Arbeit&Wirtschaft: In Österreich haben Stimmen aus Wirtschaft und Industrie Nulllohnrunden gefordert. Wie sieht das in anderen Ländern aus?
Reiner Hoffmann: Lohnzurückhaltung oder gar Nullrunden sind gerade in der jetzigen ökonomischen Situation die völlig falsche Antwort. Natürlich versuchen die ArbeitgeberInnen vor dem Hintergrund der Krise, ihre Lohnkosten zu reduzieren, vergessen dabei aber, dass wir gerade jetzt eine Stärkung der Binnennachfrage benötigen. Nulllohnrunden würden letztlich dazu beitragen, dass die ArbeitnehmerInnen die Zeche für die Krise bezahlen, die sie nicht zu verantworten haben.
Wir brauchen Realeinkommenssteigerungen. Natürlich sind wir uns als GewerkschafterInnen bewusst, dass auf der betrieblichen Ebene viele Kompromisse geschlossen werden, wenn es um Beschäftigungssicherung geht. Aber das muss an mindestens zwei Kriterien gebunden sein: Erstens müssen die Unternehmen ihre wirtschaftliche Situation offenlegen und die Lohnzurückhaltung kann nur befristeter Natur sein. Gleichzeitig müssen im qualitativen Bereich Zugeständnisse gemacht werden, beispielsweise bei der wirksamen Durchsetzung von Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten der ArbeitnehmerInnen oder bei Arbeitszeitmodellen, die als Überbrückung dienen, um Beschäftigung zu sichern.
Solche Lösungsansätze funktionieren immer dann, wenn wir starke betriebliche Interessenvertretungen und starke Gewerkschaften haben. Andernfalls werden die ArbeitnehmerInnen schlicht und ergreifend über den Tisch gezogen.
Eine der Ursachen dieser Krise ist, dass es in den vorigen zehn Jahren eine zunehmende Umverteilung gab. Die Einkommen aus Kapital haben erheblich zugenommen, während die Einkommen aus Arbeit stark zurückgegangen sind. Was gesamtwirtschaftlich dann den negativen Effekt hat, dass die Reichen immer reicher werden und ihr Geld spekulativ anlegen, während die ArbeitnehmerInnen weniger Kaufkraft haben, um damit zu konsumieren, um die Binnennachfrage zu stärken und um letztlich damit auch Arbeitsplätze zu sichern.
Dieses Phänomen betrifft ganz Europa, aber betrifft es alle Länder im gleichen Ausmaß?
Man kann drei Gruppen ausmachen. Positive Erfolge hatten wir in der letzten Zeit in den neuen Mitgliedsstaaten der EU, in Mittel- und Osteuropa. In diesen Ländern hatten wir deutlich höhere Wachstumsraten und damit auch deutlich höhere Produktivitätsgewinne und daher sind auch die Löhne deutlich höher gestiegen als in anderen westeuropäischen Ländern. In der Krise zeigt sich allerdings nun, dass dieser Prozess nicht einfach fortgeschrieben werden kann. Diese Länder sind leider auch damit konfrontiert, dass sie deutlich schwächere betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften haben als viele westeuropäische Länder. Zu der zweiten Gruppe gehören u. a. Spanien und Italien, die in den Vorjahren sehr gute Realeinkommenssteigerungen hatten. Das hat dazu beigetragen, dass auch dort die Lohnstückkosten gestiegen sind, was sich dann wiederum auf die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit ausgewirkt hat.
Und wir haben Länder – dazu gehört insbesondere Deutschland -, wo wir eine sehr moderate Lohnpolitik betrieben haben, nicht ganz freiwillig, sondern vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit. Die Löhne sind daher nicht in dem Maße gestiegen, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktivität entwickelt hat. Das führt gesamtwirtschaftlich zu einer Schwächung des Binnenmarktes.
Welche Tendenzen gibt es auf dem europäischen Arbeitsmarkt?
Es ist uns zwar gelungen, seit einigen Jahren in ganz Europa mehr als sechs Mio. Arbeitsplätze zu schaffen, diese Arbeitsplätze haben jedoch nichts mit guter Arbeit zu tun, sondern wir können im Gegenteil eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse beobachten. Viele Arbeitsplätze sind im Niedriglohnbereich entstanden, mit befristeten Arbeitsverhältnissen oder mit Teilzeitbeschäftigung. Das hat überall in Europa eine Spaltung im Arbeitsmarkt hervorgebracht. Damit ein-her geht Lohnungerechtigkeit und ein Auseinanderklaffen der sozialen Schere. Hier gibt es erheblichen Korrekturbedarf.
Das bedeutet, dass wir auch und gerade mit der Lohnpolitik zu einer gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung beitragen müssen. Ein zweiter Aspekt ist die Steuerpolitik. Die Einkommen der Arbeit-nehmerInnen haben darunter gelitten, dass eine ungerechte Steuerpolitik bei den Massensteuern die Einkommen überproportional stark belastet haben. Auch hier müssen wir ebenso wie bei der Lohnpolitik gegensteuern, um ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen.
