Kürzlich war ich krank – Mandelentzündung. Da dies der dritte derartige Infekt innerhalb eines halben Jahres war, schlug meine praktische Ärztin neben der symptomatischen Therapie mit Antibiotika vor, mich einmal genauer durchchecken zu lassen – Schädelröntgen, Kontrolle beim HNO, eine Laborzuweisung sowie EKG im Rahmen einer Gesundenuntersuchung. Inklusive der mir verschriebenen Medikamente verursachte dieser Behandlungsweg Kosten von rund 1000 Euro, ein 20-prozentiger Selbstbehalt entspräche somit 200 Euro – kein Klacks für eine in Teilzeit arbeitende Mutter zweier Kinder. Was hätte ich also gemacht, wenn es dafür tatsächlich Selbstbehalte gäbe? Ich hätte mit der Ärztin debattiert, ob wirklich jeder einzelne Blutwert notwendig sei, ich hätte unter Umständen die Gesundenuntersuchung hinausgeschoben. Das wären genau jene Lenkungseffekte, die im 10-Punkte-Programm der ÖVP gemeint sind, wenn sie »einheitliche Selbstbehalte mit Lenkungseffekt« fordert. Ist das sozial? Ist es gesundheitspolitisch sinnvoll, wenn Untersuchungen aufgeschoben oder gar nicht vorgenommen werden?
Befürworter
»Halt!« höre ich da sofort die Befürworter von Selbstbehalten rufen. Die eine Gruppe wird sagen, dass Gesundenuntersuchungen und so genannte prophylaktische Maßnahmen weiterhin kostenlos bleiben sollen. Ebenso wie Kontrolluntersuchungen oder Behandlungen bei chronischen Krankheiten. Ist es sinnvoll, eine Maßnahme einzuführen und dann sofort die Ausnahmen zu definieren? Was bleibt dann überhaupt noch übrig? Und welche der angeführten Maßnahmen ist Krankheitsbehandlung und welche ist Prophylaxe?
Eine andere Gruppe von Selbstbehaltsbefürwortern wird sagen, dass es soziale Staffelungen geben soll. Das würde in meinem Fall bedeuten, dass mein Einkommen und das meines Mannes bei der Sozialversicherung addiert werden, wenn ein einkommensbezogener Deckel eingeführt wird.
All das mag auf den ersten Blick sinnvoll und machbar sein, doch betragen die Selbstbehalte einen so kleinen Teil der Einnahmen der Sozialversicherung, dass bei jeder Ausnahme, ebenso wie bei der sozialen Staffelung, der Administrationsaufwand mitbedacht werden muss. Hier drohen ähnliche Probleme wie bei der Ambulanzgebühr.
Leistungsvergleich
Mit einer Kritik wollen wir uns hier aber doch noch etwas näher auseinander setzen. Gerne wird nämlich behauptet, dass Selbstbehalte deswegen notwendig seien, weil sie eben für einige Beschäftigtengruppen bestünden, während andere keine hätten. Was ist am Argument dran, dass vorgeblich ASVG-Versicherte gegenüber Beamten, Bauern und Gewerbetreibenden bei Selbstbehalten bevorzugt werden? Betrachtet man das Leistungsrecht der Krankenversicherungen, stellt man schnell fest, dass es sich durch Unübersichtlichkeit und mangelnde Vergleichbarkeit auszeichnet. Dies ist natürlich auch auf die Selbstverwaltung zurückzuführen – Leistungen und die entsprechenden Selbstbehalte werden eben nicht nur gesetzlich festgelegt, sondern dies bleibt der Satzung der einzelnen Versicherungssysteme überlassen. Daher würde die Forderung nach einheitlichen Selbstbehalten nicht nur einen massiven Einschnitt in die Selbstverwaltung bedeuten (was wahrscheinlich in der Praxis das größte Hindernis wäre), sondern die Vereinheitlichung würde auch bedeuten, dass die Leistungen der Versicherungssysteme vereinheitlicht würden. Oder verlangt die ÖVP tatsächlich, dass ASVG-Versicherte ab sofort 20 Prozent Selbstbehalt für alle Leistungen zu zahlen haben, dass aber beispielsweise die Zuzahlung zu bestimmten festsitzenden Zahnersätzen oder die kostengünstigere Beanspruchung der Sonderklasse im Spital weiterhin nur Selbständigen oder Beamten vorbehalten sein sollen? Es geht hier keineswegs um die Neidgenossenschaft. Es soll nur klar gestellt werden, dass Vereinheitlichung nur sinnvoll ist, wenn sie sowohl auf der Finanzierungs- als auch auf der Leistungsseite vorgenommen wird.
