Herausforderung Demografie

Die Steigerung der Beschäftigung ist „die beste Strategie mit der sich Länder auf den demografischen Wandel vorbereiten können“. Diese sehr richtige Einschätzung aus dem Demografie-Report 2008 (EU-Kommission) hat bisher leider bei vielen PensionsexpertInnen und PolitikerInnen noch nicht das nötige Gehör gefunden.

Abhängigkeitsquoten-Rechner

Die AK Wien hat einen „Abhängigkeitsquoten-Rechner“ entwickelt, mit dem der ganz wesentliche Unterschied zwischen demografischen und ökonomischen „Abhängigkeitsquoten“ und der Einfluss der Arbeitsmarktentwicklung auf die letztlich entscheidenden ökonomischen Abhängigkeitsquoten aufgezeigt werden kann. Zentrale Botschaft: Hohe Beschäftigung auf Basis hochwertiger Arbeitsplätze und die effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der bestehenden Beschäftigungsbarrieren (Mängel bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Fehlen altersgerechter Arbeitsplätze etc.) sind die zentralen Stellschrauben im Umgang mit dem demografischen Wandel.
Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausschätzung von Statistik Austria wird die Gesamtbevölkerung in Österreich in den kommenden Jahrzehnten beträchtlich wachsen, von derzeit 8,39 Mio. auf 9,02 Mio. im Jahr 2030 und auf 9,45 Mio. im Jahr 2050.
Mehr Menschen werden allerdings nur in der Altersgruppe 65plus erwartet. Dort wird ein Anstieg von derzeit 1,48 Mio. auf 2,14 Mio. bis 2030 und auf 2,64 Mio. bis 2050 in Aussicht gestellt. Weitgehend konstante Zahlen zeigen die Vorausschätzungen bei den Kindern und Jugendlichen im Alter bis 14 und im Erwerbsalter 15 bis 64.
Die Gegenüberstellung der Zahl der Menschen im Alter ab 65 mit der Zahl der Menschen im Alter 15 bis 64 ergibt die sogenannte Altenquote bzw. demografische Abhängigkeitsquote. Diese Quote liegt derzeit bei 26 Prozent, bis 2050 wird ein Anstieg auf 48 Prozent erwartet. Oder anders ausgedrückt: Die Relation zwischen den Altersgruppen 15 bis 64 und 65plus wird sich nach den Vorausschätzungen der Demografen zwischen 2010 und 2050 von 4:1 auf 2:1 verschieben.
Auch innerhalb der Gruppe der Menschen im Erwerbsalter wird es eine erhebliche Änderung der Altersstruktur geben. Die sehr stark besetzten „Baby-Boom-Jahrgänge“ (Geburtsjahrgänge ab Mitte der 1950er-Jahre bis 1970) erreichen in den kommenden Jahren die Alterszone 55 bis 64. Die Zahl der Menschen in dieser Gruppe wird bereits bis 2020 um 280.000 höher liegen als heute. In näherer Zukunft ist das die bei weitem massivste demografische Verschiebung, die es zu bewältigen gilt.
Klar ist, dass derart gravierende Änderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung massive Auswirkungen in vielen Bereichen haben und entsprechende Anpassungen erfordern – in den Sozialsystemen, am Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft als Ganzes. Das Finden richtiger Antworten muss deshalb in der Prioritätenliste ganz oben gereiht werden.
Umso bedauerlicher ist es, dass in der Berichterstattung zum demografischen Wandel immer wieder falsche Behauptungen, Analysen, Schlussfolgerungen auftauchen. Bezeichnend ist dabei der oft sehr fahrlässige Umgang mit den Unterschieden zwischen demografischen und ökonomischen „Abhängigkeitsquoten“ und zwischen „Erwerbstätigen“ und „Menschen im Erwerbsalter“.

Tückischer Pensionsreport

Ein Beispiel unter vielen bietet ein Special Report über Pensionen, der Anfang April im weltweit renommierten britischen Wirtschaftsmagazin „The Economist“ unter dem reißerischen Titel „70 or bust! Why the retirement age must go up“ erschienen ist. Die zentrale Behauptung ist, dass die Pensionssysteme zusammenbrechen, wenn das Pensionsalter nicht auf 70 Jahre (!) angehoben wird. Begründet wird das mit der Behauptung, die Relation zwischen Erwerbstätigen und PensionistInnen würde sich in den kommenden Jahrzehnten in unhaltbarem Ausmaß verschlechtern. Dazu wird auf Grafiken verwiesen, die allerdings etwas ganz anderes abbilden! Die Grafiken beziehen sich einzig und allein auf die Relation zwischen verschiedenen Altersgruppen. Ohne den Unterschied auch nur anzudeuten, wird in beiden Fällen der Begriff Abhängigkeitsquote („support ratio“) verwendet. Der „Fehler“ bleibt nicht ohne Folgen: Als einziger Rettungsanker zur Eindämmung des Anstiegs der „Abhängigkeitsquote“ wird die Verschiebung der Altersgrenze zwischen Pensionsalter und Erwerbsalter dargestellt.

