Ein Gipfel macht noch keinen Frühling

Natürlich war das zentrale Thema des heurigen Frühjahrstreffens der Staats- und Regierungschefs die Terrorbekämpfung in Europa. Gerade in sicherheitspolitischen Fragen, aber auch in der Außenpolitik zeigt sich, wie weit Europa von einer politischen Union tatsächlich noch entfernt ist. Entstanden ist der Gipfel allerdings, um alljährlich die Fortschritte der so genannten Lissabon-Strategie zu bewerten. Jener Strategie, die im Jahr 2000 entwickelt wurde, um Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.

Vollbeschäftigung in der EU ein realistisches Ziel?

Im Jahr 2000 hat sich die EU zum Ziel gesetzt, bis 2010 der dynamischste Wirtschaftstraum der Welt zu werden. Konkret wurde angestrebt, bis 2010 eine Gesamtbeschäftigungsquote von 70% zu erreichen. Ein Jahr später in Stockholm gingen die Staats- und Regierungschefs so weit, bereits für 2005 eine Quote von 67% anzustreben. Wiederum ein Jahr später verpflichteten sie sich, bis 2010 die Hälfte aller 55- bis 64-Jährigen in Beschäftigung zu bringen. Um dies alles möglich zu machen, wurde ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent als notwendig erachtet. Konkret bedeuten die Lissabonner Beschäftigungsziele die Schaffung von zusätzlich ca. 20 Millionen Arbeitsplätzen bis 2010. Vier Jahre später sieht die ökonomische Situation Europas weit weniger rosig aus als noch Anfang des Jahrtausends erhofft.

Ziel und Wirklichkeit

Das Wachstum in der EU war nun schon das dritte Jahr in Folge sehr schwach (2003: 0,8%): »Over the past three years, the average annual growth rate has been in the region of 1,25% compared with 2,7% for the second half of the 90s«1) (European Commission 2004:5). Die Beschäftigung hat sich zwar von 1999 auf 2002 von 62,5% auf 64,3% erhöht, allerdings stellt selbst die Kommission in ihrem Bericht für den Frühjahrsgipfel fest, dass dies nicht genügen wird, um das für 2005 ins Auge gefasste Zwischenziel zu erreichen. Wie weit sind wir konkret vom Ziel entfernt?


»Konkret bedeuten die Lissabonner Beschäftigungsziele die Schaffung von zusätzlich ca. 20 Millionen Arbeitsplätzen bis 2010.«

Im Jahr 2000 entwickelte die EU-Kommission auf Basis bestimmter Annahmen2) ein Szenario über die Entwicklung der Beschäftigung in den einzelnen Mitgliedstaaten (vergleiche dazu European Commission Ad hoc/008/en 2000 und Europäische Kommission 2000). Dabei ist die Erreichung des EU-Ziels insbesondere von der Entwicklung in den großen Ländern Deutschland, Frankreich und Italien abhängig. Die Kommission dazu im Jahr 2000: »Der Anteil dieser drei Länder am gesamten Beschäftigungswachstum, das für die Zeit von 1999 bis 2010 für die EU-15 prognostiziert wird, beträgt fast 50%. Wenn im Extremfall in diesen Ländern keine bessere Entwicklung eintreten sollte, sondern nur die Beschäftigungsentwicklung der 1990er-Jahre wiederholt werden würde, so würde die Beschäftigungsquote in der Europäischen Union insgesamt bis 2010 nur auf etwas über 67% steigen …« (Europäische Kommission 2000:51).

Der Extremfall scheint im Jahr 2004 eingetreten zu sein: Deutschland hinkt mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinterher und auch Frankreich bzw. Italien haben zur Erreichung ihres Zieles noch einen weiten Weg zu gehen (siehe Grafik: »Ziele und Realität«).

Die Lissabon-Strategie reiht sich in eine Reihe von EU-Projekten – viele von ihnen Ergebnis so genannter Gipfeltreffen zwischen Staats- und Regierungschefs -, die jeweils mit der Hoffnung eines Wachstumsschubs verbunden waren: Das Binnenmarktprogramm Mitte der 80er-Jahre, der Luxemburg-Prozess zur Reform der Arbeitsmärkte (1997), gefolgt vom so genannten Cardiff-Prozess 1998 zur Reform der Gütermärkte und natürlich die Wirtschafts- und Währungsunion (2000).

