Gedanken im Gedenkjahr

Das Gedenkjahr 1914 überschattet die Tatsache, dass für die Bevölkerung der Balkanhalbinsel der Krieg schon zwei Jahre früher begann. Die erfolgreiche albanische Revolte von 1912 zeigte die Schwächen des Osmanischen Reiches; gegen Ende des selben Jahres begannen die jungen Nationalstaaten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland sich im Ersten Balkankrieg die Reste der türkischen Herrschaft in Südosteuropa anzueignen. Im darauf folgenden Zweiten Balkankrieg, im Sommer 1913, stritten sich die Sieger um das erbeutete Mazedonien. Während man im Frühsommer 1914 angeblich in Wien schöne Tage erleben konnte, braute sich in Bosnien und Herzegowina, welches 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden war, jenes Gewitter zusammen, das sich am Veitstag im Attentat von Sarajevo entlud und zum Auslöser des Ersten Weltkrieges wurde.

Titos „Brüderlichkeit und Einheit“

Auf eine Periode der autoritären Integration der Westbalkanländer in das Königreich Jugoslawien folgten blutige Abrechnungen während des Zweiten Weltkrieges mit Vernichtungslagern und Todesmärschen. Nach einem weiteren Versuch, die Staaten am Westbalkan in Titos zweitem Jugoslawien unter der Devise „Brüderlichkeit und Einheit“ zusammenzuführen, kam es nach dem Tode des Diktators zu einer Reihe bewaffneter Konflikte im Ungeist der „ethnischen Säuberung“, die sich über die gesamten 1990er-Jahre bis hin zum vergleichsweise harmlosen albanischen Aufstand in Mazedonien 2001 zogen. Das sogenannte „Versprechen von Thessaloniki“ vom Europäischen Gipfeltreffen im Sommer 2003 eröffnete den Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien die Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union. Es wäre das erste Mal, dass sich diesen Ländern eine friedliche Form der Integration anböte.

Eine der ärmsten Gegenden Europas

Die von der Natur mit viel karger Schönheit versehene, gebirgige Balkanhalbinsel gehört seit jeher zu den ärmsten Gegenden Europas. Die oft steinigen Böden lassen eine effizient geführte Landwirtschaft nur bedingt zu und müssen dennoch breiten Bevölkerungsschichten zur Subsistenzwirtschaft reichen. Weite Landstriche sind noch immer von moderner Transportinfrastruktur und leistungsstarken Energienetzen abgeschnitten und konnten auch deshalb kaum verarbeitende Industrie anziehen; falls überhaupt, existieren meist nur Rohstoffindustrie und Lohnarbeit. Ansätze zur breitgefächerten Industrialisierung sind bislang immer an der Abhängigkeit von ausländischem Kapital gescheitert.

Historische Daten zum Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Kaufkraftparitäten zeigen, dass im Vergleich zum materiellen Wohlstandsniveau in Deutschland, das auch für diese Region als technologie- und produktivitätsführend angenommen werden darf, letztendlich kaum ein nennenswertes wirtschaftliches Aufholen der Westbalkan-länder über sechs Jahrzehnte hinweg festzustellen war. Zu Beginn der 1950er-Jahre lagen die Westbalkanländer in einer Spanne von 15 Prozent (Kosovo) bis 30 Prozent (Mazedonien) des deutschen BIP pro Kopf.

In den 1960er- und 1970er-Jahren brachte eine Phase der zunehmend auslandsfinanzierten Industrialisierung einen Aufholprozess. Ende der 1970er-Jahre hatten Mazedonien und Serbien fast die Hälfte des deutschen Wohlstandsniveaus erreicht und auch Montenegro und Bosnien und Herzegowina immerhin ein Drittel. Die zweite Ölkrise 1979 brachte durch einen starken Anstieg der Zinssätze den Aufholprozess schließlich zum Erliegen.

Die Jugoslawienkriege in den 1990ern

Das Folgejahrzehnt bedeutete für alle Länder des Westbalkans eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs mit radikalen politischen Folgen, die in eine allgemeine Desintegration am Anfang der 1990er-Jahre mündeten. Das Wohlstandsniveau fiel im Zuge der Jugoslawienkriege auf fünf Prozent (Bosnien und Herzegowina) bis 25 Prozent (Mazedonien) von jenem Deutschlands. Ein neuerlicher, von ausländischen Direktinvestitionen und Krediten finanzierter Aufschwung in den 2000er-Jahren führte die Westbalkanstaaten zuletzt auf ein BIP pro Kopf im Bereich von einem Viertel (Kosovo) bis zu einem Drittel (Serbien) des deutschen Niveaus. Der Trend ist allerdings seit Ausbruch der jüngsten Weltwirtschaftskrise wieder negativ.

