Gesundheit in der Arbeitswelt: Vom Gerüst gefallen

Das Wesen der Statistik wird von humorvollen Zeitgenossen bisweilen so kommentiert: Mit zwei Schüssen, einer genau 50 Meter vor dem Hasen, der zweite 50 Meter hinter ihm vorbei, bedeutet im statistischen Durchschnitt: Toter Hase, genau in der Mitte getroffen.

Bei Statistiken, die Arbeitsunfälle und Krankenstände erfassen und die für die Arbeit der Experten unerläßlich sind, um Strategien gegen die Gefahren am Arbeitsplatz zu entwerfen, ist Zynismus nicht angebracht, sie täuschen aber dennoch über Wesentliches hinweg:

Erstens nützt es keinem Toten, Invaliden oder Verletzten, wenn er um einer weniger als im Vorjahr ist. Zweitens werden in den Statistiken nur die Fälle von Versicherten erfasst, die auch als Unfall bzw. als Berufskrankheit anerkannt wurden. Und drittens: Die Ursache, warum Krankenstände weniger häufiger auftreten, liegt nicht darin, dass die Österreicher bzw. in Österreich arbeitenden Menschen plötzlich gesünder werden. Sie gehen einfach auch dann zur Arbeit, wenn ihr Arzt oder Apotheker auf gefährliche Nebenwirkungen aufmerksam macht.

Kein Jubel
»Ich warne davor, in Jubelstimmung auszubrechen«, kommentierte ÖGB-Arbeitnehmerinnenschutzexpertin Renate Czeskleba (siehe Interview), das »Rekordtief« bei den Krankenständen, das laut einer Aussendung der Wirtschaftskammer Österreichs (WKÖ) im September vermeldet wurde. Dies, so die WKÖ, hinge in erster Linie mit Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung zusammen.

»Betriebliche Gesundheitsförderung ist gut, aber noch sehr ausbaubar«, meint Czeskleba, Leiterin des ÖGB-Referats für Humanisierung, Technologie und Umwelt. »Nur: die Leute gehen auch arbeiten, wenn sie krank sind.«

Krankheiten in Ruhe auskurieren können sich heute nur Leute leisten, die Geld bzw. andere Menschen für sich arbeiten lassen können. Birgit B., 46, ist seit etwa zwölf Jahren in einer Schule als Reinigungskraft tätig. Keine großartige Sache, meint sie, dafür anstrengend, aber auch ein sicherer Job mit weniger Arbeit in den Schulferien. Nur wenn sie krank ist, wie seit letztem Winter immer wieder, verliert sie das Gefühl, dass der Job »sicher« ist. Eigentlich sollte sie nichts Schweres heben, wegen der Wirbelsäule und den Bandscheiben. »Vorzeitige Abnutzung«, hat ihr Arzt gemeint. Aber mit den Injektionen geht’s wieder, auch ohne Krankenstand. Denn Angst hat sie, ihren Job zu verlieren wenn sie daheim bleibt.

Kaputtes Kreuz
Kaputte Bandscheiben und Wirbelsäulenschäden allgemein sind eine der Haupt-ursachen, dass Menschen schließlich ihre Arbeit aufgeben müssen. In Europa, so die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, klagt fast jeder dritte Beschäftigte über Rückenschmerzen.

Für krummrückige Freiberufler und andere Menschen, die vorwiegend an Computer und Schreibtisch arbeiten, gibt es zwar Broschüren und auch – von der deutschen Gewerkschaft ver.di entwickelte – Bildschirmschoner, auf denen fröhlich hüpfende Männchen Anleitung zu Ausgleichsübungen geben. Aber wer nicht nur unter Fehlhaltung, sondern auch unter Stress leidet, wird keine Ruhe finden, das Männchen zu ertragen.

Und die Angst den Job zu verlieren, gilt heute als eine der Hauptursachen für Stress. Freiberufler hält das Bestreben, Aufträge zeitgerecht abzuliefern ohne Ausgleichsgymnastik zähe an der Computertastatur. Das Thema Freiberufler bedarf der gesonderten Behandlung. Gut organisierte, mit stählerner Disziplin, werden ganz einfach nicht krank oder haben eine teure Zusatzversicherung. Andere, mit schlechterem genetischen Material, mögen auf die Frage des Arztes »Soll ich Sie krank schreiben?«, mit leichter Krise reagieren.

