Elende Verhältnisse

Julius Tandler wurde 1933 von der chinesischen Regierung als Professor nach Shanghai berufen und sollte außerdem das Medizinstudium neu organisieren. Als er von dem Verbot der Sozialdemokratie im Februar 1934 erfuhr, kehrte er nach Wien zurück, konnte aber nicht helfen – im Gegenteil: Seine Stadtratsfunktion und seine Universitätsprofessur wurden ihm aberkannt. Er ging noch einmal nach China, wo er Mütterberatungsstellen aufbaute und die Möglichkeit medizinischer Versorgung am Land untersuchte. Wieder in Wien, veröffentlichte er 1935 den Bericht über seine Erlebnisse und Erfahrungen in der Broschüre „Volk in China“, aus der der folgende Text über die Lage der Industriearbeiterschaft stammt.

1935 verließ Tandler Wien endgültig, diesmal in Richtung Moskau, wo er als Berater bei der Reform des Gesundheitswesens gefragt war. Dort starb er 1936.

Die Industrialisierung Chinas steckt in ihren allerersten Anfängen. … Die Industriearbeiterschaft, … deren gewerkschaftliche Vertretung in bescheidenen Anfängen vorhanden ist, wird im Allgemeinen schlecht bezahlt. … Einrichtungen des Arbeiterschutzes sind minimal, Kranken- und Invaliditätsversicherung gibt es nicht. In dieser sozialpolitisch höchst mangelhaften Atmosphäre leben, nahezu schutzlos gegen die Ausbeutung – vor allem durch fremdkapitalistische Unternehmer – die chinesischen Arbeiter in elenden Verhältnissen.

Der durchschnittliche Monatsverdienst eines männlichen Arbeiters in einer Spinnerei in Schanghai beträgt 15,17, eines weiblichen 13,59, eines kindlichen 8,58 Silberdollar. … so ergibt sich, wenn man den Durchschnitt der … Löhne nimmt, ein Einkommen von 14,97 Silberdollar pro Monat. Der gewöhnliche Arbeiter in den anderen Betrieben verdient durchschnittlich 12,6 Silberdollar. … Haushaltsrechnungen … ergeben für die fünfgliedrige Familie eines ungelernten Arbeiters eine Minimalausgabe von 21,34 Silberdollar pro Monat. … Dabei ist die Miete unverhältnismäßig hoch. Die Quartiere selbst sind Elendsquartiere. …

Das Komitee, in welches mich … der Herr Bürgermeister berufen hat, war mit der Aufgabe betraut, eine Serie neuer Wohnbauten in Shanghai zu errichten. … Neben dieser … Aktion gibt es noch eine zweite, auf Selbsthilfe beruhende … Eine kleine, aber äußerst nett und sauber gehaltene Siedlung. Die Inwohner sind fast ausschließlich Werftarbeiter. Sie sind … auf ihren Fortschritt aus eigener Kraft sehr stolz.

Über die Verfolgung der Kommunistinnen und Kommunisten in China findet sich in Julius Tandlers Bericht nichts, wohl wegen Rücksichtnahme auf die Zensur im Austrofaschismus. China war seit 1912 eine Republik, aber von inneren Kämpfen zerrissen, und seit 1927 regierte der Putsch-General Chiang Kai-shek. 1934 bis 1935, als sich Tandler in China aufhielt, waren 80.000 kommunistische KämpferInnen auf ihrem „Langen Marsch“ in den Norden, um der Vernichtung zu entgehen. 20.000 überlebten. Gleichzeitig bedrängte Japan China aggressiv.

Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/14.

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