Feindliche Übernahme

Seit der Wahl in Griechenland steuert das Ringen um die Fortsetzung der Troika-Politik auf neue Höhepunkte zu: Schuldenschnitt? Doch kein Schuldenschnitt? Grexit? Doch kein Austritt aus dem Euro? Wie Wasserstandsmeldungen bei Hochwasser geistern die Spekulationen durch die Presse. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sich zum Sprachrohr derjenigen Kräfte gemacht, die einen Austritt propagieren und ihn für verkraftbar und unschädlich halten. Als ob eine Währungsunion nicht in ihren Grundfesten erschüttert und sich in einen lockeren Währungsverbund verwandeln würde.

Zersetzende Entwicklungen
Seit geraumer Zeit steht der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in Opposition zur Troika-Politik. Um diese Opposition auf sichere Grundlagen zu stellen, hat er im vergangenen Jahr einen Bericht verfasst, der auf Informationen seiner Mitgliedsgewerkschaften aus Portugal, Griechenland, Zypern und Irland beruht. Die Stoßrichtung des Berichts ist eindeutig: Die Troika-Politik ist unvereinbar mit der europäischen Grundrechtecharta, trägt zum Abbau des Sozialstaats bei, zu einem Anwachsen sozialer Ungleichheiten und zur Beendigung des europäischen Zusammenwachsens, also der europäischen Konvergenz. Aufbauend auf diesen zersetzenden Entwicklungen machen sich in vielen Mitgliedstaaten nationalistische und xenophobe Kräfte daran, ihre rückwärtsgewandten europaskeptischen Ideologien zu verbreiten. Die Europäische Kommission, aber auch das Europäische Parlament haben es bislang versäumt, über diesen Zusammenhang nachzudenken: Trägt die EU selbst dazu bei, dass die Zustimmung zum europäischen Projekt sinkt?

Gehorsam beweisen
Das Bild, das sich aus den einzelnen Mosaiksteinchen ergibt, ist verstörend: Es ist das Bild von Ländern, die einfach von der Troika „übernommen“ wurden. Ex-Kommissionspräsident Barroso sprach von einer „stillen Übernahme“, aber in Wirklichkeit ist es eine „feindliche Übernahme“, denn die gewählten Regierungen verfügen kaum über Manövrierspielraum: Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Liste der Troika-Forderungen abzuarbeiten. Sie mussten Gehorsam unter Beweis stellen, wollten sie keine weitere Abstrafung durch die Finanzmärkte riskieren. Griechenland wurde sogar gezwungen, auf ein Referendum zu verzichten.
Die Übernahme durch die Troika basiert auf einem einfachen Grundsatz: die Wirtschaft ankurbeln, um die Schuldentilgung durch massive Einschnitte in Arbeits- und Lebensstandards voranzutreiben. Um diesen Durchmarsch der Troika zu ermöglichen, muss alles aus dem Weg geräumt werden, das diesem Ziel widerspricht.

Als Erstes musste die ökonomische Vernunft über Bord gehen: Jeder vernünftige Mensch wusste, dass die Austeritätspolitik der Troika so exzessiv war, dass sie wirtschaftlich nicht unbeschadet zu überstehen war. Griechenland ist der extremste Fall: Ein Austeritätspaket nach dem anderen wurde dem Land aufgezwungen und am Ende hat diese fiskale Konsolidierung zu einem scharfen Absinken des Bruttoinlandsprodukts geführt. Die Folge war ein ökonomischer Zusammenbruch um ein Viertel verglichen mit dem Niveau vor der Ankunft der Troika. Dieser ökonomische Einbruch hatte soziale und gesellschaftliche Konsequenzen mit rapide steigender Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit. Aufgrund des geringen Wachstums steigt die Schuldenquote weiter an – rein mathematisch, weil der Nenner schrumpft.

