Interessen vertreten – Verantwortung tragen

Obwohl in Österreich wesentliche Grundlagen des Staates auf dem System der Selbstverwaltung beruhen (sei es die Verwaltung der Gemeinden, die Selbstverwaltung der Berufsgruppen in Kammern oder die soziale Selbstverwaltung), ist diese Tatsache in der Bevölkerung wenig bekannt. Eine vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger 1997 in Auftrag gegebene repräsentative Studie belegte, dass rund 72 Prozent der Befragten mit dem Begriff der Selbstverwaltung nichts anzufangen wussten.1) Dieser Wert hat sich inzwischen möglicherweise verändert, insbesondere wenn man bedenkt, dass gerade die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung in den letzten drei Jahren allzu oft zum parteipolitischen Zankapfel geworden ist.

Es ist aber dennoch anzunehmen, dass es nach wie vor an konkretem Wissen um die Aufgaben und die Funktion der Selbstverwaltung mangelt. Und mit Sicherheit haben die vergangenen Auseinandersetzungen, die über die Medien breitest ausgetragen wurden und auf viel Resonanz in der Öffentlichkeit getroffen sind, keine Imageverbesserung für die Selbstverwaltung bewirken können.

Ich denke hier etwa an die Vorgänge rund um die Bestellung des stellvertretenden Generaldirektors der neuen Pensionsversicherungsanstalt im vorigen Jahr.2)

Zielscheibe Sozialversicherung

Die Selbstverwaltung als ein System, das für viele Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend erlebbar und nachvollziehbar ist, stellt eine leichte Zielscheibe für politische Angriffe dar. Privilegienrittertum sowie scheinbar undurchschaubare Macht- und Einflussverflechtungen werden öffentlichkeitswirksam aufgezeigt. Und jene, die sich dabei in der Rolle großer »Aufdecker« und »Ausmister« gefallen, verfolgen mit Sicherheit nicht das Ziel, die Selbstverwaltung effizienter und moderner weiterzuentwickeln. Im Gegenteil – gerade am Beispiel der Sozialversicherung zeigt sich, dass die Angriffe auf die Selbstverwaltung letztlich einem direkten Zugriff des Staates auf die Sozialversicherung dienen sollen und in der Konsequenz generell die bestehenden sozialen Sicherungssystem in Frage gestellt werden. Die so genannte »Reform« des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, mit der sich die schwarzblauen Regierungsverantwortlichen handfeste Einflussnahme gesichert haben, kann als ein Beispiel für dieses Vorhaben herangezogen werden.

Um diese Entwicklungen besser aufzeigen zu können, ist es, wie ich meine, erforderlich, das Wesen der Selbstverwaltung in der Öffentlichkeit bekannter und greifbarer zu machen. Zweifelsohne ist dafür vor allem das Engagement der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer gefragt, und hier muss durchaus selbstkritisch angefügt werden, dass entsprechende Bemühungen bislang zu wenig konsequent erfolgt sind.

Die Versicherten selbst verwalten die Sozialversicherung

Die österreichische Sozialversicherung wird von ihren Versicherten selbst verwaltet: Die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber entsenden Vertreter zur Führung der Geschäfte der Sozialversicherung. Ich bezeichne die Selbstverwaltung als das Herz und den lebendigen Kern der gesetzlichen Sozialversicherung. Sie ist als solche für die Gesetzesumsetzung sowie für die Interessenvertretung der Versicherten zuständig, so etwa im Rahmen von Gesetzesbegutachtungsverfahren.

Als ich 1997 die Funktion des Hauptverbandspräsidenten angetreten hatte, betonte ich, dass die gesetzliche Sozialversicherung ihre Vorstellungen nur gemeinsam mit dem Bundesgesetzgeber verwirklichen könne, nie gegen ihn. Es könne also seitens der Selbstverwaltung keine willenlose und kritikfreie Unterordnung geben, sondern es müsse vielmehr der Anspruch gelebt werden, auch künftig in den Dialog um die Gesetzeswerdung und die Begutachtung von Gesetzen eingebunden zu sein. Es müsse die Freiheit gewahrt werden, konstruktive Kritik üben zu können, wenn es um die Vertretung von Versicherteninteressen geht. Mit diesen Grundsätzen habe ich meiner Aufgabe ein Selbstverständnis zugrunde gelegt, das sich ausschließlich den Interessen der Versicherten verpflichtet sieht und das Unabhängigkeit gegenüber der Bundesregierung wahrt – ganz gleich, wie sich diese parteipolitisch zusammensetzen mag.

