Fische im Datenmeer

ZUR PERSON
Peter Weibel
Geboren 1944 in Odessa
Künstler, Ausstellungskurator und Kunst- und Medientheoretiker, studierte Literatur, Film, Mathematik, Medizin und Philosophie in Wien und Paris. Professuren an der Hochschule für angewandte Kunst Wien, an Unis in Buffalo, Halifax, Kassel
1989-94 Leiter des Instituts für Neue Medien, Städelschule, Frankfurt a. Main
1992-95 künstlerischer Leiter Ars Electronica, Linz. 1993-99 Österreich-Kommissär der Biennale Venedig und künstlerischer Leiter Neue Galerie Graz
Seit 1999 Vorstand Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe

Arbeit&Wirtschaft: Herr Professor Weibel, Orwells Science-Fiction-Roman vom Überwachungsstaat scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Statt denunziatorischer Nachbarn und altmodischer Spione gibt es eine ausgeklügelte Technologie, die uns kontrolliert mit dem Vorwand, uns zu schützen. Ist die überwachte Gesellschaft ein Produkt des 21. Jahrhunderts?

Peter Weibel: Sich überwacht fühlen oder nicht ist auch ein innerer Vorgang. Darüber hat sich schon der britische Philosoph Jeremy Bentham, Begründer des ethischen Utilitarismus, mit seinem Gefängnismodell »Panopticon« Gedanken gemacht: Von einem zentralen Turm aus konnten alle Insassen beobachtet werden, aber nicht in den Turm hineinsehen. Da die Gefangenen deswegen nie mit Sicherheit wussten, ob sie tatsächlich überwacht werden, wurde hier die tatsächliche Überwachung durch die Möglichkeit des Überwachtwerdens ersetzt. Bentham hoffte, dass die Gefangenen den Kontrollblick verinnerlichen und so vor Straftaten zurückschrecken würden. Seit den Untersuchungen zur »Disziplinargesellschaft« des französischen Philosophen Michel Foucault ist das Panopticon zum Synonym für das Arsenal an Überwachungskulturen und -praktiken geworden, die unser heutiges Leben bestimmen. Nur ein Beispiel: Wir vermindern die Geschwindigkeit, wenn wir einen schwarzen Kasten am Straßenrand sehen – er könnte eine Radaranlage enthalten, aber: Wir wissen es nicht.

Im ZKM Karlsruhe haben Sie eine Ausstellung zum Thema Überwachung gemacht mit dem Titel »CTRL« (SPACE).

Der Titel ist nur die Abkürzung für Control space. Leute haben sich per E-Mail über den Titel empört. Ich habe geantwortet: »Sehen Sie doch auf Ihrem Computer nach. Sie bedienen ständig diese Taste.« Solche Reaktionen zeigen, dass die Menschen in einem Environment leben, das ihnen gar nicht bewusst ist. Geradeso ergeht es uns mit der Überwachung des öffentlichen Raumes durch Satelliten und Computer. Wir leben unter unsichtbarer Kontrolle und nehmen sie nicht wahr.

Hat die Erfindung des Computers das Tor zur gläsernen Gesellschaft geöffnet?

Der erste große Schritt der neuen Technologie war die Videoüberwachung an öffentlichen Orten und in Banken. Mit dem Computer hat sich Entscheidendes geändert. Der PC – er heißt ja Personal Computer – hat nicht nur alle privaten Daten seines Besitzers gesammelt, technisch wurde auch alles unternommen, um ihn als Speichermedium zu perfektionieren. Jetzt sind die Daten selbst nach dem Absturz auf der Speicherplatte abrufbar – für den Staat wie für den Hacker.

Was steckt hinter diesem Bestreben, möglichst viele Daten zu speichern?