Stress
Dauerstress macht krank, das weiß der Laie, und das wurde auch von Experten herausgefunden. Laut dem AUVA-Fachmagazin für Prävention in der Arbeitswelt »Sichere Arbeit« sind ein Viertel der Arbeitnehmer in Österreich von arbeitsbedingtem Stress betroffen. Dafür verantwortlich sind Zeitdruck, zu wenig Handlungsspielraum oder auch Über-, bzw. Unterforderung. Die Arbeitgeber können es aber auch wirklich keinem recht machen. »Chronischer Stress kann zu körperlichen Schäden führen und erhöht die Krankenstandshäufigkeit und Dauer«, wissen die Arbeitsmediziner.

Angst
»So wenig Krankenstände wie noch nie«, meldete auch die Tageszeitung »Die Presse« am 30. September in einem Beitrag, der die Jubelmeldung der WKÖ sogar durchaus kritisch hinterfragte. »Ist es die Angst vor einem Jobverlust in konjunkturell schwierigen Zeiten? Oder werden die Österreicher tatsächlich immer gesünder?«, lautete die Frage. Denn statistische Tatsache ist, dass die Zahl der Krankenstände seit 1993 kontinuierlich rückläufig ist. War 1993 noch jeder Arbeitnehmer, für Beamte liegen keine aktuellen Zahlen vor, im Durchschnitt 15,1 Tage im Krankenstand, so werden es heuer, laut Hauptverband der Sozialversicherungsträger, nur mehr 12,5 Tage sein. Eine Verminderung anerkannter Berufskrankheiten meldet auch die Allgemeine Unfallsversicherungsanstalt (AUVA), bei der rund drei Millionen Erwerbstätige, 1,3 Millionen Schüler und Studenten und zahlreiche freiwillige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Rettungsdiensten versichert sind. So wurden 2003 um 16 Prozent (224 Fälle) weniger Berufskrankheiten anerkannt. Führend dabei sind: Lärmschwerhörigkeit, Haut- und Infektionskrankheiten sowie Asthma bronchiale.

Gespräche mit Betriebsräten machen eines deutlich: Die Menschen werden nicht gesünder, im Gegenteil. Sie gehen einfach auch dann zur Arbeit, wenn sie krank sind.

Unfälle
Bei Unfällen kann sich der Mensch nicht selbst austricksen. Wenn er müde wird, kann es sein, dass er einfach wo herunterfällt. Zwar wird auch in der Sparte »Arbeitsunfälle« im Zeitraum 1993 bis 2003 insgesamt ein Rückgang von der AUVA vermeldet. Im Vorjahr allerdings ist die Zahl der »anerkannten Schadensfälle« insgesamt um ein Prozent gestiegen. Insgesamt betroffen waren 177.626 Personen.

Davon entfielen 121.303 auf Erwerbstätige und 56.323 auf Schüler und Studenten. Besonders »anfällig« waren die Arbeiter: Hier stieg die Zahl der Schadensfälle um 5378, bei den Angestellten um 708, bei den selbständig Erwerbstätigen um 82.

Von den 121.303 Schadensfällen Erwerbstätiger waren 120.125 Arbeitsunfälle und 1178 Berufskrankheiten. »Sowohl die Zahl der Arbeitsunfälle im engeren Sinn als auch die Wegunfälle stiegen gegenüber 2002«, heißt es im AUVA-Bericht zum Vorjahr. So stiegen die Arbeitsunfälle um 5040 auf über 108.000, die Unfälle auf dem Weg von bzw. zur Arbeit um 1263 auf über 12.000.

