So sind wichtige Forderungen, zum Beispiel die Pflichtversicherung in der Sozialversicherung, außer Streit gestellt und unsere Vorstellungen einer »Abfertigung neu« für alle Arbeitnehmer von der Regierung übernommen worden.
Umgekehrt gibt es aber auch Anliegen der Urabstimmung, denen die Regierung bisher nicht gefolgt ist – zum Beispiel die Rücknahme der Studiengebühren oder, wo lediglich weitere Gespräche zugesichert wurden (zum Beispiel zur Aufnahme wertschöpfungsbezogener Grundlagen in der Sozialstaatsfinanzierung). In diesen Bereichen ist der ÖGB keinesfalls mit den bisher erzielten Ergebnissen zufrieden und wird weiter alle demokratischen Mittel zur Umsetzung der Forderung nützen – parlamentarische Initiativen, Aktionen, Überprüfung der für die Arbeitnehmer nachteiligen Gesetze durch die Höchstgerichte, Unterstützung von Volksbegehren und anderes mehr.
Ergebnis der bisherigen Verhandlungen waren letztlich zum Teil auch sehr unterschiedliche Auffassungen einzelner Regierungsmitglieder zu wichtigen Fragen.
So hat etwa die FPÖ Vorstöße des (auch für die Arbeitsrechtspolitik) zuständigen Wirtschaftsministers zur Arbeitszeitflexibilisierung schlichtweg abgelehnt.
Insgesamt zeigen die bisherigen Ergebnisse und der Stand der Verhandlungen mit den Regierungsmitgliedern: Die Urabstimmung hat den ÖGB gestärkt. Da und dort gehörte Stimmen in der Politik – »der ÖGB vertrete ja gar nicht die Anliegen seiner Mitglieder« – sind widerlegt. Die mehr als 800.000 Stimmen sind allerdings nicht der Schluss, sondern erst der Beginn der Bemühungen um die Umsetzung der Forderungen.
Positive Verhandlungsergebnisse
Pflichtversicherung bleibt gewährleistet
Ein erstes Ergebnis der Urabstimmung war die überwältigende Mehrheit für die Beibehaltung der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung. Damit sollen auch in Zukunft alle, unabhängig von ihrem Einkommen, auf Gesundheits- und Pensionsvorsorge vertrauen können.
Noch das FPÖ-ÖVP-Regierungsabkommen vom Februar 2000 hatte anderes vorgesehen: Nämlich im Krankenversicherungsrecht die »Prüfung« eines Umstiegs vom Prinzip der Pflichtversicherung zum Prinzip der Versicherungspflicht bei einem beliebigen Versicherungsträger.
Die Konsequenzen eines solchen Umstiegs sind klar: Die Arbeitnehmer sind nicht mehr automatisch in den Krankenkassen versichert, sondern nur verpflichtet, sich gegen das Risiko Krankheit auf dem freien Markt der Versicherungsgesellschaften zu versichern.
Das würde bedeuten, dass private Versicherungsunternehmen – wegen des geringen Krankheitsrisikos – jungen Menschen Versicherungsverträge mit vergleichsweise günstigen Prämiensätzen anbieten können. Gruppen mit höherem Risiko – zum Beispiel ältere Menschen, Frauen, Arbeitnehmerinnen mit belastenden Arbeitsbedingungen, weniger gut Verdienende – würden hingegen Gefahr laufen, höhere Beitragssätze in Kauf zu nehmen oder sich mit schlechteren medizinischen Leistungen abzufinden. Im Ergebnis: Zwei-klassenmedizin.
Offenbar aufgrund dieser Einsicht hat sich der Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen in den Verhandlungen zur Urabstimmung ausdrücklich für die Beibehaltung der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung ausgesprochen. Diskussionen um »Versicherungspflicht statt Pflichtversicherung« sind damit für die Regierung beendet.
Auch Vorschläge zur Ausnahme »Besserverdienender« aus der sozialen Krankenversicherung und damit aus dem Solidarausgleich werden nicht verfolgt. Ein erster wichtiger Erfolg der Urabstimmung.