Und stimmt es denn tatsächlich, dass ASVG-Versicherte weniger zur Kasse gebeten werden als die anderen Versicherten? Das ASVG-Recht kennt zwar keinen generellen 20-prozentigen Selbstbehalt, hat dafür aber eine Vielzahl von »kleinen Selbstbehalten«. Die Daten des Hauptverbandes, der schließlich alle Versichertengruppen vertritt und daher nicht zu Voreingenommenheit neigt, sprechen hier eine andere Sprache: In absoluten Beträgen zahlen ASVG-Versicherte pro Jahr 181,5 Euro an Selbstbehalten, Beamte 194,8, Gewerbetreibende 139,2 und Bauern 136,9 Euro. Wie schon dargelegt, muss man aber auch die Leistungsseite betrachten.
Wenn man nun diese durchschnittlichen Selbstbehalte als Prozentsatz der tatsächlichen durchschnittlichen Leistung pro Versichertem berechnet, so zeigt sich, dass im Durchschnitt ein ASVG-Versicherter 10,36 Prozent Selbstbehalt zahlt, ein Bauer 9,65, ein Gewerbetreibender 8,48 und ein Beamter gar nur 8,14 Prozent.
»Das ASVG-Recht kennt zwar keinen generellen 20-prozentigen Selbstbehalt, hat dafür aber eine Vielzahl von kleinen Selbstbehalten«
Die Realität ist wesentlich komplexer
Natürlich sind solche Durchschnittsrechnungen problematisch. Vor allem helfen sie demjenigen in der Beamten- oder Gewerbeversicherung, der gerade mit tatsächlichen 20 Prozent für eine Behandlung zur Kasse gebeten wird, wenig. Dennoch illustrieren sie gut, wie einfach es ist, die politische Forderung nach einheitlichen Selbstbehalten aufzustellen, dass sich die Realität aber wesentlich komplexer darstellt. Denn gerade den »Durchschnittsversicherten« gibt es nicht. Es macht eben einen großen Unterschied, ob man eine Frau oder ein Mann und wie alt man ist und nicht zuletzt auch, welcher Einkommensschicht man angehört.
Es wird viele ASVG-Versicherte geben, die weniger Selbstbehalt zahlen als beispielsweise Beamte, dennoch gibt es ein paar, die deutlich mehr zahlen als die zuvor angeführten Durchschnittswerte. Sollen nun gerade die noch mehr zur Kasse gebeten werden? Dafür gäbe es jedenfalls keine vernünftige Begründung. Also müsste die Forderung nach einheitlichen Selbstbehalten beinhalten, dass alle bestehenden Selbstbehalte abgeschafft und durch einen einheitlichen Selbstbehalt ersetzt werden, was nur bei einer gleichzeitigen Vereinheitlichung des Leistungsrechtes möglich wäre.
Bedenken
Es verwundert also auch nicht, dass nicht nur die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer, sondern vor allem eine Anzahl von Gesundheitsökonomen Bedenken artikulieren, wenn es um die Sinnhaftigkeit von Selbstbehalten geht. Wenn Selbstbehalte tatsächlich so hoch sind, dass sie »wehtun«, dass sie also Lenkungseffekte erzielen, besteht die Gefahr, wie ja im praktischen Beispiel am Anfang beschrieben, dass Untersuchungen und Behandlungen aufgeschoben werden, sodass es im Endeffekt teurer kommt, weil Krankheiten verschleppt und verschlimmert werden. Im Allgemeinen kann man aber davon ausgehen, dass selbst diese Lenkungseffekte nur gering ausfallen. Dies war beispielsweise der Grund dafür, dass in den Niederlanden ein Selbstbehaltsmodell nach drei Jahren wieder eingestellt wurde.