Wie für so viele Länder der europäischen Peripherie, deren Produktion zu gering ist, um mit eigenen Güterexporten die benötigten Güterimporte zu erwirtschaften, sind auch für die Westbalkanländer GastarbeiterInnen einer der wichtigsten Ausfuhrartikel. Die schon seit Jahrzehnten traditionelle Arbeitsmigration speist sich aus dem gewaltigen Heer der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Die Arbeitslosenrate liegt zurzeit bei etwa 15 Prozent (Albanien) bis 30 Prozent (Mazedonien), der Anteil der selbstständig Beschäftigten bewegt sich zwischen rund 20 Prozent (Montenegro) und 60 Prozent (Albanien). Der Anteil der Gastarbeiterüberweisungen am BIP ist enorm, zuletzt reichte er von vier Prozent in Mazedonien bis zu 16 Prozent im Kosovo.

Die Anwerbeabkommen der 1960er

Spätestens seit den Unterzeichnungen von Anwerbeabkommen zwischen Jugoslawien und Österreich (1966) sowie Jugoslawien und Deutschland (1968) erstreckt sich der Arbeitsmarkt für die Menschen der Region über ganz Mitteleuropa und darüber hinaus. Die Möglichkeit der Migration bleibt ein wichtiges Überlaufventil, welches auch erklärt, warum es bei so hohen Arbeitslosenraten zu keinerlei größeren sozialen Auseinandersetzungen kommt. Sicher sind die Menschen auch der Konflikte müde, die in der Vergangenheit einen überwiegend nationalistischen Anstrich hatten. Das Vertrauen in die eigenen Regierungen ist in der ganzen Region gering. Die Hoffnungen ruhen in vielerlei Hinsicht auf der EU, die laut Eurobarometer-Umfragen ein weitaus höheres Vertrauen in der Region genießt.

Am Weg nach Europa

Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die EU als institutioneller Anker dient: Jene Westbalkanstaaten, deren Fortschritt im Integrationsprozess am weitesten gediehen ist, haben in der Regel auch bessere Institutionen. So belegen beispielsweise Mazedonien und Montenegro beim Korruptionsindex von Transparency International im Vergleich zu den anderen Westbalkanstaaten bessere Plätze. Mazedonien war das erste Land der Region, welches 2005 den offiziellen EU-Kandidatenstatus erlangt hatte. Aufgrund des Streites mit Griechenland um den Namen Mazedonien haben die Beitrittsverhandlungen mit der EU aber bislang nicht beginnen können. Gestartet haben diese für Montenegro als erstes Westbalkanland im Jahre 2012. Noch ist das Erreichen westlicher Standards auch in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit und Mitspracherechte der BürgerInnen ein fernes Ziel. Nichtsdestoweniger sind in allen Ländern in den letzten Jahren wichtige Verbesserungen geschehen, welche ohne den Gruppenzwang des Beitrittsprozesses wohl kaum zustande gekommen wären.

Zum anderen hoffen die Menschen am Westbalkan auf Unterstützung aus den Förderfonds der europäischen Regionalpolitik. Diese sollten unter anderem helfen, die Infrastruktur zu verbessern und an die transeuropäischen Netze anzubinden, um damit eine Industrialisierung breiter Wirtschaftsbereiche wahrscheinlicher zu machen. Eine nachhaltige Entwicklung, insbesondere der verarbeitenden Industrie, ist notwendig, um die Länder sowohl von den sprunghaften Entwicklungen auf den internationalen Kapitalmärkten als auch von den beständigeren Gastarbeiterüberweisungen unabhängiger zu machen. Selbst wenn die Unterstützungen es nicht schaffen sollten, die Leistungsbilanzen der Westbalkanstaaten dauerhaft zu verbessern, können die Fördermittel auch als Kompensation für die uneingeschränkte Öffnung der lokalen Märkte für die Produkte aus dem hochindustrialisierten Kern der EU angesehen werden.

Eine faire Chance

Aus Eigeninteresse wie auch in Anbetracht der historischen Tragweite sollte, entgegen der aktuellen Erweiterungsmüdigkeit, das Versprechen von Thessalo-niki durch die EU erneuert und den Westbalkanländern eine faire Chance zur Mitgliedschaft in der EU geboten werden.

Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche:
www.wiiw.ac.at

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Von Mario Holzner, Deputy Director, Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/14.

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