Ich habe darauf eine anthropologische Antwort: Der Mensch ist ein Spurenwesen. Er konnte in der Urhorde nur durch Aufnehmen und Verfolgen von Spuren überleben. Als Naturwesen muss er Spuren entdecken können, aber seine eigenen verwischen. Als Kulturmensch möchte er Spuren hinterlassen. Deshalb suchen wir auch verzweifelt bis tief in die Erde hinein nach Spuren, die von Zivilisation zeugen. Je komplexer eine Zivilisation ist, desto mehr Spuren hinterlässt sie. Die erste Speichertechnik – abgesehen von der architektonischen Hinterlassenschaft – ist die Schrift. Ursprünglich war das Hinterlassen von Spuren privilegierten Klassen vorbehalten – von den Pyramiden der Pharaonen, dem Grab des Tutenchamon bis zu den gegenwärtigen Politikern, die an Häusern, die sie erbauen ließen, entsprechende Tafeln anbringen. Durch den Computer ist diese Elite-Eigenschaft des Spuren-Hinterlassens für jeden möglich geworden. Angefangen vom Handy-SMS – »Darling ich bin im Kino« – bis zur E-Mail, ganz zu schweigen von Facebook, YouTube und Myspace.

Welche gesellschaftlichen Konsequenzen hat die Demokratisierung des Spuren-Hinterlassens?

Für das Bedürfnis, sich als Individuum zu manifestieren, laut zu schreien, »hier bin ich« und seinen Narzissmus zu inszenieren, geben Menschen sogar ihre Seele preis. Das geht weit ins Private hinein, selbst Sexualität mit jemandem, den man liebt, wird ins Netz gestellt. Früher waren mit dem Spuren-Hinterlassen noch Leistungen verbunden: Man hat Gebäude gebaut, Denkmäler gesetzt usw. Das aktuelle Spurenlegen ist eine Entwicklung gegen die Leistungsgesellschaft und für Niveauverlust. Wir leben nicht mehr in einem Park von Dinosauriern, sondern in einem Park der Trivialitäten. Alles verkehrt sich ins Gegenteil. Ursprünglich achtete der Mensch darauf, dass er Spuren verwischte, heute werden freiwillig Datenberge aufgehäuft und Suchmaschinen, automatisierte Schnüffelhunde, losgeschickt. Wir haben sowohl eine Hochtechnologie der Spurenhinterlassung wie auch der Spurensicherung entwickelt. Der Mensch bewegt sich zwischen Spurensuche und Spurensucht. Wir sind moderne Datenjäger und moderne Datennomaden.

Der Staat rüstet zunehmend seine Kontrollinstrumente auf. Nahezu lückenlos lässt sich fast jede unserer Aktivitäten dokumentieren. Entsteht da nicht der soziale Druck, angstfreies Mitglied der Datengesellschaft zu sein?

In hohem Maße. Der Druck könnte zu einer Revolte führen. Um dies zu verhindern, schafft der Staat Gegenmaßnahmen, indem er auch eine Unterhaltungsindustrie aufrüstet, vom Dschungelcamp, Big Brother bis Deutschland sucht den Superstar und allen anderen Talkshows, in der die Preisgabe von persönlichen und privaten Daten jubilatorisch genossen wird. Die Unterhaltungsindustrie bringt den Menschen bei, Überwachung nicht als Bestrafung, sondern als Aufmerksamkeit und Belobigung zu empfinden.

Auf der anderen Seite gibt es das Recht auf Datenschutz. Ist diese Entwicklung demokratieverträglich?