1988 schätzte der berühmte Cecchini-Bericht (Europa ’92 – Der Vorteil des Binnenmarkts), dass sich die jährliche Wachstumsrate der EG bis 1992 um einen Prozentpunkt erhöhen würde. Verschiedene Studien und Modellsimulationen3), die seit 1992 durchgeführt wurden, versuchten in den Folgejahren die Wachstums- und Beschäftigungseffekte des Binnenmarkts ex post, also im Nachhinein, zu quantifizieren (vergleiche unter anderem Ziltener 2001, Pichelmann 2002). All diese Analysen kommen zu deutlich niedrigeren Ergebnissen als die ex ante – im Voraus – Schätzungen des Cecchini-Berichts.

Allerdings sind auch diese deutlich niedrigeren Zahlen mit einiger Vorsicht zu genießen. Nicht nur, dass von vollkommen funktionierenden Märkten ausgegangen wird, so widersprechen Beschäftigungsdaten häufig diesen Befunden (vergleiche Ziltener 2003).

Aufbauend auf der Doktrin, dass Marktliberalisierung gefolgt von einer gemeinsamen Währung Wachstum und Beschäftigung schafft, wurden in Maastricht 1992 die Voraussetzungen für den Euro beschlossen. Kombiniert mit dem Abschwung Anfang der 90er-Jahre haben sich die kollektiven Konsolidierungsbestrebungen der EU-Staaten zur Erreichung der so genannten Maastricht-Kriterien4) in Folge jedoch eher hemmend auf Wachstum und Beschäftigung ausgewirkt. Die Versuche der EU-Kommission, expansive Wirkungen von Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen zu beschwören, erscheinen bei genauerem Hinsehen wenig glaubwürdig. Trotzdem orientiert sich die europäische Wirtschaftspolitik weiterhin primär am Ziel einer niedrigen Inflationsrate (Primat der Preisstabilität in der Zielsetzung der Europäischen Zentralbank). Diese Festlegung erfährt ihre inhaltliche Konkretisierung im Stabilitäts- und Wachstumspakt und in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik.


»2003 wurden im Euro-Raum insgesamt 200.000 Stellen abgebaut – der erste Rückgang seit 1994.«

Die »Post-Maastrichtkrise«, wie Aust (2000) sie vielleicht etwas euphemistisch nennt – mit wachsenden politischen Widerständen gegen den Maastrichter Vertrag und der ökonomischen Rezession mit ansteigenden Arbeitslosenzahlen Anfang der 90er-Jahre -, hat zwar zu einer rhetorischen Wende in der Wahrnehmung der europäischen Arbeitsmarktkrise geführt. Mit dem so genannten Luxemburg-Prozess wurde 1997 der Grundstein für eine aktivere Rolle der EU in beschäftigungspolitischen Fragen gelegt. Allerdings liegen auch hier die politischen Schwerpunkte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Arbeitsmarktreformen, das heißt auf Strukturreformen. Daher fällt das Ergebnis bzw. der Erfolg der Strategie nach mehr als sechs Jahren »Beschäftigungsstrategie« auch bei diesem Prozess eher bescheiden aus (vergleiche dazu eine umfassende Analyse in Schweighofer 2003).

Onkel aus Amerika

So war die relativ gute Wachstumsperformance und das Beschäftigungswachstum der EU in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre vor allem einer guten Konjunktursituation geschuldet, die weniger von der EU selbst, sondern den USA ausging. Oder – wie es in der Tageszeitung »Der Standard« einmal formuliert wurde: »Der Aufschwung ist ein Onkel aus Amerika.«

Dieses Wachstum brach dann in der EU auch gleich nach dem Abschwung 2000 in den USA ein, während die USA sich allerdings aber wieder rascher erholten, dümpelt die europäische Wirtschaft noch vor sich hin. Im Frühling 2000 waren sich die Staats- und Regierungschefs noch sicher, dass sie ein jährliches dreiprozentiges Wachstum bis 2010 erreichen könnten. Tatsächlich schlitterte die EU in eine nun schon seit über drei Jahren währende Stagnation, aus der sie sich nicht befreien kann oder will (siehe Grafik: »BIP- und Beschäftigungswachstum«). Das Problem der EU ist, dass die Jobs, die Ende der 90er-Jahre geschaffen wurden (immerhin 13 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze), Anfang des 21. Jahrhunderts wieder verloren gehen könnten – wenn nicht gegengesteuert wird!