Ignorierte Potenziale

In einer im Juli 2011 verfassten Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Zukunft des europäischen Arbeitsmarkts und zur demografischen Entwicklung wurde das Problem derartiger Fehldarstellungen aufgegriffen und auf die sehr problematischen Konsequenzen hingewiesen: „Die irreführende Verwendung der demografischen Abhängigkeitsquote und die oftmalige Gleichsetzung der Zahl der Menschen im Erwerbsalter mit jener der Erwerbstätigen geht an der Realität vorbei und verstellt den Blick auf problemadäquate Lösungsansätze.“ Am schlimmsten ist, dass zentrale Stellschrauben zur Verbesserung der Relation zwischen LeistungsbezieherInnen und Erwerbstätigen von vornherein nicht ins Blickfeld geraten, wenn nur die zahlenmäßige Besetzung verschiedener Altersgruppen und die Grenzziehung zwischen diesen Gruppen im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.
Schlichtweg ignoriert werden damit die enormen Potenziale zur Dämpfung des Anstiegs der ökonomischen Abhängigkeitsquote durch Maßnahmen wie

  • Abbau der Arbeitslosigkeit,
  • bessere Arbeitsmarktintegration der Jugendlichen,
  • bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
  • bessere Invaliditätsprävention,
  • Überführung prekärer Arbeitsformen in „gute“ Arbeitsplätze,
  • Schaffung alternsgerechter Arbeitsplätze etc.

In der AK Wien wurde ein „Abhängigkeitsquoten-Rechner“ entwickelt, der die Unterschiede zwischen demografischen und ökonomischen Abhängigkeitsquoten und die zentrale Bedeutung des Arbeitsmarktes in diesem Zusammenhang anschaulich macht.
Die Gegenüberstellung der LeistungsbezieherInnen auf der einen und der Erwerbstätigen auf der anderen Seite ergibt für Österreich im Jahr 2008 eine ökonomische Abhängigkeitsquote von 61 Prozent. Das heißt, dass auf 1.000 Erwerbstätige 610 Personen entfallen, die entweder eine Pension oder eine Geldleistung aus dem Titel Arbeitslosigkeit beziehen. Ausgangsbasis dafür ist eine Beschäftigungsquote von 66 Prozent.
Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem der enorme Unterschied zwischen demografischer und ökonomischer „Abhängigkeit“ von Interesse (26 Prozent/61 Prozent).
Wie wird sich das in der Zukunft darstellen? Die demografischen Projektionen wurden oben geschildert. Viel wichtiger ist aber, wie sich die ökonomische Abhängigkeitsquote entwickeln wird. Der AK-Rechner zeigt, dass dabei – je nach Entwicklung des Arbeitsmarktes – eine erhebliche Bandbreite besteht. In einfachen Worten: Je höher die Zahl der Erwerbstätigen sein wird, desto weniger stark wird der Anstieg der ökonomischen Abhängigkeitsquote ausfallen. Das lässt sich durch Gegenüberstellung verschiedener Szenarien demonstrieren. Unter anderem zeigt sich dabei, dass bei Erreichung ambitionierter Beschäftigungsziele (z. B. 76 Prozent Beschäftigungsquote wie in den besten EU-Ländern) die ökonomische Abhängigkeitsquote in längerfristiger Perspektive viel weniger stark steigen würde als in den Szenarien-Rechnungen der Pensionskommission angenommen. Evident ist im Sinne der Generationengerechtigkeit, dass angesichts des massiv steigenden Anteils Älterer an der Gesamtbevölkerung künftig auch ein größerer Anteil des erwirtschafteten Wohlstands für Zwecke der Absicherung der älteren Bevölkerung Verwendung finden muss. Die zentrale Aufgabe besteht darin, diesen Kostenanstieg durch sozial vertretbare und ökonomisch sinnvolle Maßnahmen einzudämmen. Der Arbeitsmarkt bietet dazu ein erhebliches Potenzial.

Internet:
„Abhängigkeitsquoten im demografischen Wandel. Arbeitsmarkt hat zentrale Bedeutung“:
www.etui.org 
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Von Erik Türk (Mitarbeiter der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien), Josef Wöss (Leiter der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.

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