Selbstbehalte können Sinn machen bei Arzneimitteln, wie dies ja auch durch die Rezeptgebühr gegeben ist, da hier am ehesten so etwas wie »Missbrauch« entstehen kann, indem es zu unsachgemäßer Verwendung, zur Hortung von Medikamenten, zum Wegwerfen und so weiter kommt. Hier ist es sicher notwendig, das Kostenbewusstsein zu stärken. Aber kann dies nur über Selbstbehalte bewirkt werden? Ein erster, kleiner Schritt könnte doch sein, den Patientinnen und Patienten den Wert der erbrachten Leistungen vor Augen zu führen, indem auf den Medikamenten der tatsächliche Preis ausgewiesen wird. Ebenso wäre es sinnvoll, bekäme man jedesmal eine »Honorarnote« vom Arzt, aus der man ersehen kann, was die einzelnen Leistungen kosten.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Diskussion um einheitliche Selbstbehalte nur dann seriös ist, wenn gleichzeitig auch eine Vereinheitlichung von Leistungen gemeint ist. Weiters müssten natürlich im Gegenzug alle bereits bestehenden Selbstbehalte abgeschafft werden. Und drittens müsste es irgendeine Form der Sozialstaffelung geben, um zu verhindern, dass Einkommensschwächere von Gesundheitsleistungen ferngehalten werden. Es ist anzunehmen, dass bei Berücksichtigung dieser drei Voraussetzungen die Politiker rasch wieder von der Idee ihrer »einheitlichen Selbstbehalte mit Lenkungseffekt« abkommen werden!
Damit ist aber die Finanzierungskrise des Gesundheitssystems nicht gelöst. Es soll ja nicht bestritten werden, dass hier etwas geschehen muss.
»Dass Gesundheit immer teurer wird, hat nicht vorrangig mit Ineffizienz zu tun, sondern ist durch die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung, steigenden Wohlstand und technischen Fortschritt bedingt«
Gesundheit wird teurer
Einerseits müssen wir mit der Tatsache leben lernen, dass Gesundheit immer teurer wird. Das hat nicht vorrangig mit Ineffizienz zu tun, sondern ist durch die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung, steigenden Wohlstand und technischen Fortschritt bedingt. Wir werden also nicht darum herumkommen, auf der Einnahmenseite etwas zu machen. Nur heißt die Antwort eben nicht Selbstbehalte, sondern Beitragserhöhungen. Im Gegensatz zur Pensionsversicherung, wo sukzessive (auch von Seiten der Politik) der Solidarzusammenhalt untergraben wird, ist dieses Solidargefühl im Bereich der Krankenversicherung noch stärker vorhanden. Beitragserhöhungen würden von der Bevölkerung durchaus akzeptiert werden, sie erfüllen das Kriterium der Sozialstaffelung und sie bedeuten noch dazu eine (erwünschte) Umverteilung von Gesunden zu Kranken.
Aber vor allem muss auf der Ausgabenseite reformiert werden. Hier gibt es verschiedene Vorschläge.
Eine erste Möglichkeit wäre, zu hinterfragen, ob wirklich alle medizinischen Leistungen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden sollen. Dies ist natürlich ein sehr heikles Thema, bedeutet es doch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie viel Gesundheit wir uns öffentlich leisten wollen. In Schweden beschäftigt sich seit zehn Jahren eine Ethikkommission mit der Erstellung eines Katalogs von medizinisch gerechtfertigten und nicht unbedingt notwendigen Behandlungen. Auch wenn man über die einzelnen Leistungen streiten kann (beispielsweise wird Psychotherapie als nicht unbedingt notwendige Behandlung angesehen, was ja auch in Österreich leider noch immer eine weit verbreitete Ansicht ist), so wird es in den kommenden Jahren dringend notwendig sein, sich mit der Rationierung von Leistungen zu beschäftigen und nicht einfach Gesundheit als »höchstes Gut« zu betiteln, was impliziert, dass alles diesem Ziel untergeordnet werden müsse.
»Kein Landeshauptmann dürfte sich freuen, wenn eines seiner Landes- oder Bezirkskrankenhäuser geschlossen werden soll«
Strukturreformen
Kurz- bis mittelfristig muss es vor allem um Strukturreformen bei den Anbietern im Gesundheitswesen gehen. Zum einen sind das die Ärzte. Hier müssen neue Formen der Honorierung überdacht werden. Solange Ärzte nach Einzelleistungen bezahlt werden, haben sie jeden Anreiz, zu viel an Leistungen anzubieten. Dem Patienten ist es ja egal bzw. fühlt er sich sogar vielleicht besonders gut aufgehoben bei einem Arzt, der viel macht. Zahlen muss das allerdings die Versichertengemeinschaft. Daher wären Pauschalhonorare viel sinnvoller. Wie wäre es zum Beispiel, wenn Ärzte nach der Zahl der bei ihnen eingeschriebenen Patientinnen und Patienten bezahlt werden, wie es beispielsweise in Großbritannien der Fall ist?