Andere makroökonomische Politik?

Die lange Phase der Stagnation fordert auch ihren Tribut am Arbeitsmarkt. 2003 wurden im Euro-Raum insgesamt 200.000 Stellen abgebaut – der erste Rückgang seit 1994! Die Arbeitslosenquote steigt auf 8,1% (Euro-Raum: 8,9%). Und auch Österreich ist von dieser Entwicklung nicht verschont: bei Wachstum und Beschäftigung steht Österreich im EU-Vergleich eher durchschnittlich da (siehe Walterskirchen 2004).

Welche Faktoren sind nun aber tatsächlich schuld an dieser Entwicklung? Zur Klärung dieser Frage gibt es zwei Antworten: Während KritikerInnen der Entwicklung beklagen, dass die ökonomische Ausrichtung der EU – restriktive Budget- und Geldpolitik – wachstumshemmend ist, halten Kommission und Rat bedingungslos an alten Rezepten fest: Strukturreformen auf den Arbeits- und Gütermärkten heißt in diesem Zusammenhang das Zauberwort (vergleiche Angelo 2003).

Angesichts der schwachen Investitionen und des niedrigen privaten wie öffentlichen Konsums stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht eher mangelnde Nachfrage ist, die für die anhaltende Krise verantwortlich zeichnet. Statt antizyklisch zu agieren geschieht das Gegenteil, und so trifft das, was Galbraith für die USA festhält, besonders dramatisch für die EU zu: »… Stagnation also promotes plans to cut essential services, including health, education and pensions«5) (Galbraith, 2004:10).

Chance nicht genutzt

Statt die Chance zu einer Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) zu nutzen, die die Ratsentscheidung zur Aussetzung der Sanktionen im vorigen November geboten hätte, ruft die scheidende EU-Kommission den EUGH an, um stur auf der Einhaltung der Verträge zu beharren. »Die Finanzminister fordern das Recht ein, eine Politik zu machen, die in der gesamten Welt als alternativlos im Falle einer anhaltenden Schwächephase der Wirtschaft gilt. Die Kommission aber, sicherlich mit geistiger Unterstützung der Europäischen Zentralbank, beharrt auf einer prozyklischen Politik, obwohl diese gerade in fast allen Ländern gescheitert ist« (Flassbeck 2004:2). Und dies, trotzdem es auch innerhalb der Kommission zumindest auf wissenschaftlicher Ebene durchaus Kritik (Barriere für Investitionen, prozyklischer Anreiz, kurzfristige Orientierung) und daraus resultierend Verbesserungsvorschläge für den SWP gibt (vergleiche unter anderem auch Buti 2003). Diese Vorschläge reichen bis hin zur Einführung einer so genannten goldenen Finanzierungsregel, das heißt die Ausklammerung der öffentlichen Investitionen aus der Defizitberechnung.

Deutsche Wissenschafter gehen noch einen Schritt weiter und verlangen darüber hinaus noch ausgabenseitige Fiskalregeln. Für konjunkturunabhängige Staatsausgaben soll ein nicht zu überschreitender Wachstumspfad vorgegeben werden, der mittelfristig zu einer Konsolidierung führt, das heißt unter dem trendmäßigen nominalen BIP-Wachstum liegt.

Demgegenüber sollen die konjunkturabhängigen Ausgaben je nach Konjunkturlage um diese Ausgabenpfad variieren, das heißt die automatischen Stabilisatoren können voll wirken (Hein 2003).