Die »Abfertigung neu« für alle Arbeitnehmer wird von der Regierung übernommen
Ein zweiter wesentlicher Punkt der Urabstimmung war die Forderung nach Abfertigung ab dem ersten Tag, auch bei Selbstkündigung und mit freier Verfügbarkeit für die Arbeitnehmer.
Die Forderungen waren auch hier wohl begründet. Denn nach den Ausführungen im FPÖ-ÖVP-Regierungsabkommen ging der Weg noch in Richtung Abschaffung der Abfertigung. An ihre Stelle sollte eine – aus den ehemaligen Abfertigungsansprüchen der Arbeitnehmer finanzierte – »Betriebspension« treten.
ÖGB und Arbeiterkammer haben von Anfang an derartige »Reformmodelle« strikt abgelehnt. Denn Umwandlungen der Abfertigung in eine Betriebspension müssten aller Voraussicht nach als Vorwand für weitere Senkungen des Leistungsniveaus der ASVG-Pensionen herhalten. Im Ergebnis stünde dann bestenfalls so viel Pension wie heute zu, gleichzeitig wäre die Abfertigung weg.
Es ist bereits ein direkter Erfolg der ÖGB-Urabstimmung, dass unsere Positionen zum Durchbruch kamen. Die Forderungen »Abfertigung für alle Arbeitnehmer, kein Eingriff in bestehende Ansprüche, Abfertigung bei Selbstkündigung und geradliniges Anwachsen der Abfertigung«, vor allem aber auch »keine Vermengung von Abfertigung und Betriebspension« fanden Eingang in der Sozialpartnereinigung, die letztlich von der Bundesregierung übernommen wurden2).
Kollektivvertragsautonomie außer Streit
In der Urabstimmung haben die Mitglieder ein unmissverständliches Votum dafür abgegeben, dass Lohnerhöhungen und Arbeitszeiten weiterhin durch die Gewerkschaften in Kollektivverträgen geregelt werden.
No-na-Forderungen, wie manche Gegner der Urabstimmung meinten?
Mitnichten, denn das hier schon öfter zitierte Regierungsabkommen sah Gegenteiliges zu den ÖGB-Forderungen vor. Unter dem Titel »Reform der Sozialpartnerschaft« wurde kryptisch von »Verlagerung der überbetrieblichen in die betriebliche Mitbestimmung« gesprochen – insbesondere in Bezug auf Arbeitszeit, Betriebszeiten und Kollektivvertragsrecht.
Auch in diesem Bereich haben die Verhandlungen zur Urabstimmung wichtige Ergebnisse gebracht. Der zuständige Minister für Wirtschaft und Arbeit hat in den Gesprächen die Regelung der Lohnbedingungen durch das Instrument der Kollektivverträge und damit die Kollektivvertragsautonomie außer Streit gestellt. Das gilt ausdrücklich auch für die Festlegung der Ist-Löhne und die Absicherung von Urlaubsgeld und Weihnachtsremuneration (13. und 14. Gehalt).
Eine wichtige Einschränkung bei der Erfüllung der Urabstimmungsforderungen gibt es allerdings in der Arbeitszeit. Hier ist der Wirtschaftsminister von seinem Wunsch zu einer »Reform des Arbeitszeitgesetzes«, durch die individuelle Abmachungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Unternehmensebene größeres Gewicht bekommen sollen, nicht abgerückt. Was in der Formulierung oft schön klingt, heißt in der Praxis: Verschiedene Unternehmerwünsche nach Flexibilisierung der Arbeitszeit und Entfall von Überstundenzuschlägen sollen vorbei an den Gewerkschaften und Betriebsräten durchgesetzt werden können3).
Keine weitere Ausdehnung der Selbstbehalte für diese Legislaturperiode
Selbstbehalte sind eine Art Krankensteuer. Wer oft oder lange oder schwer krank ist, muss viel zahlen. Ein zusätzlicher Selbstbehalt trifft also besonders chronisch Kranke, ältere Menschen und Schwerkranke.
Eine wichtige Forderung der Mitglieder in der Urabstimmung war daher auch die Linie gegen generelle Selbstbehalte als Finanzierungs- und Steuerungsinstrument im Gesundheitswesen.