Je gesünder diese Patienten sind, umso weniger hat der Arzt zu tun. Wäre das nicht ein Anreiz, gerade die richtigen und notwendigen Leistungen zu setzen, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel? In so einem System wäre es natürlich notwendig, dass der Arzt seine Patienten nicht an irgendjemand Dritten »abschieben« kann, sei es an Spitäler oder an andere (Fach-)Ärzte. Damit wären wir auch bei der wichtigen Rolle des praktischen Arztes als »gatekeeper«, als Koordinator von Gesundheitsleistungen, um zu vermeiden, dass Leistungen doppelt und dreifach erbracht werden (beispielsweise Röntgen) oder auch, um einen möglichst raschen Übergang von einem Spitalsaufenthalt zur Betreuung zu Hause zu ermöglichen. Womit wir schon beim zweiten und noch viel kostenintensiveren Anbieter wären – den Spitälern.
Es ist bekannt, dass in Österreich eine besonders hohe Dichte an Spitalsbetten herrscht. Es gibt sozusagen eine Überversorgung mit Spitalsbetten. Nicht wundern sollten wir uns dabei über die Tatsache, dass gerade dieser Umstand von der ÖVP erstaunlich wenig thematisiert wird. Schließlich sind Spitäler Ländersache, und man will ja nicht die eigenen Leute vergrämen. Denn kein Landeshauptmann dürfte sich freuen, wenn eines »seiner« Landes- oder Bezirkskrankenhäuser geschlossen werden soll.
Reformen
Tatsache bleibt aber, dass es hier der Reformen bedarf und dass abseits der erwähnten politischen Machtspiele Reformen auch möglich wären. Dabei müssten sie nicht einmal bedeuten, dass Spitäler geschlossen werden. Das Bedürfnis nach einer gewissen Grundversorgung ist durchaus gerechtfertigt und kann in manchen Fällen sogar billiger kommen (ein Tag im AKH kostet eben um ein Vielfaches mehr als in einem der umliegenden niederösterreichischen Bezirkskrankenhäuser). Spezialfälle sollten aber nur in Schwerpunktspitälern behandelt werden. Ebenso müsste aber auch das Zusammenspiel zwischen ambulantem und stationärem Bereich verbessert werden. So gäbe es eine Anzahl von Behandlungen, gerade im Rehabilitationsbereich, die nicht mit einer Spitalsaufnahme verbunden sein müssten. Es wäre genauso gut denkbar, dass die Patienten zu Hause wohnen, unter Umständen mit einer ambulanten Betreuung, und nur zu den Behandlungen in das Spital fahren.
Damit ein derartiges System aber wirklich funktioniert, müssen die einzelnen Träger im Gesundheitswesen viel besser zusammenspielen. Es dürfen nicht die Länder versuchen, ihre Kosten auf die Sozialversicherung abzuschieben und auch umgekehrt. Und es bedürfte natürlich eines vermehrten Ausbaus der
professionellen Pflege im ambulanten Bereich. Aber darüber sind sich ja erfreulicherweise alle Politiker einig. Oder doch nicht?
RESÜMEE
Eine teure »Verbilligung«
Die Regierung handelt einen Selbstbehalt von 20 Prozent als Allheilmittel für die Krankenversicherung. Eine solche Maßnahme würde zu gewaltigen sozialen Ungerechtigkeiten führen, durch die Verschleppung notwendiger Untersuchungen und Behandlungen und die dadurch verursachten zusätzlichen Erkrankungen zu erhöhten Behandlungskosten führen und dabei – ebenso wie bereits die Ambulanzgebühr – durch den Verwaltungsaufwand mehr Geld kosten, als sie einbrächte. Einsparungen im Gesundheitsbereich sind trotzdem notwendig und auch möglich: Bei den Krankenhäusern und durch Information der Versicherten über die Kosten der von ihnen beanspruchten ärztlichen Leistungen und den Preis der verschriebenen Medikamente.
Von Agnes Streißler (Gesundheitsökonomin, Mitarbeiterin der Abteilung Wirtschaftswissenschaften in der AK Wien)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .
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