Geschliffene Löhne und Rechte
Als Nächstes mussten die Löhne und die Rechte der ArbeitnehmerInnen geschliffen werden. Dabei ging es nicht nur um Löhne und deren Höhe, sondern generell um weitreichende Eingriffe in die Tarifautonomie und Lohnfindungssysteme. Die Autonomie der Sozialpartner musste beseitigt werden, denn diese vereinbarten zwar Kompromisse – etwa in Griechenland oder Portugal –, aber die Troika ignorierte diese Vereinbarungen.
Waren diese Eingriffe wenigstens effizient im Sinne ihrer Erfinder? Zu beobachten ist, dass trotz der Implementierung eines Austeritätspakets nach dem anderen die Zinsen und Spreads nicht sanken. Erst die Intervention der EZB im Sommer 2012 führte zu einem Rückgang. Eine Folge dieser Austeritätspolitik war eine Erosion des Vertrauens in die europäischen Institutionen.Der EGB-Bericht konzentriert sich auf vier Bereiche: die Austeritätspolitik, die Deregulierung der Arbeitsmärkte, insbesondere der Löhne, den Abbau des sozialen Schutzes und das Übergehen des sozialen Dialogs. Die fiskale Justierung hätte über einen weit längeren Zeitraum erfolgen müssen. So hat die Austeritätspolitik zu einem Zusammenbruch der Binnennachfrage geführt und eine tiefe Rezession ausgelöst. Das völlige Fehlen von wachstums- und beschäftigungsfördernden Maßnahmen hat das Ihrige dazu beigetragen. Bestehende Tarifvertragssysteme wurden unterminiert durch Förderung von Abschlüssen auf Unternehmensebene. In Griechenland wurde der in nationalen Tarifverträ-gen festgeschriebene Mindestlohn um 22 Prozent gekürzt, für Jugendliche bis 24 Jahre gar um 32 Prozent. Wie in Portugal sinkt die Anzahl der Tarifverträge rapide.

Schrumpfende Beschäftigung
In Portugal schrumpfte die Beschäftigung um 800.000 Personen bzw. 15 Prozent. In Griechenland ging die Zahl der Jobs um 18 Prozent zurück, während sich gleichzeitig das BIP um ein Viertel verminderte. In Zypern bestand das Memorandum of Understanding darauf, die Elektrizitätsversorung, Telekommunikation und Häfen zu privatisieren. Die Arbeitslosigkeit machte in Zypern einen Sprung von fünf Prozent 2009 auf 17,3 Prozent 2013, unter Jugendlichen betrug sie 37 Prozent. Diese sozialen und ökonomischen Konsequenzen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Demokratie: Nur noch eine/r von drei BürgerInnen Südeuropas ist weiterhin mit dem demokratischen System zufrieden – der Vertrauensverlust ist im freien Fall seit dem Beginn der Troika-geführten Austeritätspolitik.

Im Widerspruch zu Werten Europas
Die Schlussfolgerung ist klar: Die Programme der Troika sind nicht akzeptabel. Sie stehen einseitig für die Interessen der Finanzmärkte, Spekulanten und Geschäftswelt. Sie widersprechen fundamental den Werten und Zielvorstellungen der europäischen Verträge und des europäischen Sozialmodells. Der EGB schlägt vor, dass die Generaldirektion Beschäftigung einen detaillierten Bericht über die Eingriffe der Troika in die sozialen Errungenschaften verfasst – mit Vorschlägen zu deren Wiederherstellung. Die Sozialpartner sollten in diese Aktivität eng einbezogen werden. Ebenso sollten parallel die IAO und der Europarat entsprechende Berichte über die Verstöße gegen die Europäische Sozialcharta und die IAO-Normen schreiben. Das Europäische Parlament sollte aktiven Gebrauch von seinem privilegierten Zugang zum Europäischen Gerichtshof machen, um auf die Einhaltung der Europäischen Verträge zu drängen. Die Troika sollte Tarifverträge nicht antasten. Die demokratische Verantwortung von EZB, Kommission und IWF sollte durch Anhörungen mit dem Europäischen Parlament gestärkt werden, sowohl vor der Ausarbeitung der Programme als auch nachher.
Seitdem der EGB-Bericht erschienen ist, hat sich die Lage in der südlichen Peripherie Europas leider noch verschlimmert. Einige AutorInnen schrecken inzwischen nicht mehr davor zurück, von „europäischen Hungerspielen“ zu sprechen. In diesem Trivialepos beherrscht ein wohlhabendes Zentrum zwölf arme und verlotterte Provinzen und organisiert jährliche Wettkämpfe zwischen jugendlichen Vertretern dieser Provinzen, die gegeneinander antreten – zum Amüsement der Zuschauer aus dem Zentrum. Die – zugegeben gewagte – Analogie läge darin, dass die Troika zu einer extremen Wettbewerbspolitik drängt, während sich die Finanzmärkte als Zuschauer die Hände reiben und jegliche Empathie mit den Geknechteten und Unterdrückten unterbleibt, jedes Solidaritätsgefühl abhanden kommt. Damit es nicht so weit kommt, ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel in Europa: Abkehr von Austerität und Troika-Politik und Rückbesinnung auf ein soziales Europa mit menschlichem Antlitz. Kurz: für ein Europa mit sozialen Ambitionen und nicht nur Wettbewerbsobsessionen.

Internet:
EGB-Bericht:
tinyurl.com/qxu4az6

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Von Wolfgang Kowalsky, Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) in Brüssel

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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