R E S Ü M E E
Über Optionen zur Erreichung der Lissabon-Ziele wird derzeit nicht diskutiert – und der Frühjahrsgipfel in Brüssel war eine weitere vergebene Chance, Europa aus der Wachstumskrise zu holen.
Somit ist absehbar, dass die für 2005 vorgesehene Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie noch ernüchternder ausfallen wird als der diesjährige Frühjahrsbericht der Europäischen Kommission.

1) Zu Deutsch: »Während der letzten drei Jahre lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate im Bereich von 1,25%, verglichen mit 2,7% in der zweiten Hälfte der 90er.«
2) Zu diesen Annahmen zählen z. B. ein jährliches BIP-Wachstum von 3%, ein Beschäftigungswachstum von 1,2% und bestimmte Annahmen zur demografischen Entwicklung (siehe dazu genau: Europäische Kommission 2000:50ff).
3) Auf Basis eines makroökonomischen Modells (QUEST-Modell der Kommission) werden die Effekte der Produkt- und Arbeitsmarktliberalisierung von 1992 bis 2002 geschätzt.
4) Der Vertrag von Maastricht sieht vor, dass die Budgetpolitik in der WWU einer Disziplinierung zu unterwerfen ist. Als Zielvorgabe wurden zwei fiskalische Konvergenzkriterien festgelegt, die postulieren, dass das Maastricht-Defizit nicht höher als 3% des BIP und die öffentliche Verschuldung des Gesamtstaates nicht höher als 60% des BIP sein soll.
5) Zu Deutsch: »Die Stagnation fördert Pläne zur Reduktion lebenswichtiger Versorgungsdienste wie Gesundheit, Bildung und Pensionen.«

WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

Angelo, Silvia (2003): Die Auswirkungen der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Sozialpolitiken der Nationalstaaten, in: WISO 3/2003

Aust, Andreas (2000): »Dritter Weg« oder »Eurokeynesianismus«? Zur Entwicklung der Europäischen Beschäftigungspolitik seit dem Amsterdamer Vertrag. in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29/3

Buti, Marco, Eijffinger, Sylvester und Franco, Daniele (2003): Revisiting the Stability and Growth Pact: Grand design or internal adjustment? In: European Commission (Hrsg.), European Economy Nr. 180

European Commission Ad hoc/008/en: Employment rate scenarios for 2010 – Summary, Brussels 2000

Europäische Kommission (2000): Beschäftigung in Europa 2000, Brüssel 2000

Europäische Kommission (2004): Delivering growth, Bericht der Kommission für den europäischen Frühjahrsgipfel, Brüssel 2004

Galbraith, James K. (2004): The American Economic Problem, in: Intervention – Zeitschrift für Ökonomie 1/2004, Darmstadt

Flassbeck, Heiner (2004): Europa versagt an vielen Fronten, 2. Teil einer dreiteiligen Serie, in: WuM April 2004

Hein, Eckhard (2003): Voraussetzungen und Notwendigkeiten einer europäischen Makrokoordinierung, in: Wirtschaftspolitische Koordination in der WWU, Wirtschaftswissenschaftliche Tagungen der AK Wien, Nr. 7, Wien

Pichelmann, Karl et al. (2002): Structural reforms in labour and product markets and macroeconomic performance in the EU, in: The EU-Economy, 2002 Review, Brüssel

Schweighofer, Johannes (2003): Ist die »europäische Beschäftigungsstrategie« nach fünf Jahren am Ende? Zur Bewertung des Luxemburg-Prozesses 1998-2002, Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 84, Arbeiterkammer Wien 2003

Walterskirchen, Ewald (2004): Die Position Österreichs im internationalen Strukturwettbewerb – Die neuen EU-Strukturindikatoren. Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 86, Arbeiterkammer Wien 2004

Ziltener, Patrick (2001): Wirtschaftliche Effekte der europäischen Integration – Theoriebildung und empirische Forschung in: MPlfG Working Papers 7/2001

Ziltener, Patrick (2003): Hat der EU- Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung gebracht? in: WSI Mitteilungen 4/2003

Die AutorInnen Silvia Angelo und Norbert Templ sind beschäftigt bei der Arbeiterkammer Wien und befassen sich mit europäischen Themen

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Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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