Im Regierungsabkommen für diese Legislaturperiode war hingegen noch die Festlegung eines generellen Selbstbehaltes bei Inanspruchnahme aller medizinischen Leistungen in Höhe von 20 Prozent vorgesehen. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der bisherigen Selbstbehaltlasten für Arbeitnehmer und eine zusätzliche Belastung von rund 800 Millionen Euro gewesen.
Im Besonderen auch unter dem Eindruck der heftigen Diskussion um die Einführung der Ambulanzgebühren hat nun der zuständige Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen in den Gesprächen zur Urabstimmung eine weitere Ausdehnung der Selbstbehalte für diese Legislaturperiode ausgeschlossen. Teilergebnis der Verhandlungen ist zudem, dass das Sozialministerium die Einführung der Chipkartengebühr4) nicht als politisches Ziel ansieht, sofern andere nachhaltige Finanzierungsquellen für die Krankenkassen zur Verfügung stehen. Da die Entscheidung darüber bis zum Sommer des Jahres fallen soll, sind Auseinandersetzungen um die Finanzierung der sozialen Krankenversicherung auch in den nächsten Monaten zu erwarten.
Positive Ergebnisse der Urabstimmung im AMS-Bereich – Ausbildungsgarantie für Schulabgänger
Gerade auch der Bereich des Arbeitsmarktservice hatte in den letz-ten zwei Jahren unter der Regierungspolitik zu leiden. 2000 wurden 581 Millionen Euro, 2001 821 Millionen Euro und 2002 1119 Millionen Euro Beitragsgelder der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zweckentfremdet für das Bundesbudget abgezogen. Und das trotz mittlerweile exorbitant ansteigender Arbeitslosigkeit.
Trotzdem zeigen sich auch hier, durch das von der Urabstimmung herbeigeführte politische Klima, positive Auswirkungen auf die praktische Gewerkschaftsarbeit. Eine ursprünglich für heuer geplante Kürzung der Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsmarktförderung) um weitere 43,6 Millionen Euro konnte durch die Arbeitnehmervertreter im Arbeitsmarktservice verhindert werden. Für die aktive Arbeitsmarktpolitik werden heuer ebenso 603 Millionen Euro zur Verfügung stehen wie 2001.
Die starke Thematisierung der Jugendarbeitslosigkeit in den Verhandlungen um die Urabstimmung hat ein weiteres positives Ergebnis gebracht. Vor allem die von uns immer wieder vorgebrachte Sorge um die Unterbringung von Schulabgängern hat zu einer Ausbildungsgarantie des zuständigen Wirtschaftsministers für alle Schulabgänger ohne Lehrplatz geführt.
Letztlich: Das von allen Regierungsmitgliedern abgelegte Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft zeigt in Einzelbereichen Wirkung: Während ursprünglich Ideen des Wirtschaftsministeriums zur Reform der AMS-Organisation noch die Schwächung der Stellung der Sozialpartner bedeutet hätten (unter anderem bei der Vergabe von Arbeitsmarktförderungsmitteln), hat der zuständige Minister in den Urabstimmungsverhandlungen erklärt, dass es zu keiner Stärkung der Position des Ministeriums zu Lasten der Sozialpartner kommen wird. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der AMS-Planung – auch regional – bleibt erhalten.
Sozialministerium: Positiv zur Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung, Arbeitsgruppe im Sozialministerium zur Wertschöpfungsabgabe.
Wichtige Ergebnisse brachten die Verhandlungen zu den Forderungen der Urabstimmung auch bei einem anderen Anliegen der Mitglieder: der Verankerung sozialer Grundrechte in der Verfassung. Dabei geht es darum, neben den klassischen Grund- und Freiheitsrechten auch so genannte soziale Grundrechte (Recht auf Arbeit, Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen, Recht auf soziale Sicherheit) in das rechtliche Fundament des Zusammenlebens im Staat – der Verfassung – zu übernehmen. Neben der Freiheit gehört auch die soziale Sicherheit als zentraler Wert unserer Gesellschaft endlich in den Grundrechtskatalog der österreichischen Bundesverfassung5).