FAKTEN

Selbstverwaltung weiterentwickeln

Zurzeit äußern sich die Angriffe auf die gesetzliche Sozialversicherung nicht selten in Form von Untergriffen gegen die Vertreter der Selbstverwaltung.

Mit dem wachsenden parteipolitischen Zugriff auf die Sozialversicherung versucht man, die Bedeutung der Selbstverwaltung sukzessive zu untergraben. Es liegt in dieser Situation bei der Selbstverwaltung selbst, entsprechende Gegenakzente zu setzen und damit sicherzustellen, dass unser über lange Zeit bewährtes Modell der sozialen Sicherheit auch künftig erhalten bleibt.

Es gilt daher, die Bekanntheit der Selbstverwaltung in der Öffentlichkeit zu verbreitern und ihre Aufgaben, ihre Funktion und ihre Bedeutung nachvollziehbarer zu machen. Gleichermaßen braucht es eine gemeinsame Strategie von Dienstnehmern und Dienstgebern, auf deren Grundlage sich die Selbstverwaltung für kommende Anforderungen und Herausforderungen fit macht und sich als moderne, effiziente und solidarisch getragene Geschäftsführung behaupten kann.

Selbstverwaltung sichert parteipolitische Unabhängigkeit

Mit einem solchen Prinzip der Versichertenorientiertheit ist das System der Selbstverwaltung, wie ich meine, untrennbar verbunden. Der Aufbau der Selbstverwaltung ist kein Abbild der Parteipolitik, sondern zielt vielmehr darauf ab, Dienstnehmer und Dienstgeber als die maßgeblichen wirtschaftlichen Kräfte der Arbeitswelt in die Geschäftsführung der Sozialversicherung einzubinden. Diese Einbindung und dieses gemeinsame Tragen von Verantwortung sichern einen sozialen Ausgleich von Interessen und gewährleisten, dass Entscheidungen und Strukturen von beiden Gruppen gleichermaßen mitgetragen werden. Dadurch wird einerseits verhindert, dass eine der beiden Gruppen das Sozialsystem für egoistische Zwecke ausnützen kann, und dass andrerseits eine andere Gruppe vielleicht zu wenig Nutzen und Leistungen bezieht und sich somit aus dem System zurückziehen will.

Im Sinne dieses Anspruches funktioniert dieses System auch nur dann, wenn die Geschäftsführung der Sozialversicherung im Wege der Selbstverwaltung aus Dienstnehmern und Dienstgebern gebildet wird. Reduziert man die Aufgaben dieser beiden Gruppen auf bloße Aufsichtsratsrollen – wie dies etwa durch die ÖVP-FPÖ-Regierung bei der Umgestaltung des Hauptverbandes geschehen ist -, ist eine sozial ausgewogene Interessenvertretung nicht mehr zufrieden stellend zu erfüllen.

Nah am Versicherten, nah an der Praxis

Der Ausgleich von Interessen und das Erfordernis, Kompromisse zu schließen, sind somit Charakteristika der Selbstverwaltung und die Grundvoraussetzungen für das solidarische Funktionieren der Sozialversicherung und für eine zeitgemäße Weiterentwicklung ihrer Strukturen und Leistungen. Die Selbstverwaltung durch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter bedeutet aber auch Nähe zu den Versicherten, Wissen über die betriebliche Praxis und somit individuelle und faire Entscheidungen. Denn die Funktionen der Selbstverwaltung werden ehrenamtlich wahrgenommen: Die für die Geschäftsführung der Sozialversicherung verantwortlichen Versichertenvertreter haben ihren Hauptberuf als Betriebsräte oder Gewerkschaftsfunktionäre, als Funktionäre der Wirtschaftskammer oder als Unternehmer. Ihre tagtäglichen Erfahrungen in ihren beruflichen Umfeldern prägen ihre Entscheidungen und ihre Positionen in der Sozialversicherung, etwa im Vorstand oder in der Generalversammlung oder wenn es um die Zuerkennung einer Invaliditätspension oder eines Heilverfahrens geht.