Das ist sehr komplex und widersprüchlich: Jeder Bürger muss Daten hergeben, um Mitglied der staatlichen Gemeinschaft zu sein. Jeder hat seine Steuer-, seine Krankenversicherungsnummer, seine E-Card, seinen Meldezettel. Andererseits hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass die persönlichen Daten geschützt werden. Und zugleich schützen die staatlich bestätigten Daten – wie etwa der Reisepass – vor Willkür – z. B. in einem anderen Land. Angesichts des Terrorismus muss der Staat sich Gedanken machen, wie das Individuum geschützt wird und seine Rechte gewahrt bleiben. In Deutschland wurde ein neues Gesetz durchgebracht, wonach der Staat bei Attentatverdacht unangemeldet in jeden PC eindringen darf, ohne Warnung, mit Hilfe einer neuen Technologie, die sog. »Trojaner«, die jede Datenspur findet. In Wahrheit hat der Rechtsstaat mit diesem Gesetzeserlass nur legitimiert, was er schon längst bei jedem G-8-Gipfel bei Tausenden Computern gemacht hat.

Was verstehen Sie unter Rechtsstaat?

Der Rechtsstaat wurde gegründet, um den Schwächeren vor Übergriffen des Stärkeren und vor Verbrechen zu schützen. Er bedeutet aber auch, selbst die auferlegten Gesetze einzuhalten. Und da ist er sehr fraglich geworden. Wenn ein Helmut Kohl den Namen der Parteispender verweigert, obwohl er von Rechts wegen dazu verpflichtete wäre, wenn ein Jörg Haider die zweisprachigen Ortstafeln nicht aufstellt, obwohl das Gesetz ist, leben wir in keinem Rechtsstaat mehr. Mir scheint, der Staat beschäftigt sich zunehmend mit Datenvertuschung. Er lässt Daten verschwinden, um wichtige Personen aus Politik und Wirtschaft zu schützen. Andererseits muss er sich mit Datendieben einlassen und Daten gegen teures Geld erwerben, weil das staatlich akzeptierte Bankgeheimnis dem Schutz illegal erworbener Gelder dient. Die politisch, nicht technisch ungelöste Frage des Datenschutzes zeigt die Krise des Rechtsstaats.

Welche Zukunft erwartet uns im Datenwald?

Praktisch ist es für niemanden mehr möglich, alle Daten zu kennen. Es wird ähnlich sein wie bei den Fischen rund um die Korallenriffe. Durch ihre verschiedenen bunten Muster, Farben und Formen signalisieren sie verschiedene Nischen und Nahrungsräume. Geradeso werden wir in Hunderten von Datenräumen leben. Für einen Ausflug in andere Datenräume brauchen wir ausgeklügelte Suchmaschinen. Diese werden, ausgehend von meinem Datenraumprofil, meine Vorlieben erkennen und mir z. B. in einer fremden Stadt sofort das Restaurant, die Buchhandlung, die Galerie, die mir entsprechen, ausfindig machen. Wir werden uns immer intensiver in Speicherräumen bewegen müssen.

Datenmeer und Speicherräume – das klingt ja sehr futuristisch.

Wir werden bereits gedrängt, Speichermaterial zu liefern: Zum Beispiel ist das Fernsehen ein Speichermedium geworden, das seine vielen Kanäle selbst nicht bespielen kann. Deshalb heißt es: du Publikum tanze, spreche, singe, oute dich. Die ganze Hochtechnologie ist ein einziger Aufruf: Bitte hinterlasse deine Spur, fülle den Speicherraum, den wir dir geben. Damit werden sich Datenkriege auftun.

Wer gegen wen?

Provider gegen Konsumenten. Die Provider, die Handyhersteller & Co, sind die neue Rüstungsarmada – sie stellen die Hardware und verlangen, dass wir kommunizieren. Wenn wir nicht ständig telefonieren, surfen, skypen usw. machen sie kein Geschäft. Die Providerindustrie auf die Autoindustrie übertragen, ist das so, wie wenn wir das Auto geschenkt bekommen, doch Benzin kostet pro Liter statt zwei Euro zwölf Euro und von uns wird für dieses Geschenk verlangt, im Monat mindestens 200 Kilometer zu fahren. Der neue Imperativ der Konsumgesellschaft lautet nicht »Konsumiert!«, sondern »Kommuniziert!«

Wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Sibylle Fritsch für Arbeit&Wirtschaft.

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