Fluchterfahrung

Austrofaschismus und Nationalsozialismus sahen in unabhängigen, nur den Interessen der ArbeitnehmerInnen verpflichteten Gewerkschaften eine besondere Gefahr. Deshalb wurden viele engagierte GewerkschafterInnen zu Flüchtlingen. Unter ihnen waren „prominente“ wie der letzte gewählte AK-Präsident Karl Weigl, der aus dem Bereich der heutigen ÖGB-Gewerkschaft vida kam. Oder der Metaller Johann Schorsch, Erster Sekretär des Bundes der Freien Gewerkschaften. Aber auch unzählige andere. Nach dem Verbot der Freien Gewerkschaften im Jahr 1934 war die noch demokratische Tschechoslowakei das erste Fluchtland, mit Beginn des nationalsozialistischen Terrors 1938 suchten die Gefährdeten und Verfolgten Schutz rund um den Globus.
Für die Jugendorganisation der kaufmännischen Angestellten, der größten Vorläufergewerkschaft der GPA-djp, ist eine Liste der Exilländer erhalten geblieben, in denen ihre KollegInnen Aufnahme fanden: Argentinien, Brasilien, England, Mexiko, Israel, Schweden, USA.

Es war alles andere als einfach, ein Aufnahmeland zu finden und dort Fuß zu fassen. In England fürchtete man besonders, dass mit den Flüchtlingen verkappte Nazis eingeschleust würden, sie galten bis zum Gegenbeweis als „feindliche Ausländer“. Sie mussten individuell ihre Verlässlichkeit als Antinazi vor Tribunalen beweisen, vor denen jeder Flüchtling zu erscheinen hatte.
Die FunktionärInnen und Mitglieder, die während der austrofaschistischen Diktatur in den Untergrundgewerkschaften aktiv waren, riskierten Schauprozesse und Haft. Mit Beginn der NS-Herrschaft befanden sie sich in Lebensgefahr, Jüdinnen und Juden zusätzlich als rassisch Verfolgte.

Für jene, die entkommen konnten und auf dem europäischen Kontinent blieben, begann die Flucht mit dem Vorrücken der Deutschen Wehrmacht immer wieder aufs Neue. So erging es auch Manfred Ackermann, dem ehemaligen Vorsitzenden der Angestelltenjugend. Über Italien, die Schweiz, Frankreich, Spanien und Portugal kam er schließlich mit seiner Familie in die USA, aber erst nach einer Intervention der US-Gewerkschaften und des jüdischen Arbeiterkomitees bei Präsident Franklin D. Roosevelt. Auch bei der Überfahrt war die Angst noch ständige Begleiterin, erzählte Ackermann später:
Einmal sind wir aufgewacht, weil die Maschinen plötzlich still waren. … Wir waren stundenlang in Angst, dass wir von den Deutschen angehalten worden sind – das wäre das Ende gewesen.

Die Gewerkschafterin und Bankbeamtin Mela Ernst-Grünberg musste Österreich schon 1937 verlassen. Sie half bei der Verteidigung der spanischen Republik und musste nach dem Sieg des Franco-Faschismus neuerlich fliehen. In Frankreich fiel sie dann doch 1941 dem NS-Regime in die Hände und wurde in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. Da sie keine Jüdin war, gelang es ihr im Gegensatz zu ihrer Leidensgenossin Käthe Leichter, der ersten Frauenreferentin der AK, zu überleben. Sie spielte beim Aufbau der internationalen Widerstandsorganisation von Ravensbrück eine führende Rolle, starb aber wenige Jahre nach der Befreiung an den Folgen der KZ-Haft.

Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von Brigitte Pellar, Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/16.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion
aw@oegb.at

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.