Globaler Wilder Westen

Heute leben mehr Sklaven als zur Zeit des transatlantischen Sklavenmarktes aus Afrika geraubt wurden«, schreibt der US-amerikanische Soziologe Kevin Bales. Nach seiner Schätzung lebten (1999) über 27 Mio. Menschen »gewaltsam versklavt und gegen ihren Willen zum Zweck der Ausbeutung gehalten«. Ein Merkmal bestünde darin, dass die Sklaven zur Wegwerfware würden, sobald der Sklavenhalter sie nicht mehr brauche. Diese genössen »alle Vorteile des Eigentums, ohne seine Verpflichtungen zu haben«. Immerhin kostete ein Sklave im US-amerikanischen Süden bis zu 100.000 US-Dollar. Im heutigen globalen Wilden Westen ist die Ware Mensch bedeutend billiger.

64 türkische Kurden

»Eine unvorstellbare fast 28-stündige Tortur ließen 64 Kurden freiwillig über sich ergehen«, berichtete die Kronenzeitung am 12. Oktober 2009 unter dem Titel »Geschleppte Kurden: Zukunft als Arbeitssklaven«. Im Vorabend-TV wurden der volle Urinbehälter und die Gemüsekisten im Lkw gezeigt, hinter denen die jungen Männer bei Tiefkühltemperatur nach Österreich importiert worden waren. Die »Illegalen« hätten alle um Asyl angesucht, meldete der Boulevard.
»Es gibt viel Gerede über sklavenartige Praxis und Zwangsarbeit«, meinte der ILO-Beauftragte gegen Zwangsarbeit Roger Plant, in einem Interview der ILO-online. Stichhaltiges Datenmaterial aber fehle. Oft steht die »illegale Einreise« im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Das aber entspricht nicht der Realität. Ein Großteil der undokumentierten MigrantInnen wird erst nach der legalen Einreise durch die bestehenden Regelungen im Zielland illegalisiert, wissen die Opferschutzorganisationen.

Kosten des Zwangs

Weltweit fristen rund 12,3 Mio. Menschen ein Leben als ZwangsarbeiterInnen, schätzt die Internationale Arbeitsorganisation, ILO. Laut dem im Mai 2009 veröffentlichten Bericht »Die Kosten des Zwanges« ist rund die Hälfte der Betroffenen unter 18 Jahren. »Zwangsarbeit verursacht unsägliches Leid. Und die Opfer werden auch noch bestohlen«, so ILO-Generalsekretär Juan Somavia. Jährlich würden ZwangsarbeiterInnen weltweit um rund 15 Mrd. Euro Lohn gebracht. Nicht nur die Finanzen und die Wirtschaft sind in der Krise: auch der Arbeitsmarkt. Ähnliche Faktoren, vor allem Gier, konstatiert die ILO, erlaubten es ArbeitgeberInnen und ZwischenakteurInnen, Profite auf Kosten der Armen zu schlagen.
Einbehalten des Reisepasses, Androhung oder Anwendung physischer Gewalt, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Einbehalten des Lohnes, Drohung einer Anzeige bei der Behörde, wenn der oder die Betroffene illegalen Einwanderungsstatus hat, und nicht zuletzt die Schuldknechtschaft sind laut ILO eindeutige Hinweise auf Zwangsarbeit.
Rund 20 Prozent aller Zwangsarbeit, so die ILO in ihrem »Global Report 2005« entsteht aus Menschenhandel, dem »Anwerben auf illegale, missbräuchliche Weise durch Mittel wie Zwang, Erpressung oder Täuschung mit dem Ziel der Ausbeutung. Menschenhandel schließt unterschiedliche Praktiken wie Zwangsarbeit, Prostitution und verschiedene Formen der sexuellen Ausbeutung ein.
Bis vor kurzem konzentrierte sich die Bewegung gegen den Menschenhandel in Europa und den USA auf den Handel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Erst in der letzten Zeit wird der Zwangsarbeit und Zwangsknechtschaft vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt. In Europa konzentriert sich die Zwangsarbeit auf den informellen Sektor, wie Pflege, Hausarbeit, Bau, Landwirtschaft und Vertragsreinigung. In den USA bieten »Sweatshops« und die Landwirtschaft eine Basis zur Ausbeutung.
Die Länder Asiens und des Pazifiks vereinen traditionelle und neue Formen der Zwangsarbeit. Laut ILO (2005) sind rund 9,5 Mio. in Asien im traditionellen landwirtschaftlichen Bereich eingesetzt. Immer öfter aber auch in Hausarbeit, im Bergbau, in Steinbrüchen und Teppichknüpfereien. Der größte Teil der Millionen von ZwangarbeiterInnen in Indien, Pakistan und Nepal gehört zu den »niedrigen« Kasten, der indigenen Bevölkerung oder ethnischen Minderheiten.