»2003 wurden 251 tödlich verlaufene Schadensfälle Erwerbstätiger anerkannt, um 29 mehr als 2002. Davon: Arbeitsunfälle 133 (um elf weniger als im Vorjahr), Wegunfälle 73 (um elf mehr) und Berufskrankheiten 45 (um 29 mehr).«

Einen »Erfolg« gab es im Baubereich, bei dem laut AUVA die Zahl der Todesfälle am meisten, nämlich von 28 auf 21, gesenkt werden konnte.

Schadensfall Milan
Milan J. zum Beispiel ist ein »Schadensfall«, der nirgends aufscheint. Er ist ein »Rigips-Mann«, 29, und ziemlich dürr für einen, der zwei, manchmal drei, sechs Quadratmeter große Rigipsplatten auf einmal schleppt. Normaltrainierte Heimwerker schaffen gerade das Quantum für die Verkleidung des Wohnzimmers, sechzehn Stück, dann große Pause. Milan schleppt den ganzen Tag, manchmal steigt er auch aufs Gerüst: Außenverkleidung. Und eines Tages, gerade vor Feierabend, ist er dann heruntergefallen. Zum Glück nicht tief und zum Glück war nur der Knöchel verstaucht. Versicherung? »Nix Versicherung. Die Frau geht mehr putzen, bis ich wieder Platten tragen kann.« Bei einer anderen Firma, weil von seiner letzten weiß Milan nicht einmal den Namen, nur die Handy-Nummer. »Bei der ersten Subfirma geht der Arbeitnehmerschutz auf Null«, weiß auch Renate Czeskleba.

Gefahr: Lenken
Ähnlich ist es bei den Berufslenkern, die im Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen zerrieben werden. Bei »Fahrzeugen und anderen Beförderungsmitteln«, so die AUVA-Statistik, ist die Zahl der Todesfälle im Jahr 2003 von 116 auf 128 gestiegen.

»Arbeitgeber haben immer weniger die Bereitschaft, den Lenkern Zeit für notwendige Arbeiten vor Fahrtantritt einzuräumen und vor allem, diese zu bezahlen«, berichteten Referenten bei der AK-Veranstaltung »Ausgeliefert – Arbeitsbedingungen der Berufslenker im Oktober des Jahres«. Denn obwohl der Sektor Straßengütertransport in Österreich nur zwei Prozent der Beschäftigung ausmacht, finden 15 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle in dieser Branche statt.

Keine Kontrolle
Steigender Druck und Stress sind die Hauptgründe. Die Zeit für die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolltätigkeit vor Fahrtantritt – die bei Lkw mit Anhängern bis zu 100 Minuten dauern kann – wird den Lenkern vom Arbeitgeber immer häufiger verwehrt bzw. nicht bezahlt.

Christoph Herrmann, Autor einer AK-Studie mit dem Titel »Arbeitsbedingungen im Straßengütertransport«, nennt den beinharten Wettbewerb zwischen den Fuhrunternehmen als neue, zusätzliche Belastung der Arbeitsbedingungen der Lkw-Lenker. Wer sich an die gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften hält, wird vom Markt verdrängt.

Anders als in Österreich ist in Deutschland die strafrechtliche Verfolgung von Fuhrunternehmen, die »billige« ausländische Kräfte zu sklavenartigen Bedingungen verdingen, seit 1998 Praxis. Die Vorgangsweise der Straftäter ist laut Christoph Thaler vom Hauptzollamt München immer die gleiche: »Billige Leute einstellen, ohne Steuer- und Sozialversicherung, Verschleiern von Überschreitungen der Ruhezeiten …« Und vieles mehr.

Vieles gebe es noch zu tun, auch wenn die Zahl der Krankenstände zurückgegangen und auch die »tödlich verlaufenden Schadensfälle« nicht eklatant gestiegen sind.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle in Österreich um 40 Prozent zurückgegangen. »Aber jeder Arbeitsunfall ist einer zuviel«, meinte auch ÖGB-Präsident Verzetnitsch am 28. April, dem »Commemoration Day«, an dem weltweit jener Menschen gedacht wird, die bei der Arbeit tödlich verunglückt sind.

Weltweit starben 2002, nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), rund 2,250.000 Menschen aufgrund von Arbeitsunfällen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen.

Von Gabriele Müller

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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