliche Organisationsformen gewonnen, ein auch auf internationaler Ebene beachteter Vorgang. In wenigen Jahren bildete sich so eine ganze Schicht tschechischer, polnischer, slowenischer und italienischer AktivistInnen und Funktionäre, welche den Gewerkschaftsaufbau reichsweit und regional vorantrieben.
Innere internationale Verbreiterung
Im Kontext mit der „inneren internationalen“ Verbreiterung der Bewegung, begannen nichtdeutschsprachige – zunächst v. a. tschechische – AktivistInnen auch neue strukturelle Fragen aufzuwerfen. Wie sollte die Schlagkräftigkeit einer zentralistischen Organisation mit einem demokratischen Aufbau, der z. B. auch die Rechte (nationaler) Minderheiten berücksichtigt, vereint werden? Der Wiener Apparat verschloss sich den entsprechenden Reformen und provozierte so die Bildung einer eigenen tschechischen Gewerkschaftszentrale in Prag. Dies bedeutete aber trotzdem noch keine nationale oder regionale Spaltung der Bewegung, weil Bezugspunkte zwischen „Wien“ und „Prag“ v. a. in den großen Arbeitskämpfen um die Jahrhundertwende viel zu stark waren. Zudem erhielten die regionalen und beruflichen Gewerkschaftsstrukturen relativ viel Selbstständigkeit und damit auch Raum, nationale Spannungen zu verringern.
1907 umfassten die sozialistischen Gewerkschaften bereits über 500.000 Mitglieder und wiesen einen Organisationsgrad von 22,5 Prozent auf. Sie waren in allen Kronländern der westlichen Reichshälfte vertreten. Der damit verknüpfte Aufstieg der Reichsgewerkschaftskommission zu einer der wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen der Welt basierte gleichzeitig auf massivem inneren „internationalen“ Wachstum. Fast 40 Prozent der Gewerkschaftspresse erschienen inzwischen in tschechischer, polnischer, italienischer oder slowenischer Sprache. Das Kronland Böhmen wies nun sogar mehr Gewerkschaftsmitglieder auf als Wien und Niederösterreich zusammen. Weniger erfolgreich waren die Gewerkschaften demgegenüber in damals neuen Arbeitsfeldern bzw. Strategieansätzen, die stärker auf Integration in den Staat setzten. Reichsweit gültige Tarifverträge konnten im Rahmen der rückständigen Monarchie nicht umgesetzt werden. Vor allem aber die noch neuartige Vorstellung, durch Mitarbeit in staatlichen Gremien positive Reformen umsetzen zu können, scheiterte. Wiener und Prager Funktionäre begannen bald selbst um die Verteilung von Ämtern, Positionen und schließlich auch um gewerkschaftliche Ressourcen „national“ zu ringen – mit entsprechend negativen Impulsen für die Gesamtbewegung. Trotzdem blieb die „innere internationale“ Einheit der Gewerkschaften in den meisten Regionen und Betrieben bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs erhalten.
Basis miteinbeziehen
Die „internationale Gewerkschaftspraxis“ im Habsburgerstaat war weder problemlos noch reibungsfrei. Trotzdem erscheint aus heutiger Perspektive das ehrliche und intensive Ringen um die Gestaltung starker „internationaler“ Gewerkschaftsstrukturen in der multinationalen Monarchie bemerkenswert. Ebenso muss die Tatsache hervorgehoben werden, dass bewusst Geld und Ressourcen in den gewerkschaftlichen Aufbau im gesamten zentraleuropäischen Großraum bzw. im Bereich der Arbeitsmigration investiert wurden. Und es ist eine Tatsache, dass die internationale Gewerkschaftsarbeit in den zwei Jahrzehnten vor 1914 stets dann besonders gut funktionierte, wenn sie in der Lage war, die Basis miteinzubeziehen, sich also nicht auf Gremienarbeit beschränkte, sondern soziale Bewegungen forcierte.
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INFO&NEWS
Der Habsburgerstaat und Gewerkschaft:
Zwei – seit 1867 – praktisch autonome Reichshälften „Österreich“ und „Ungarn“
850.000 Gewerkschaftsmitglieder waren zu 75 Prozent in den sozialistischen Gewerkschaften organisiert
Knapp drei Mio. Menschen waren in Industrie und Gewerbe in der westlichen Reichshälfte beschäftigt; mehr als die Hälfte mit nichtdeutscher Umgangssprache
An ihrem Höhepunkt organisierte die Reichsgewerkschaftskommission fast 500.000 Mitglieder, 40 Prozent mit nichtdeutscher Sprache
Die Reichsgewerkschaftskommission war und blieb damit – mit Ausnahme des zentralböhmischen Raumes – die führende einzige wirklich multinationale Gewerkschaftsorganisation im Habsburgerstaat
Allein in Wien erschienen vor 1914 insgesamt 18 nichtdeutsche Gewerkschaftsfachblätter
Von John Evers (Historiker und Erwachsenenbildner)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 04/2011.
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