Der Sozialminister hat sich in den Gesprächen zur Urabstimmung nun ausdrücklich positiv zur Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung gestellt. Das soll auch für das Sozialversicherungsprinzip einschließlich Pflichtversicherung und für die Pensionsvorsorge gelten. Seine entsprechende Einladung zu diesbezüglichen Vorbereitungen hat der ÖGB natürlich sofort aufgenommen.
Letztlich: Eine Arbeitsgruppe hat der Minister darüber hinaus in einem anderen wichtigen Thema der Urabstimmung zugesagt, nämlich »Beitragsgerechtigkeit zwischen Versicherten in der Sozialversicherung und Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung«.
Viele offen gebliebene Forderungen der Urabstimmung
Die Verhandlungen zu den Forderungen der Urabstimmung haben eine Reihe positiver Ergebnisse gebracht. Umgekehrt sind aber auch viele Fragen offen geblieben.
Das gilt zunächst einmal für den gesamten Bildungsbereich. Die zuständige Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur hat die Urabstimmungsforderung nach Abschaffung der Studiengebühren abgelehnt.
Offen geblieben sind im Sozialministerium die von uns angesprochenen wichtigen Fragen wie: Rücknahme der Ambulanzgebühren und der Besteuerung der Unfallrenten.
Offen geblieben sind auch entscheidende Fragen in Bezug auf den öffentlichen Dienst und das öffentliche Eigentum. Die Urabstimmung hatte sich ja ganz deutlich für einen Stopp des unwiderruflichen Ausverkaufs öffentlichen Eigentums (zum Beispiel Betriebe, Strom, Wasser, Wälder) ausgesprochen, um die Grundversorgung zu sichern.
So hat es in den Gesprächen im Finanzministerium lediglich ein sehr allgemeines Bekenntnis zum öffentlichen Dienst gegeben, gleichzeitig mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Verwaltungsreform. Das Dienstrecht wird hier also auch in den nächsten Monaten Teil der politischen Auseinandersetzung sein.
Auch was die Zukunft der ÖIAG-Unternehmen betrifft, blieben entscheidende Fragen der Wirtschaftspolitik unbeantwortet. Während sich der Finanzminister klar ablehnend zur ÖGB-Position nach österreichischem Kerneigentum und Stellung der ÖIAG als Beteiligungsgesellschaft geäußert hat (»Standortpolitik geht vor strategischem Eigentum«), vertrat der Wirtschaftsminister ähnliche Positionen wie der ÖGB. In den Gesprächen zur Urabstimmung hat er seine öffentliche Haltung wiederholt, wonach es bei künftigen Privatisierungen von größeren ÖIAG-Betrieben einen österreichischen Kernaktionär geben müsse, und wenn es dazu keine private Alternative gäbe, dann eben der Staat und die ÖIAG. Letztendlich offen geblieben sind auch die Fragen der »Daseinsvorsorge«. Die Kritik der ÖGB-Urabstimmung an der Bundesregierung, die sich unter anderem im Bericht der Aufgabenreformkommission niederschlägt, in dem weitere Bereiche der Daseinsvorsorge wie Wasser, Abfall und Nahverkehr zur quasi zwangsweisen Privatisierung empfohlen wird, blieb in den bisherigen Verhandlungen nicht ausreichend beantwortet.
1) 6. November 2001 – Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel und Vizekanzlerin Dr. Susanne Riess-Passer, 19. Dezember 2001 – Bundesminister für Finanzen, Mag. Karl-Heinz Grasser, 21. Dezember 2001 – Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Dr. Martin Bartenstein, 18. Jänner 2002 – Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Dr. Elisabeth Gehrer, 28. Jänner 2002 – Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen, Mag. Herbert Haupt
2) Ein entsprechender Gesetzentwurf über die »Abfertigung neu« befindet sich in Begutachtung.
3) Dr. Richard Leutner; »Es geht um die Löhne«, A&W 3/2002
4) Ersatz für die mit der Einführung der Chipkarte in der Sozialversicherung entfallende Krankenscheingebühr.
5) Christoph Klein; »Soziale Grundrechte in die Verfassung, wozu?«, A&W 3/2002
Von Richard Leutner (Leitender Sekretär des ÖGB)
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