Gesetze

Seit 2000 gibt es mit dem UN-Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels ein internationales Rechtsinstrument. Fast alle EU-Länder haben unterzeichnet und ihre nationalen Gesetze angepasst. In Österreich bieten Artikel 104a, Strafgesetzbuch, »Ausbeuterischer Menschenhandel«, Artikel 217, »Grenzüberschreitender Handel in Prostitution« und Artikel 166 »Ausbeutung eines Fremden«, Fremdenpolizeigesetz, rechtliche Handhabe. Die Frauenberatungsstelle LEFÖ und die Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels, IBF, verweisen auf das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Paragraph 72 ermöglicht den befristeten Aufenthalt aus humanitären Gründen. Demnach kann Zeuginnen und Opfern von Menschenhandel eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis gewährt werden. Hierbei handelt es sich aber nur um eine Kann-Bestimmung, deren Anwendung den Behörden überlassen bleibt.

Zahlen

Der zweite »Globale Bericht über Menschenhandel« des UN-Büros gegen Drogen und Verbrechen (UNODC) liefert Daten aus 155 Ländern. Der Bericht vermehre zwar das partielle Wissen um die Kräfte, die an den modernen Sklavenmärkten beteiligt sind, kommentiert UNODC-Exekutivdirektor Antonio Maria Costa. Anders als bei der Drogenkontrolle, wo bereits umfassende Daten der gesamten Wertschöpfungskette vorliegen, gibt es beim Menschenhandel keine internationalen Standarddaten. »Das fragmentierte Wissen und isolierte Maßnahmen intensivieren das Verbrechen«, meint Costa. Die Präventivmaßnahmen müssten berücksichtigen, dass »ein asiatischer Vater seine Tochter unter anderen Umständen verkauft, als es die Kräfte sind, die ein afrikanisches Kind zum Militärdienst führen. Kinderbettelei in Europa ist anders als in Australien.«

Schicksale

Im August berichtete die Wochenzeitung »Falter« von der Menschenrechtsaktivistin Joana Adesuwa Reiterer. Die Nigerianerin hatte ihren damaligen Mann Tony in Benin kennengelernt. Erst in der kleinen Wohnung in Hernals merkte sie, dass Tony, der angebliche Leiter eines Reisebüros, mit nigerianischen Frauen handelte. Ein freundlicher Mann gab der weinenden Frau auf der Parkbank die Telefonnummer der Wiener Frauenhäuser.
Heute hilft die ehemalige Gattin eines Menschenhändlers mit ihrem 2006 gegründeten Verein »Exit« nigerianischen Zwangsprostituierten. Durch Beratung und Videos klärt sie über das menschenverachtende System auf.
Publik wurde das Thema auch durch den Film »Ware Frau: Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa«, der Politikwissenschafterinnen Mary Kreutzer und Corinna Milborn. Sieben Frauen berichten, wie sie den Menschenhandel überlebt haben. Rund 100.000 Frauen aus Nigeria arbeiten als Prostituierte außerhalb des Landes. Als Besonderheit wird wahrgenommen, dass es »Frauen sind, die über andere Frauen herrschen«. Die beteiligten Männer werden so im System unsichtbar.
»Wir alle sind Menschenhändler und Menschenhändlerin durch Auslassung«, meinte die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrer Rede zur Verleihung des Concordia-Preises an die beiden Filmproduzentinnen. »Es geht um die Rolle unserer Kultur und Wirtschaft in den komplexen Zusammenhängen der globalen Verstrickungen.«

Weblinks
Internationale Arbeitsorganisation:
www.ilo.org
AntiSlavery International:
www.antislavery.org
Globale Allianz gegen Frauenhandel:
www.gaatw.net
Digitale Bibliothek von Terre des Hommes:
www.childtrafficking.com 
UNO-Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels:
www.unodc.org/unodc/index.html 
Verein Exit
www.adesuwainitiatives.org/page/
Informationen zu Kindersklaven:
www.tdh.de
Informationen zur Sklaverei:
www.amnesty.org

Kontakt
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Von Mag. Gabriele Müller (Freie Journalistin)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2009.

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