Sind von der Prekarisierung und den Teilzeitjobs nicht ganz besonders die Frauen betroffen?
Die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen hat kürzlich eine Studie zur Lohnentwicklung in Europa herausgegeben. Eines der zentralen Ergebnisse ist, dass die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen in Europa nach wie vor ein ganz zentrales Problem ist. Im europäischen Durchschnitt verdienen Frauen 15 Prozent weniger als Männer, in Deutschland 25 Prozent weniger. Dies ist ein gesellschaftlicher Skandal, vor allem wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das Gebot der Lohngleichheit in den europäischen Gründungsverträgen von 1957 verankert ist!
Die Ursache ist, dass Frauen erstens viel häufiger in den sogenannten Niedriglohnsektoren arbeiten, insbesondere im Bereich personenbezogene Dienstleistungen und Einzelhandel. Zweitens sind Frauen viel häufiger von Kurzarbeit betroffen. Das alles obwohl Frauen nicht schlechter qualifiziert sind als Männer, im Gegenteil, Frauen verfügen über ein sehr hohes Qualifikationspotenzial. Das passt nicht zum europäischen Sozialmodell, hier besteht ganz dringender Handlungsbedarf.
Du hast erwähnt, dass es Firmen gibt, wo die Arbeit besser verteilt wird – wo geschieht das derzeit?
Wir haben gegenwärtig zwei Instrumente, die genutzt werden, um Entlassungen vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise zu vermeiden: Das eine ist die Kurzarbeit, die zum Teil sehr extensiv genutzt wird. In Deutschland machen mittlerweile über 1,5 Mio. ArbeitnehmerInnen davon Gebrauch. Hier gelingt es häufig, Vereinbarungen zu finden, die 80 bis 90 Prozent des Nettoeinkommens sichern, bei einer Reduzierung von bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit. Das sind Maßnahmen, die man erfolgreich betreiben muss, weil die Einkommensverluste minimiert werden und das Beschäftigungsniveau in den Betrieben erhalten bleibt.
Neben dem Instrument der Kurzarbeit werden aber auch Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen genutzt, wo für einen begrenzten Zeitraum Lohnbestandteile nicht ausbezahlt werden, z. B. bei Zahlungen des Weihnachts- oder Urlaubsgeldes. Hier wird aber vereinbart, dass diese Einkom-mensverzichte nicht fortgeschrieben werden und die Einkommensbestandteile wieder ausbezahlt werden, sobald es dem Unternehmen wirtschaftlich wieder besser geht. Diese Maßnahme kann dazu beitragen, die Einkommenssituation zu stabilisieren. Sie kann auch stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen, oder aber im Bereich qualitative Arbeitspolitik und Arbeitszeit zu vernünftigen Lösungen führen. Das gelingt allerdings nur dann, wenn wir vernünftige Tarifverträge haben, wenn wir starke Gewerkschaften haben und starke betriebliche Interessenvertretungen.
Wie verhalten sich die ArbeitgeberInnen in der Krise?
Die Tendenz in Europa ist, dass die Arbeitgeber sich zuhauf aus ihrer tariflichen Verantwortung verabschieden, indem sie aus den Arbeitgeberverbänden austreten und somit nicht mehr tarifgebunden sind.
Wir haben eine deutliche Schere bei der Einkommenssituation der ArbeitnehmerInnen, die tarifgebunden sind und jener, die es nicht sind. Hier werden z. T. Hungerlöhne gezahlt, die unter 7 Euro 50 in der Stunde liegen. Es gibt ganze Branchen, die praktisch tarifvertragsfrei sind, weil die Arbeitgeber sich ihrer Verantwortung als Tarifpartner entziehen. Da hilft auf Dauer nur, dass Druck ausgeübt wird.
Das muss auch über eine gesetzliche Regelung und Mindestlöhne erfolgen. Es kann nicht angehen, dass wir immer mehr Menschen in Europa haben, die mit ihrem Erwerbseinkommen keine vernünftige Lebensgrundlage mehr haben – eine Familie gut zu ernähren und ihr auch kulturelle Möglichkeiten und Bildung zu eröffnen, die natürlich vom Einkommen abhängig sind. Ein zunehmender Teil der ArbeitnehmerInnen fällt durch den Rost und daran müssen wir dringend was ändern.
In welchen Ländern ist der Rückzug der ArbeitgeberInnen aus den Verbänden besonders stark?