Der einzelne Versicherte kann somit die Gewissheit haben, dass Entscheidungen, die für ihn persönlich weit reichende Bedeutung haben können, nicht nur auf medizinischen Gutachten fußen, sondern auch von eigenen Interessenvertretern überprüft und mitgetragen werden. Der Versicherte steht somit auch nicht einer anonymen Behörde gegenüber, die starr nach den Anweisungen des Gesetzgebers zu handeln hat. Vielmehr hat er die Möglichkeit, seinen Nöten und Problemen über seine jeweiligen Vertreter Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Misswirtschaft und Privilegientum sind wohl die populärsten Vorhaltungen, mit denen sich die Selbstverwaltung konfrontiert sieht. Es sind dies auch nicht selten die einzigen Assoziationen, die auch von jenen angeführt werden, die ansonsten zugestehen, nichts Konkretes mit dem Begriff Selbstverwaltung verbinden zu können.
Verflochten solidarisch: Die im Hauptverband zusammengefassten Versicherungssysteme

Kostengünstige Verwaltung

Dass diese Vorurteile weit von den realen Gegebenheiten entfernt sind, beweisen die trockenen Zahlen und Fakten: Die Kosten für die Selbstverwaltung in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung betragen insgesamt nur 0,02 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben. Damit entfällt auf einen Beitragszahler ein Anteil von unter einem Euro jährlich für die Selbstverwaltung.

Bedenkt man, dass die gesetzliche Sozialversicherung mit rund 28.000 Beschäftigten und einem jährlichen Gesamtausgabenvolumen von rund 33,5 Milliarden Euro (im Vergleich: Die Ausgaben des Bundes betragen rund 56,8 Milliarden Euro) einen der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren unseres Landes darstellt, ist dieser Anteil umso beachtlicher. Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es falsch ist, die Ausgaben der gesetzlichen Sozialversicherung nur als bloße Kosten und Belastungen der Beitragszahler zu bezeichnen. Diese Abgaben fließen vielmehr als Pensionen, als Krankengelder, als Honorare und so fort in die Volkswirtschaft zurück und spielen somit als Stabilisatoren der heimischen Wirtschaft eine wesentliche Rolle. Die Sozialversicherung trägt somit gleichzeitig Wesentliches zur Sicherung des sozialen Friedens sowie zur Aufrechterhaltung der Konjunktur bei. Beides Faktoren, die das Argument der vermeintlichen Standortminderung durch die Beiträge zur Sozialversicherung deutlich relativieren.

Trotz dieser Eckdaten herrscht in der Öffentlichkeit immer mehr das Vorurteil, die Sozialversicherung in der bestehenden Form sei ein Kostenmoloch, der nicht mehr lang leistbar sein wird. Rezepte werden in dieser Situation parat gehalten, mit welchen die Sozialversicherung zu ersetzen oder zumindest zu verbilligen sei. Zwar wurde jenen, die diese Rezepte propagieren, durch die letzten Börsencrashs etwas der Wind aus den Segeln genommen, und die Diskussion Pflichtversicherung versus Versicherungspflicht ist in letzter Zeit deutlich abgeebbt.

Der riesige Kuchen, den die Ausgaben der gesetzlichen Sozialversicherung aus der Sicht der privaten Wirtschaft darstellen, bleibt aber mehr denn je eine Verlockung, um die auch künftig gekämpft werden wird.

1) Siehe „Arbeit&Wirtschaft“ 4/2000, Seite 24: »Selbstverwaltung heißt Selbstverantwortung« von Tom Schmid
2) Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist Reinhard Gaugg

Von Hans Sallmutter, Vorsitzender der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) und Vizepräsident des ÖGB (FSG)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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