Das ist besonders deutlich in Deutschland. Wir hatten hier einen Tarifdeckungsgrad von 75 bis 77 Prozent, heute sind wir bei 65 Prozent. In GB sind die ArbeitnehmerInnen, die unter Tarifverträgen arbeiten, bereits nur noch bei 40 Prozent. Das erklärt auch, warum unter eine Labour-Regierung in den 90er-Jahren der Mindestlohn eingeführt wurde, weil es einfach kein anderes Mittel mehr gab, die Lohnabwärtsspiralen zu stoppen.
Wie tricksen die ArbeitgeberInnen in Ländern, wo es einen Mindestlohn gibt, z. B. in Frankreich?
Dort spielt der Mindestlohn eine wesentlich größere Rolle. Der Tarifdeckungsgrad ist in Frankreich noch relativ hoch, das hat damit zu tun, dass in vielen Branchen die verhandelten Vereinbarungen für allgemein verbindlich erklärt werden. Dadurch kommt ein viel größerer Anteil in den Genuss von Tariflöhnen.
Man muss darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, die Löhne für allgemein verbindlich zu erklären, wenn sich die ArbeitgeberInnen aus den AG-Verbänden zurückziehen. Für die Gewerkschaften ist das nicht ganz unproblematisch, weil wir mit unserer Tarifpolitik den Beschäftigten in Unternehmen einen Anreiz geben, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Dieser Anreiz würde dann wegfallen, wie sich am Beispiel Frankreich zeigt, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad außerordentlich niedrig – deutlich unter zehn Prozent – ist. In Österreich und in Deutschland ist der Organisationsgrad relativ hoch – wenn auch rückläufig.
In dieser Zeit des Neoliberalismus, der darin besteht, immer höhere Profite in immer kürzeren Fristen zu erzielen – also die Shareholder-Value-Mentalität, die uns wirtschaftlich und sozial überhaupt nicht weiterführt -, da seh ich durchaus Chancen, dass Gewerkschaften und progressive Kräfte in Europa dieser Geisterfahrt endlich mal ein Ende setzen werden!
Man muss sich im Klaren sein, dass die nicht erwirtschafteten Löhne und auch die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen dazu beitragen, dass wir in 15 bis 20 Jahren einen wesentlich höheren Anteil an Altersarmut haben werden, und dem muss man jetzt vorbeugen – dem kann man nicht mit Nulllohnrunden begegnen.
Wie will der EGB verhindern, dass ArbeitnehmerInnen verschiedener EU-Länder gegenein-ander ausgespielt werden?
Es gibt zwei Maßnahmen, die in der letzten Zeit mit zunehmendem Erfolg praktiziert werden: Zum einen das Instrument der Europäischen Betriebsräte, wo wir in den transnationalen Unternehmen grenzüberschreitende betriebliche Interessenstrukturen haben aufbauen können.
Gerade bei Opel kann man ganz deutlich sagen, dass durch den EBR eine Standortsicherungspolitik betrieben werden konnte, und kein Opel-Standort in Europa bislang geschlossen wurde. Das hat den Personalabbau nicht verhindern können, aber es wurden die Lasten über die verschiede-nen Standorte in Europa verteilt. Es wird sich zeigen, ob mit der neuen Eigentümerstruktur diese europäische Zusammenarbeit weiterhin funktionieren kann – die Grundlagen dafür sind jedenfalls geschaffen.
Ein zweites Instrument ist die stärkere grenzüberschreitende Koordinierung der Tarifpolitik. Das soll dazu beitragen, dass wir keine Lohnkonkurrenz gegeneinander machen. Die Tarifpolitik – mit Bezug auf die unterschiedliche wirtschaftliche Situation – soll zwei Kriterien gerecht werden: Erstens dem Ausgleich für die Preissteigerung und zweitens der Ausschöpfung der Produktivitätsgewinne.
Wir glauben, dass die Lohnkoordinierung noch viel effizienter vorangetrieben werden sollte, weil das ein Instrument ist, um diesem Absenkungswettlauf Einhalt zu gebieten. Gerade die grenz-überschreitende Zusammenarbeit zwischen Österreich, Deutschland, Ungarn, Tschechien usw. wurde deutlich intensiviert. Am Ende des Tages bleibt die Tarifpolitik natürlich in den Händen der nationalen Gewerkschaften, aber die engere Verzahnung und Koordinierung bleibt das erklärte Ziel aller im EGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften.
Wir danken für das Gespräch.
Zur Person
Reiner Hoffmann
30. Mai 1955 geboren in Wuppertal
1972 bis 1974 Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann bei der Hoechst AG
1982 Abschluss als Diplom-Ökonom an der Universität Gesamthochschule Wuppertal
1983 Assistent beim Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) der Europäischen Gemeinschaft, Brüssel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Wuppertal
1984 bis 1994 Mitarbeiter der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, in verschiedenen Positionen
1994 bis 2003 Direktor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI), Brüssel
Seit 2003 stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB)
Weblink
Europäischer Gewerkschaftsbund:
www.etuc.org
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Von Barbara Lavaud für Arbeit&Wirtschaft
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2009.
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